Als Bergoglio sagte: „Ich werde Papst werden“

Interview mit Caminante Wanderer


Ist Papst Franziskus ein Machtmensch, der seinen Glauben verloren hat?
Ist Papst Franziskus ein Machtmensch, der seinen Glauben verloren hat?

Im Herbst 2022 ver­öf­fent­lich­te Aldo Maria Val­li, der ehe­ma­li­ge Vati­ka­nist des staat­li­chen ita­lie­ni­schen Fern­se­hens RAI, ein Inter­view mit dem argen­ti­ni­schen Blog­ger Cami­nan­te Wan­de­rer der als Lands­mann des regie­ren­den Pap­stes des­sen Pon­ti­fi­kat mit beson­de­rer Auf­merk­sam­keit beob­ach­tet und über detail­lier­te Kennt­nis­se der argen­ti­ni­schen Ver­hält­nis­se und auch der Zeit Berg­o­gli­os vor sei­ner Papst­wahl ver­fügt. Val­li schätzt Cami­nan­te Wan­de­rer wegen sei­ner Art, die Din­ge offen und nüch­tern anzu­spre­chen und dabei beden­kens­wer­te Anstö­ße zu geben. Das Inter­view hat nichts von dem ein­ge­büßt, was es inter­es­sant macht. Hier die deut­sche Übersetzung:

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Aldo Maria Val­li: Wie konn­ten die Kar­di­nä­le im Jahr 2013 aus­ge­rech­net Berg­o­glio wäh­len? Sicher­lich gab es Kar­di­nä­le, die ihn nicht kann­ten, aber eini­ge müs­sen ihn gut gekannt haben. Wie war es mög­lich, Berg­o­glio die Lei­tung der Kir­che anzu­ver­trau­en? Sie sind Argen­ti­ni­er: Kön­nen Sie uns hel­fen, das bes­ser zu verstehen?

Cami­nan­te Wan­de­rer: Ich den­ke, daß die gro­ße Mehr­heit der Kar­di­nä­le ihn nicht kann­te. Die­je­ni­gen, die ihn gut kann­ten, waren die latein­ame­ri­ka­ni­schen Kar­di­nä­le. Vie­le von ihnen waren sich dar­über im kla­ren, was Berg­o­glio mit der Kir­che anstel­len wür­de: Das gilt zum Bei­spiel für die Bra­si­lia­ner. Ande­re, wie die Kar­di­nä­le von Peru und Kolum­bi­en, den­ke ich, haben nicht für ihn gestimmt.
Der Schlüs­sel liegt mei­ner Mei­nung nach dar­in, daß Berg­o­glio schlau genug war, in jenen Krei­sen ein bestimm­tes Bild von sich zu schaf­fen, die spä­ter im Kon­kla­ve Gewicht haben wür­den: das Bild des beschei­de­nen, armen, pasto­ra­len Man­nes. So hat er sich in den Jah­ren vor 2013 in Rom prä­sen­tiert, und so hat er sich auch bei den Gene­ral­kon­gre­ga­tio­nen prä­sen­tiert. Und die Kar­di­nä­le sahen in ihm den Mann, den die Kir­che zu die­ser Zeit brauch­te. Laut sei­nem ersten Bio­gra­fen, Omar Bel­lo, bestand Berg­o­gli­os Stra­te­gie dar­in, sobald der Rück­tritt Bene­dikts bekannt wur­de, zugun­sten des ange­se­he­nen Kar­di­nals O’Mal­ley zu spie­len. Das war ein Mei­ster­zug: Er wies den Weg in die Zukunft –  ein beschei­de­ner Kar­di­nal, der die Kir­che von all ihrem mora­li­schen Dreck befrei­en woll­te, der aber kei­ne Chan­ce hat­te, gewählt zu wer­den, weil er Ame­ri­ka­ner ist. O’Mal­leys Kan­di­da­tur zu för­dern bedeu­te­te, die eige­ne Kan­di­da­tur zu beför­dern. Es war, als wür­de er sagen: ‚Die Kir­che braucht mich‘. Im rich­ti­gen Moment – der Rede vor der Gene­ral­kon­gre­ga­ti­on vor dem Kon­kla­ve – kam er „aus dem Zylin­der“ und prä­sen­tier­te sei­ne Kan­di­da­tur als der­je­ni­ge, der den Platz von O’Mal­ley ein­neh­men konn­te, weil er die­sel­ben Idea­le tei­le. Die Kar­di­nä­le ent­schie­den sich für das, was sie für die latein­ame­ri­ka­ni­sche Ver­si­on des US-ame­ri­ka­ni­schen Kar­di­nals hielten.

