Der lateinische Patriarch von Jerusalem schreibt an die Gläubigen seiner Diözese und versucht, die aktuellen Tragödien und Dramen der vergangenen zwei Wochen im Licht des Glaubens zu lesen. „Laßt unsere Sprache nicht voll von Tod und verschlossenen Türen sein“.
Am 24. Oktober veröffentlichte der Lateinische Patriarch von Jerusalem Pierbattista Kardinal Pizzaballa OFM, einen Hirtenbrief an die Gläubigen seiner Diözese, die fast ausnahmslos Palästinenser sind. Die Diözese umfaßt Israel, das Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jordanien und Zypern.
Der Kardinalpatriarch versucht, in einer Zeit der Dunkelheit und Verwirrung Worte zu finden, die vom Glauben und vom Evangelium erleuchtet sind.
Der Brief ist es wert, in Gänze gelesen zu werden. Er ist nicht lang und kann in verschiedenen Sprachen auf der Website des Lateinischen Patriarchats eingesehen werden. Hier eine Zusammenfassung:
- „Seit zwei Wochen“, so beginnt der Kardinal, „werden wir mit Bildern des Grauens überschwemmt, die alte Traumata wiedererwecken und neue Wunden aufreißen. Das Heilige Land erscheint der Welt wieder einmal als ein Ort ständiger Kriege und Spaltungen“.
- „Wir haben am 17. Oktober intensiv für den Frieden gebetet und wir werden dies am 27. Oktober wieder gemeinsam tun, um der Einladung von Papst Franziskus zu folgen, dem wir danken. Das ist das wichtigste, was wir Christen tun können.“
- „Das Gewissen und die moralische Pflicht“, so der Patriarch, „zwingen mich, klar und deutlich zu sagen, daß das, was am 7. Oktober im Süden Israels geschehen ist, in keiner Weise hinnehmbar ist und wir es nur verurteilen können. Es gibt keinen Grund für eine solche Greueltat. Ja, wir haben die Pflicht, dies zu bekräftigen und anzuprangern. Die Anwendung von Gewalt ist nicht mit dem Evangelium vereinbar und führt nicht zum Frieden. Das Leben eines jeden Menschen hat die gleiche Würde vor Gott, der uns alle nach seinem Bild geschaffen hat.
- Dasselbe Gewissen, das mir sehr am Herzen liegt, veranlaßt mich jedoch, heute mit gleicher Klarheit zu bekräftigen, daß der neue Gewaltzyklus im Gazastreifen mehr als fünftausend Tote, darunter viele Frauen und Kinder, Zehntausende von Verletzten, dem Erdboden gleichgemachte Stadtviertel und einen Mangel an Medikamenten, Wasser und lebensnotwendigen Gütern für mehr als zwei Millionen Menschen verursacht hat. Diese Tragödien sind unfaßbar und wir haben die Pflicht, sie anzuprangern und vorbehaltlos zu verurteilen. Die anhaltenden schweren Bombardierungen, die seit Tagen auf den Gazastreifen einhämmern, werden nur Tod und Zerstörung verursachen, Haß und Ressentiments verstärken und keine Probleme lösen, sondern eher neue schaffen. Es ist an der Zeit, diesen Krieg, diese sinnlose Gewalt zu beenden“.
- „Nur wenn die jahrzehntelange Besatzung und ihre tragischen Folgen beendet werden und dem palästinensischen Volk eine klare und sichere nationale Perspektive gegeben wird, kann ein ernsthafter Friedensprozeß beginnen. (…) Die Tragödie dieser Tage muß uns alle – Ordensleute, Politiker, die Zivilgesellschaft, die internationale Gemeinschaft – zu einem ernsthafteren Einsatz in dieser Hinsicht veranlassen, als wir es bisher getan haben“.
