Christliche Präsenz in Jerusalem schwindet

Appell von Palästinenserpräsident Abbas an Papst Franziskus


Die christliche Präsenz in Jerusalem schwindet dahin, aufgerieben im Nahost-Konflikt zwischen Juden und Muslimen.
Die christliche Präsenz in Jerusalem schwindet dahin, aufgerieben im Nahost-Konflikt zwischen Juden und Muslimen.

(Jeru­sa­lem) Palä­sti­nen­ser­prä­si­dent Mah­mud Abbas ersucht Papst Fran­zis­kus in einem Schrei­ben, „drin­gend zu inter­ve­nie­ren“, um „die histo­ri­sche Prä­senz der Chri­sten in Jeru­sa­lem zu ret­ten“. Die­se sieht Abbas bedroht, wie die offi­zi­el­le palä­sti­nen­si­sche Pres­se­agen­tur Wafa mel­de­te.

Anzei­ge

Das Schrei­ben wur­de gestern vom palä­sti­nen­si­schen Bot­schaf­ter beim Hei­li­gen Stuhl, Isa Kasi­s­ieh, über­bracht. Dar­in bringt Abbas sei­ne „tie­fe Sor­ge über die Eska­la­ti­on der israe­li­schen Gewalt gegen das palä­sti­nen­si­sche Volk“ und gegen „die christ­li­che Prä­senz in Palä­sti­na“ zum Aus­druck. Die christ­li­che Prä­senz sei vor allem in Jeru­sa­lem bedroht, der Stadt, die Juden, Chri­sten und Mus­li­men hei­lig ist.

Der Palä­sti­nen­ser­prä­si­dent erwähnt in sei­nem Schrei­ben die jüdi­sche Orga­ni­sa­ti­on Ater­et Coh­anim, die bekannt dafür ist, direkt oder über Umwe­ge Immo­bi­li­en­be­sitz in der Jeru­sa­le­mer Alt­stadt und ihrer Umge­bung für jüdi­sche Sied­ler zu erwer­ben. Die jüdi­sche Sied­lungs­po­li­tik in den besetz­ten Palä­sti­nen­ser­ge­bie­ten ist seit Jah­ren Gegen­stand inter­na­tio­na­ler Kritik. 

Hin­ter­grund der Erwäh­nung ist der Erwerb von drei Gebäu­den am Jaf­fa-Tor durch Ater­et Coh­anim, die der grie­chisch-ortho­do­xen Kir­che gehör­ten. Die Gebäu­de lie­gen am Weg zur Gra­bes­kir­che. Die grie­chisch-ortho­do­xe Kir­che bezeich­net die Aneig­nung als wider­recht­lich und zog dage­gen vor Gericht. Der Ober­ste Gerichts­hof Isra­els gab aber der jüdi­schen Sied­ler­or­ga­ni­sa­ti­on Recht.

Der Groß­teil des heu­ti­gen Jeru­sa­lem, der moder­ne Teil, inter­es­siert die Chri­sten weni­ger. Ihr Inter­es­se kon­zen­triert sich auf die Alt­stadt mit den Hei­li­gen Stätten.

Die Jerusalemer Altstadt

Die Jeru­sa­le­mer Alt­stadt ist histo­risch vier­ge­teilt: in zwei christ­li­che Tei­le sowie einen jüdi­schen und einen mus­li­mi­schen Teil. Sie liegt im Osten der heu­ti­gen Stadt, die im Tei­lungs­plan der UNO von 1947 weder einem jüdi­schen noch einem palä­sti­nen­si­schen Staat zuge­hö­ren, son­dern von der UNO durch einen Treu­hän­der­rat ver­wal­tet wer­den soll­te. Nach der Aus­ru­fung des Staa­tes Isra­el und den damit zusam­men­hän­gen­den Kämp­fen wur­de West-Jeru­sa­lem von Isra­el und die Jeru­sa­le­mer Alt­stadt von Jor­da­ni­en besetzt. Als Isra­el 1950 Jeru­sa­lem, de fac­to West-Jeru­sa­lem zur Haupt­stadt erklär­te, annek­tier­te Jor­da­ni­en Ost-Jeru­sa­lem. Die Idee einer Inter­na­tio­na­li­sie­rung Jeru­sa­lems, an der der Hei­li­ge Stuhl bis heu­te fest­hält, wur­de auf­grund der voll­ende­ten Tat­sa­chen von der inter­na­tio­na­len Staa­ten­ge­mein­schaft immer mehr aufgegeben. 