Aldo Maria Val­li: Es bleibt auch ein Rät­sel, wie Berg­o­glio es geschafft hat, ein Jesu­it zu wer­den. Über Jesui­ten kann man alles mög­li­che den­ken, aber wir wis­sen, daß sie im all­ge­mei­nen sehr gut vor­be­rei­te­te Men­schen sind, die stu­diert haben. Berg­o­glio hin­ge­gen scheint es völ­lig an „Grund­la­gen“ zu man­geln. Und wer hat ihm dann erlaubt, Erz­bi­schof zu wer­den und sich ein Image auf­zu­bau­en, das es ihm ermög­lich­te, Papst zu wer­den? Die­se ‚argen­ti­ni­schen Geheim­nis­se‘ war­ten noch dar­auf, gelüf­tet zu werden.

Cami­nan­te Wan­de­rer: Ja, das sind tat­säch­lich Geheim­nis­se. Ich konn­te nir­gend­wo lesen, war­um er sich für die Gesell­schaft Jesu ent­schie­den hat und war­um sie ihn auf­ge­nom­men haben. Es muß gesagt wer­den, daß in Argen­ti­ni­en, wie über­all auf der Welt, die Jesui­ten­schu­len für die obe­re Mit­tel­schicht da waren. Berg­o­glio hin­ge­gen gehör­te der Mit­tel­schicht der Ein­wan­de­rer an.

Aldo Maria Val­li: 1991 soll der dama­li­ge Gene­ral­obe­re der Gesell­schaft Jesu, der Nie­der­län­der Peter Hans Kol­ven­bach (1928–2016), wäh­rend gehei­mer Kon­sul­ta­tio­nen über die mög­li­che Ernen­nung Berg­o­gli­os zum Weih­bi­schof von Bue­nos Aires einen Bericht ver­faßt haben, in dem er eine Rei­he von Män­geln an ihm auf­zeig­te: gewohn­heits­mä­ßi­ger Gebrauch einer vul­gä­ren Spra­che, Dop­pel­zün­gig­keit, unter einer Demuts­mas­ke ver­steck­ter Unge­hor­sam, Man­gel an psy­cho­lo­gi­schem Gleich­ge­wicht. Der Text des Berichts wur­de nie ver­öf­fent­licht, aber sein Inhalt wur­de von einem Prie­ster ent­hüllt, der Zugang zu den Papie­ren hat­te, bevor sie aus den Jesui­ten­ar­chi­ven ver­schwin­den muß­ten. In dem Buch „Aquel Fran­cis­co“, das von den Argen­ti­ni­ern Javier Cáma­ra und Seba­stián Pfaf­fen unter der Auf­sicht des Pap­stes selbst ver­faßt wur­de und Berg­o­gli­os Jah­ren der größ­ten Iso­la­ti­on in der Gesell­schaft Jesu gewid­met ist, heißt es außer­dem, daß eini­ge Jesui­ten das Gerücht in Umlauf brach­ten, er sei ins Exil nach Cór­do­ba geschickt wor­den, „weil er krank und ver­rückt war“. Was kön­nen Sie zu die­sen Umstän­den sagen?