- Als Christen können wir nicht anders, als den Blick nach oben, zu Christus, zu richten, damit der Glaube unseren Blick auf das, was wir erleben, erhellt. Der Kardinal verweist auf einen Vers aus dem Johannesevangelium (16,33): „Das habe ich euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Trübsal, aber habt Mut: Ich habe die Welt überwunden!“ „Es heißt nicht, daß (Jesus) siegen wird, sondern daß er bereits gesiegt hat. (…) Inmitten all des Bösen hat Jesus gesiegt. Trotz des Bösen, das in der Welt wütet, hat Jesus den Sieg errungen, er hat eine neue Wirklichkeit, eine neue Ordnung geschaffen, die nach der Auferstehung von den im Geist wiedergeborenen Jüngern übernommen werden wird. Jesus hat am Kreuz gesiegt. Nicht mit Waffen, nicht mit politischer Macht, nicht mit großen Mitteln, auch nicht durch Selbstauferlegung. Der Friede, von dem er spricht, hat nichts mit dem Sieg über den anderen zu tun. Er hat die Welt gewonnen, indem er sie geliebt hat. Es ist wahr, daß am Kreuz eine neue Wirklichkeit und eine neue Ordnung beginnt, nämlich die desjenigen, der sein Leben aus Liebe hingibt. (…) Ein solcher Friede, eine solche Liebe, erfordert großen Mut“.
- „Den Mut der Liebe und des Friedens zu haben“, so der Patriarch, „bedeutet, nicht zuzulassen, daß Haß, Rache, Wut und Schmerz den ganzen Raum unseres Herzens, unserer Sprache und unseres Denkens einnehmen. Es bedeutet, sich persönlich für die Gerechtigkeit einzusetzen, die schmerzliche Wahrheit der Ungerechtigkeit und des Bösen, das uns umgibt, zu bejahen und anzuprangern, ohne zuzulassen, daß es unsere Beziehungen belastet. Es bedeutet, sich zu engagieren und davon überzeugt zu sein, daß es sich immer noch lohnt, alles in unserer Macht Stehende für Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Versöhnung zu tun. Unsere Worte dürfen nicht voll von Tod und verschlossenen Türen sein. Im Gegenteil, unsere Worte müssen kreativ sein, Leben spenden, Perspektiven schaffen, Horizonte öffnen“.
- „Ich bete für uns alle und insbesondere für die kleine [christliche] Gemeinschaft in Gaza, die am meisten leidet. (…) Wir sind alle bei ihnen, im Gebet und in konkreter Solidarität, und danken ihnen für ihr wunderbares Zeugnis“.
- Am 29. Oktober begeht das Lateinische Patriarchat das Hochfest der Jungfrau Maria, Königin von Palästina, der Patronin der Diözese. An diesem Jahrestag werden sich die Gläubigen und der Klerus zum Marienheiligtum von Deir Rafat, etwa dreißig Kilometer westlich von Jerusalem, begeben. „Dieses Heiligtum“, betonte der Kardinal, „wurde in einer anderen Kriegszeit errichtet“ (in den 1920er Jahren, einer Zeit wachsender Spannungen zwischen Arabern und Juden – Anm. d. Red.). Wie jedes Jahr wird es eine feierliche Messe unter dem Vorsitz des Kardinalpatriarchen und die übliche volkstümliche Prozession mit dem Bildnis der Jungfrau Maria geben. „Wir werden dieses Jahr nicht alle zusammenkommen können, weil die Situation es nicht zuläßt“, schreibt Patriarch Pizzaballa, „aber ich bin sicher, daß die ganze Diözese an diesem Tag vereint sein wird, um gemeinsam und solidarisch für den Frieden zu beten, nicht für den Frieden der Welt, sondern für den Frieden, den Christus uns gibt. „In diesen Tagen werden wir unsere Kirche und unser Land erneut der Königin von Palästina weihen! Ich bitte alle Kirchen der Welt, sich dem Heiligen Vater und uns im Gebet und in der Suche nach Gerechtigkeit und Frieden anzuschließen“.
Heute, am 25. Oktober, hat das Lateinische Patriarchat von Jerusalem auch eine kurze Videobotschaft (auf arabisch und englisch) veröffentlicht, die Kardinal Pizzaballa an die Christen in Gaza gerichtet hat, um sie zu ermutigen, ihnen zu danken und sie zu segnen.
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Terrasanta.net (Screenshot)