Die Juden wur­den nach 1948 unter jor­da­ni­scher Herr­schaft aus dem Jüdi­schen Vier­tel der Alt­stadt weit­ge­hend vertrieben.

1967 erober­te Isra­el im Sechs­ta­ge­krieg auch Ost-Jeru­sa­lem. 1980 erklär­te Isra­el Gesamt-Jeru­sa­lem zur „untrenn­ba­ren“ Haupt­stadt Isra­els, was von der UNO für nich­tig erklärt wur­de. 1988 ver­zich­te­te Jor­da­ni­en auf sei­ne Ansprü­che auf Ost-Jeru­sa­lem, das mit der Aus­ru­fung des Staa­tes Palä­sti­na zu des­sen Haupt­stadt erklärt wurde.

2017 erkann­te Ruß­land als erstes Land West-Jeru­sa­lem als Haupt­stadt Isra­els an. Der Ost­teil mit der Alt­stadt ist davon aus­ge­nom­men. Die USA haben Jeru­sa­lem de fac­to als Haupt­stadt Isra­els aner­kannt, ohne auf die Fra­ge der bei­den Tei­le, Ost und West, einzugehen. 

2016 leb­ten in ganz Jeru­sa­lem fast 900.000 Men­schen: 61 Pro­zent Juden (fast zwei Drit­tel davon ultra­or­tho­dox), 36 Pro­zent Mus­li­me, aber nur mehr 1,8 Pro­zent oder 15.800 Christen. 

1967 leb­ten 23.000 Men­schen in der Alt­stadt, von denen 73,9 Pro­zent Mus­li­me und 26,1 Pro­zent Chri­sten waren. 2007 war die Ein­woh­ner­schaft zwar auf 38.465 ange­wach­sen (die Jeschi­wa-Stu­den­ten mit­ge­rech­net), der Anteil der Chri­sten aber auf 16,8 Pro­zent gesun­ken (Mus­li­me 71,5 Pro­zent, Juden 11,7 Prozent).

Ein historischer Abriß

Histo­risch gab es in den ver­gan­ge­nen 2.000 Jah­ren zahl­rei­che und tief­grei­fen­de Ver­än­de­run­gen in der Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung. Von die­sen zwei Jahr­tau­sen­den hat­te die Stadt rund 800 Jah­re eine christ­li­che, 700 Jah­re eine mus­li­mi­sche und etwa 170 Jah­re eine jüdi­sche Mehr­heit. Ein unvoll­stän­di­ger Abriß soll einen Ein­druck von die­sen Ver­än­de­run­gen vermitteln:

Für das Jahr 70 nach Chri­stus, als der Jeru­sa­le­mer Tem­pel wegen eines jüdi­schen Auf­stan­des von den Römern zer­stört wur­de, berich­tet der jüdi­sche Histo­ri­ker Fla­vi­us Jose­phus, daß rund 60 Pro­zent der Bewoh­ner Jeru­sa­lems Pha­ri­sä­er und 40 Pro­zent Esse­ner waren. Sad­du­zä­er habe es nur „weni­ge“ gege­ben. Zum bes­se­ren Ver­ständ­nis: Aus den Pha­ri­sä­ern ging das heu­ti­ge Juden­tum her­vor, wäh­rend die mei­sten „Esse­ner“ wohl damals schon Juden­chri­sten waren oder wurden. 

Im Jahr 136 wur­den als Fol­ge des jüdi­schen Bar-Koch­ba-Auf­stan­des gegen die Römer die Juden von Kai­ser Hadri­an aus Jeru­sa­lem ver­bannt. Die Ver­trei­bung traf auch die Chri­sten, die zwar am Auf­stand nicht betei­ligt waren, aber – da zumeist Juden­chri­sten – von den Römern, die kur­zen Pro­zeß mach­ten, noch nicht als geson­der­te Reli­gi­ons­ge­mein­schaft wahr­ge­nom­men wur­den. Das Ver­bot, sich in der Stadt nie­der­zu­las­sen, wur­de für Chri­sten zwei Jah­re spä­ter wie­der gelockert. 