Cami­nan­te Wan­de­rer: Das ist abso­lut wahr. Ich bin seit mehr als 30 Jah­ren ein per­sön­li­cher Freund die­ses Prie­sters und wuß­te von die­sem Bericht, lan­ge bevor Berg­o­glio zum Papst gewählt wur­de. Der Bericht ist nicht nur aus den Archi­ven der Gesell­schaft Jesu ver­schwun­den, son­dern auch aus denen der Kon­gre­ga­ti­on für die Bischö­fe.
Was die Tat­sa­che betrifft, daß er nach Cór­do­ba geschickt wur­de, weil er ‚krank und ver­rückt‘ war, so hal­te ich das für rela­tiv. Er wur­de dort­hin geschickt, weil der neue Pro­vin­zi­al, der pro­gres­siv war, es so woll­te: In Argen­ti­ni­en woll­ten die Jesui­ten Berg­o­glio nicht, weil er kon­ser­va­tiv war und als Pro­vin­zi­al sehr auto­ri­tär gewe­sen war und Ent­schei­dun­gen getrof­fen hat­te, mit denen sie nicht ein­ver­stan­den waren, wie den Ver­kauf der Uni­ver­si­dad del Sal­va­dor. Zur Stra­fe schick­te man ihn nach Cór­do­ba und setz­te ihn auf einen obsku­ren Posten als Beicht­va­ter für Stu­den­ten.
Dort erkrank­te er: Er ver­fiel in Depres­sio­nen und wand­te sich an die kon­ser­va­ti­ven Bischö­fe Argen­ti­ni­ens, damit sie ihm hal­fen, von dort weg­zu­kom­men, und die Hil­fe bestand dar­in, den kon­ser­va­ti­ven Kar­di­nal Quar­ra­ci­no zu drän­gen, ihn zum Weih­bi­schof von Bue­nos Aires zu ernen­nen. Und das gelang ihm schließ­lich auch.

Aldo Maria Val­li: Ein ande­rer Quar­ra­ci­no, José Arturo, Nef­fe des gewe­se­nen Kar­di­nals und Erz­bi­schofs von Bue­nos Aires Anto­nio Quar­ra­ci­no (1923–1998), sag­te, daß sein Onkel 1992 woll­te, daß Berg­o­glio Weih­bi­schof von Bue­nos Aires wird, nach­dem jemand, Pater Isma­el Qui­les, einer von Berg­o­gli­os Leh­rern in der Gesell­schaft Jesu, ihn gebe­ten hat­te, ihn „aus dem Exil zu ret­ten“. Dem zukünf­ti­gen Papst ging es schlecht, „sowohl gei­stig als auch psy­cho­lo­gisch“, so José Arturo Quar­ra­ci­no. Aber war­um soll­te man einen Mann als Weih­bi­schof der Haupt­stadt wäh­len, der Anzei­chen von Insta­bi­li­tät zeig­te? Was hat den Erz­bi­schof und den Papst über­zeugt? Und wer war Pater Isma­el Quiles?

Cami­nan­te Wan­de­rer: Ich glau­be nicht, daß Kar­di­nal Quar­ra­ci­no und die übri­gen kon­ser­va­ti­ven Bischö­fe Argen­ti­ni­ens in Berg­o­glio Anzei­chen psy­cho­lo­gi­scher Insta­bi­li­tät sahen. Ich weiß das aus direk­ter Erfah­rung von einem von ihnen, der jetzt tot ist: Sie bemit­lei­de­ten ihn und hiel­ten ihn für einen Mär­ty­rer der Jesui­ten, die pro­gres­siv und links waren. Und Berg­o­glio hat in sei­nem Exil in Cór­do­ba alles getan, um sich als sol­ches Opfer dar­zu­stel­len.
Ich den­ke, daß dies Kar­di­nal Quar­ra­ci­no dazu ver­an­laßt hat, ihn als Weih­bi­schof zu wäh­len, und in Rom scheint man sich um die Ange­le­gen­heit nicht son­der­lich geküm­mert zu haben.
Pater Isma­el Qui­les war in den 1960er und 1970er Jah­ren ein bekann­ter Jesu­it. Er wid­me­te sich vor allem dem Stu­di­um der öst­li­chen Reli­gio­nen, ins­be­son­de­re des Bud­dhis­mus, und genoß hohes Anse­hen. Er war Rek­tor der Jesui­ten­uni­ver­si­tät von Bue­nos Aires. Er stand Juan Perón sehr nahe und schrieb für den Prä­si­den­ten eini­ge Reden. Und wahr­schein­lich stand er auch Kar­di­nal Quar­ra­ci­no nahe: Bei­de waren kon­ser­va­tiv und bei­de waren Peronisten.

Aldo Maria Val­li: Man kann sagen, daß Berg­o­gli­os Hand­lungs­wei­se von Anfang an poli­tisch war: Gele­gen­hei­ten nut­zen, Wis­sen aus­nut­zen. Wenig oder kein Stu­di­um, wenig oder kei­ne Ver­tie­fung theo­lo­gi­scher, mora­li­scher, spi­ri­tu­el­ler, lit­ur­gi­scher The­men. Nur Ver­wal­tung der Bezie­hun­gen um der Macht wil­len. Eine über­spitz­te These?

Cami­nan­te Wan­de­rer: Ich bin abso­lut ein­ver­stan­den. Und ich wer­de Ihnen einen Fall erzäh­len, der das ver­an­schau­licht, was Sie sagen: Ein Pro­fes­so­ren­kol­le­ge einer argen­ti­ni­schen Uni­ver­si­tät hat­te Berg­o­glio als Leh­rer, als er noch in den Jah­ren der Aus­bil­dung in der Gesell­schaft Jesu war und an der Schu­le Inma­cu­la­da de San­ta Fe unter­rich­te­te. Er war ein guter Leh­rer, er unter­rich­te­te sie in Lite­ra­tur und stand sei­nen Stu­den­ten sehr nahe. Und mein Freund erzähl­te mir fol­gen­des: Bei einer Gele­gen­heit, als er mit ihm und einem ande­ren Schü­ler sprach, sag­te Berg­o­glio zu ihnen: „Ich wer­de Papst wer­den“. Damals war der zukünf­ti­ge Fran­zis­kus erst Anfang drei­ßig. Aber er war sich sei­nes Schick­sals bereits sicher.

„Meiner Meinung nach ist Bergoglio ein Mann, der keinen Glauben hat, oder zumindest keinen katholischen Glauben“

Aldo Maria Val­li: Ich wür­de sagen, es gab zwei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der konn­te Berg­o­glio pro­phe­zei­en oder er hat­te eine sehr hohe Mei­nung von sich selbst. Ein wei­te­res Geheim­nis. Apro­pos Geheim­nis­se: Omar Bel­lo schreibt in sei­nem Buch „El ver­dade­ro Fran­cis­co“, daß, wenn bekannt­lich nie­mand weiß, was im Her­zen eines Jesui­ten ist, dies umso mehr für den Jesui­ten Berg­o­glio gilt. Was ist Ihrer Mei­nung nach in sei­nem Her­zen? Ich weiß, daß dies eine schwie­ri­ge, viel­leicht unmög­li­che Fra­ge ist. Aber ich den­ke, der Ver­such einer Ant­wort kann nur aus Argen­ti­ni­en kommen…

Cami­nan­te Wan­de­rer: Ich ken­ne meh­re­re Anek­do­ten, die von Men­schen erzählt wur­den, die Berg­o­glio in sei­nem täg­li­chen Leben kann­ten. Eini­ge davon kön­nen nicht wie­der­ge­ge­ben wer­den.
Was ist im Her­zen von Berg­o­glio? Das weiß nur Gott, denn nicht ein­mal Engeln ist es gege­ben, das Inne­re des Men­schen zu ken­nen. Wir kön­nen nur spe­ku­lie­ren. Mei­ner Mei­nung nach ist Berg­o­glio ein Mann, der kei­nen Glau­ben hat, oder zumin­dest kei­nen katho­li­schen Glau­ben. Er glaubt wahr­schein­lich an einen dei­sti­schen Gott, aber mehr auch nicht.
Ich ver­mu­te, daß er sei­nen Glau­ben wäh­rend sei­nes Stu­di­ums bei den Jesui­ten ver­lo­ren und gleich­zei­tig die jesui­ti­schen Kün­ste erwor­ben hat, die Macht zu lie­ben. Das ist für ihn zu einer Krank­heit gewor­den. Berg­o­glio ist ein Macht­mensch; das Ziel sei­nes gan­zen Lebens, seit sei­ner Stu­di­en­zeit, ist es, so viel Macht wie mög­lich zu erlan­gen, und dafür hat er alles geop­fert, selbst die ele­men­tar­sten mora­li­schen Grund­sät­ze.
Gleich­zei­tig hegt er einen tie­fen Groll, der sei­ne Bös­ar­tig­keit und sein Rache­be­dürf­nis erklärt. Und die Ziel­schei­be sol­cher Res­sen­ti­ments sind vor allem die­je­ni­gen, die er als eli­tär, sozi­al oder intel­lek­tu­ell über­le­gen emp­fin­det. Des­halb ent­lädt sich sein Haß gegen sol­che Menschen.