Im 4. Jahr­hun­dert wird Jeru­sa­lem end­gül­tig zur christ­li­chen Stadt. Den Juden wird erlaubt, ein­mal im Jahr die Stadt zu betre­ten, um an der Kla­ge­mau­er beten zu kön­nen, de fac­to wur­de es ihnen auch wie­der mög­lich, sich in der Stadt niederzulassen. 

614 erober­ten per­si­sche Trup­pen und jüdi­sche Auf­stän­di­sche Jeru­sa­lem, zer­stö­ren alle christ­li­chen Kir­chen und ver­üb­ten ein Mas­sa­ker unter den Chri­sten. Die Mili­tär­al­li­anz von Sas­sa­ni­den und Juden schwäch­te im Nahen Osten das christ­li­che Byzan­ti­ni­sche Reich und ebne­te der ara­bi­schen Erobe­rung Jeru­sa­lems und der Aus­brei­tung des Islams den Boden.

Die Bevöl­ke­rung Jeru­sa­lems blieb auch unter isla­mi­scher Herr­schaft mehr­heit­lich christ­lich, wur­de aber dis­kri­mi­niert. Im 11. Jahr­hun­dert zer­stör­ten die mus­li­mi­schen Herr­scher die Gra­bes­kir­che, was die Kreuz­zü­ge aus­lö­ste, und ver­trie­ben die Chri­sten aus Jerusalem.

1099 konn­ten die Kreuz­rit­ter Jeru­sa­lem befrei­en und rich­te­ten, gemäß dem damals gel­ten­den Kriegs­ko­dex, unter den Mus­li­men und Juden der Stadt ein Mas­sa­ker an, weil die­se sich gewei­gert hat­ten, die Stadt zu über­ge­ben, die daher unter gro­ßen Opfern erstürmt wer­den mußte. 

Jeru­sa­lem wur­de die Haupt­stadt des gleich­na­mi­gen, latei­ni­schen König­reichs, das die Kreuz­rit­ter errich­te­ten und von 1099–1291 Bestand hat­te. Die Bewoh­ner waren fast zur Gän­ze ortho­do­xe und latei­ni­sche Chri­sten. Letz­te­re ver­lie­ßen mit der isla­mi­schen Erobe­rung Jeru­sa­lems 1187 die Stadt, die Hälf­te von ihnen wur­de von Sala­din ver­sklavt. Ab dem 13. Jahr­hun­dert bestand die Ein­woh­ner­schaft Jeru­sa­lems neben Juden mehr­heit­lich aus Muslimen.

Am Beginn der tür­ki­schen Herr­schaft über Jeru­sa­lem ver­zeich­ne­te das osma­ni­sche Steu­er­re­gi­ster für 1525/​1526 in der Stadt 66 Pro­zent Mus­li­me, 21 Pro­zent Juden und 13 Pro­zent Christen.

Für die erste Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts lie­gen die Auf­zeich­nun­gen ver­schie­de­ner euro­päi­scher Rei­sen­der, For­scher und Kle­ri­ker vor. Bei ihren Anga­ben han­delt es sich zwar nur um Schät­zun­gen auf­grund von Beob­ach­tun­gen und ört­li­chen Infor­ma­tio­nen, die aller­dings ziem­lich nahe bei­ein­an­der lie­gen. Den Anteil der Chri­sten gab die Mehr­zahl mit 16–20 Pro­zent an, den jüdi­schen Bevöl­ke­rungs­an­teil mit 20–30 Prozent. 

Mit der ab 1850 ein­set­zen­den jüdi­schen Ein­wan­de­rung nach Palä­sti­na und der damit ver­bun­de­nen Auf­merk­sam­keit und unter­schied­li­chen Inter­es­sen ver­schie­de­ner Krei­se, wei­sen die Schät­zun­gen grö­ße­re Unter­schie­de auf, die ihre Stich­hal­tig­keit in Zwei­fel zie­hen. Laut dem offi­zi­el­len osma­ni­schen Zen­sus von 1905, der nur osma­ni­sche Staats­bür­ger erfaß­te, brach­ten die Ein­wan­de­rungs­wel­len star­ke Ver­än­de­run­gen mit sich. Ein­ge­wan­dert sind damals vor allem Juden aus dem rus­si­schen Zaren­reich und aus der ara­bi­schen Welt auf­grund von Ver­fol­gung, aber auch von mes­sia­ni­schen Bewe­gun­gen. Ein­ge­wan­dert sind auch christ­li­che Arme­ni­er, die in ihren aus­ge­dehn­ten, histo­ri­schen Sied­lungs­ge­bie­ten, soweit zum Osma­ni­schen Reich gehö­rend, von den Tür­ken ver­folgt wur­den. Der Anteil der Mus­li­me belief sich nur mehr auf 34 Pro­zent, wäh­rend der Anteil der Juden auf 41 Pro­zent und der Chri­sten auf 25 Pro­zent ange­stie­gen war. 