Aldo Maria Val­li: Inhalt­lich zeich­net sich Berg­o­gli­os Den­ken weder durch Tie­fe noch durch Ori­gi­na­li­tät aus. Sein Ver­stand ist eher für das Manage­ment als für intel­lek­tu­el­le Spe­ku­la­tio­nen geeignet. 

Cami­nan­te Wan­de­rer: Ich wür­de von einem rein prak­ti­schen Intel­lekt spre­chen. Selbst wenn er über Prin­zi­pi­en, Dog­men und Wahr­hei­ten nach­denkt, impli­ziert er, daß sie immer durch Han­deln, d. h. durch den Wil­len, über­wun­den wer­den kön­nen. Im Grun­de ist das nichts ande­res als jesui­ti­scher Vol­un­t­a­ris­mus in sei­ner höch­sten Aus­prä­gung: Der Wil­le siegt über den Intel­lekt; ein Spie­gel­bild der abso­lu­ten Macht Got­tes.
Ande­rer­seits ver­wen­det Berg­o­glio ger­ne kur­ze Sät­ze, die einen star­ken Ein­druck hin­ter­las­sen, aber wenig oder nichts bedeu­ten. Das sind die soge­nann­ten „Berg­og­lis­men“. Eine typi­sche Tak­tik jedes popu­li­sti­schen Füh­rers: Sei­ne Anhän­ger über­neh­men sie vor­be­halt­los und ohne zu wis­sen, was sie bedeu­ten, und sei­ne Geg­ner kön­nen sie nur schwer oder gar nicht anfech­ten, ein­fach schon des­halb, weil sie kei­ne Sub­stanz haben.

Aldo Maria Val­li: Ihr Arti­kel „La vía angli­ca­na” („Der angli­ka­ni­sche Weg”, 15. August 2022) lie­fert ein foto­gra­fi­sches Bild des­sen, was geschieht: Die katho­li­sche Kir­che folgt den Spu­ren der angli­ka­ni­schen Kir­che in Rich­tung Selbst­zer­stö­rung. Aber wie ist es mög­lich, daß so weni­ge die Ehr­lich­keit und den Mut haben, dies aus­zu­spre­chen? War­um tun alle so, als ob sie es nicht sehen? Ich stim­me Ihnen zu, wenn Sie sagen, daß wir Katho­li­ken im Ver­gleich zu den Angli­ka­nern, die kon­ver­tier­ten, nicht ein­mal den Aus­weg haben, Rom zu umar­men. Ich ken­ne min­de­stens zwei Freun­de, die ortho­dox gewor­den sind, aber es scheint mir eine Ent­schei­dung zu sein, die eher aus Ver­zweif­lung als aus Über­zeu­gung getrof­fen wur­de. Wie weit müs­sen wir fallen?