Die­se Ent­wick­lung wur­de wäh­rend der Völ­ker­bund-Man­dats­zeit durch die bri­ti­schen Zäh­lun­gen von 1922 und 1931 bestä­tigt. Die Bri­ten erfaß­ten die gesam­te anwe­sen­de Bevöl­ke­rung, die vor allem durch die Ansied­lungs­idee des Zio­nis­mus star­ke Ver­än­de­run­gen erleb­te. 1922 waren dem­nach 23,4 Pro­zent der Bewoh­ner Jeru­sa­lems Chri­sten, 54,3 Pro­zent Juden und 22,3 Pro­zent Mus­li­me. Für 1931 erfaß­ten die Bri­ten 21,4 Pro­zent Chri­sten, 56,9 Pro­zent Juden und 21,7 Muslime.

Die stillen Opfer des Nahost-Konfliktes

Für 2006 wur­de für Ost-Jeru­sa­lem, also nicht nur die Alt­stadt, son­dern auch die bevöl­ke­rungs­rei­chen neue­ren Vier­tel und das Umland, ange­ge­ben, daß 53,4 Pro­zent Mus­li­me, 43,3 Pro­zent Juden und 3,3 Pro­zent Chri­sten sind. Trotz der mas­si­ven, lega­len und ille­ga­len Sied­lungs­po­li­tik konn­ten die Juden wegen der höhe­ren Gebur­ten­ra­te der Mus­li­me zah­len­mä­ßig seit­her kei­nen Boden gewinnen. 

Die Anga­ben ver­deut­li­chen vor allem, daß die Chri­sten das eigent­li­che Opfer des Nah­ost­kon­flik­tes sind. Ihr Anteil im Hei­li­gen Land beläuft sich nur mehr auf ein Zehn­tel im Ver­gleich zu ihrer Stär­ke noch vor 100 Jah­ren. In ganz Jeru­sa­lem sind heu­te nur mehr 1,8 Pro­zent Christen.

Text: Andre­as Becker
Bild: Wiki­com­mons

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3 Kommentare

  1. Das wird Fran­zis­kus mit einem Lächeln kon­tern: „Wir beten alle zum sel­ben Gott“ Juden Chri­sten und Muslime.
    Ist doch egal.
    Alles gleich!

  2. Die Kir­chen ins­ge­samt soll­ten sich viel mehr für die Chri­sten im Hl. Land ein­set­zen. Gut, dass die Fran­zis­ka­ner den Chri­sten dort hel­fen, auch der Deut­sche Ver­ein vom Hl. Land setzt sich dort für die Men­schen ein. Die christ­li­che Prä­senz schwin­det nicht nur in Jeru­sa­lem; auch in Trier und Köln und Mün­chen und lan­des­weit ist es so: aus Gleich­gül­tig­keit, wäh­rend die Chri­sten in Nahem Osten und anders­wo um ihres Glau­bens wil­len Nach­tei­le erlei­den müssen.

    • Der Auf­ruf von Herrn Abbas ist natür­lich rein poli­tisch moti­viert und damit der Ver­such einer Ver­ein­nah­mung des Chri­sten­tums für die „palä­sti­nen­si­sche“ Sache.
      Man darf nicht über­se­hen, dass vie­le Chri­sten auf­grund isla­mi­sti­scher Ten­den­zen auch die benach­bar­ten ara­bi­schen Staa­ten verlassen.
      Umge­kehrt gibt es in Isra­el eine über­ra­schen­de Wie­der­ge­burt „juden­christ­li­cher“ Gemein­den. Die katho­li­sche Kir­che küm­mert sich der­zeit noch viel zu wenig um die­se sog. „mes­sia­ni­schen Juden“.

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