Cami­nan­te Wan­de­rer: Sie haben recht: Es gibt nur sehr weni­ge, die sich ehr­lich zu die­sem The­ma äußern, vor allem unter jenen, die sich äußern soll­ten, näm­lich die Bischö­fe. Erz­bi­schof Viganò war sicher­lich eine ange­neh­me Über­ra­schung und hat vie­le von uns mit Erleich­te­rung erfüllt. Aber es sind nicht vie­le, die sich äußern. In Argen­ti­ni­en haben wir den Fall von Mon­si­gno­re Héc­tor Aguer, dem eme­ri­tier­ten Erz­bi­schof von La Pla­ta, der in letz­ter Zeit viel geschrie­ben hat.
Die Fra­ge ist: War­um tun sie so, als wür­den sie es nicht sehen? Ich den­ke, es ist vor allem eine Fra­ge der Bequem­lich­keit. Nicht sehen ist viel ein­fa­cher als sehen, denn wenn man sieht, muß man ent­spre­chend spre­chen und han­deln. Und man muß sich dar­auf ein­stel­len, geta­delt zu wer­den. Ich ken­ne meh­re­re Prie­ster, die von ihren Bischö­fen in Fami­li­en­hei­me geschickt wur­den, weil sie ihre Mei­nung gesagt haben. Und wir wis­sen, wie die päpst­li­che Stra­fe für Bischö­fe aus­sieht, die sich zu Wort mel­den.
Zwei­tens, und das hal­te ich für beson­ders wich­tig, den­ke ich, daß es eine Fra­ge der Ideo­lo­gie ist: die Ideo­lo­gie des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils, der Moder­nis­mus oder wie auch immer man es nen­nen will. Es ist eine Fra­ge der Scheu­klap­pen, die sie dar­an hin­dern zu sehen: Sie spre­chen nicht, weil sie nicht sehen kön­nen, und sie sehen nicht, weil sie nicht kön­nen. Sie sind nicht in der Lage, die Rea­li­tät zu inter­pre­tie­ren.
Was die zwei­te Fra­ge betrifft, so habe auch ich eini­ge Freun­de, die ortho­dox gewor­den sind. Aber das scheint mir nicht die rich­ti­ge Lösung zu sein, und zwar nicht nur aus theo­lo­gi­schen Grün­den. Tat­sa­che ist, daß die ortho­do­xe Kir­che genau­so vie­le Pro­ble­me hat wie die römisch-katho­li­sche Kir­che.
Ich den­ke, wir soll­ten kei­ne über­eil­ten Ent­schei­dun­gen tref­fen. Wer letzt­lich die Kir­che ver­läßt, sind Berg­o­glio und sei­ne Leu­te. In der Kir­che blei­ben alle, wir alle, die den Glau­ben der Apo­stel bewah­ren. Andern­falls besteht die Gefahr, in Rand­grup­pen zu lan­den, die von irgend­ei­nem Guru ange­führt wer­den, was immer schlecht aus­geht. Mei­ner Mei­nung nach soll­ten wir vor­erst nur das tun, was wir ent­spre­chend unse­rer Lebens­stan­des zu tun haben, ohne über­eil­te Ent­schei­dun­gen zu treffen.

Aldo Maria Val­li: Eini­ge argu­men­tie­ren jedoch, daß Blei­ben bedeu­te, mit dem Bösen und der Apo­sta­sie zu kol­la­bo­rie­ren, wäh­rend man ein Zeu­ge der Wahr­heit sein soll­te. Was mei­nen Sie dazu?

Cami­nan­te Wan­de­rer: Das ist ein Dilem­ma, über das wir schon oft mit vie­len Freun­den dis­ku­tiert haben. Mei­ner Mei­nung nach hat sich die Kir­che schon oft in Grenz­si­tua­tio­nen befun­den, und die Lösung bestand nie dar­in, sich abzu­tren­nen. Ich erken­ne an, daß die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on viel ern­ster ist als frü­he­re, aber ich glau­be nicht, daß die Stra­te­gie – und ich beto­ne den Begriff der Stra­te­gie – dar­in besteht, mit der Hier­ar­chie zu bre­chen, solan­ge es Schlupf­lö­cher zum Über­le­ben gibt. Es ist mög­lich, daß irgend­wann in naher Zukunft der Bruch mit der Hier­ar­chie die ein­zi­ge Opti­on sein wird, und dann wer­den wir ent­spre­chend han­deln müs­sen, aber mir scheint, daß wir noch nicht so weit sind.

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Vati​can​.va (Screen­shot)

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