
Von P. Paolo M. Siano*
3. Freimaurerei/Freimaurer und Golden Dawn…
Freimaurerei/Freimaurer und Golden Dawn sind miteinander verwoben: Die esoterischen Inhalte des Golden Dawn (Magie, Kabbala, Alchemie, Hermetik, Gnosis, esoterische Angelologie…) sind in der regulären und traditionellen Freimaurerei, bei den regulären Freimaurermeistern, nicht selten auch bei den Mitgliedern der Hochgrade oder „Side degrees“, auf verschiedene Weise wesentlich präsent; andererseits sind Freimaurer und esoterische, rituelle und symbolische Elemente der Freimaurerei im Golden Dawn, im ursprünglichen und in seinen verschiedenen Abteilungen oder Zweigen, in seiner Geschichte und Tradition.

Wie könnte man z. B. nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem initiatorischen Tod der Alten Mysterien, dem symbolischen Tod, „figurative death“, (des dritten Grades der Freimaurer (z. B.: Emulationsritual) und dem mystischen Tod des 5.=6. Grades des Ordens der Goldenen Morgenröte sehen? In der vorherigen Folge habe ich einige Elemente der Ritualität des 5°=6° dargestellt.
Außerdem, wie vom Freimaurer Arthur Edward Waite (Mitglied der Vereinigten Großloge von England – UGLE, Societas Rosicruciana in Anglia – SRIA, Golden Dawn, etc.): Nach der Tradition des Golden Dawn müssen die Leiter des Zweiten Ordens oder Inneren Ordens der Roten Rose und des Goldenen Kreuzes Freimaurermeister der UGLE oder anderer regulärer Großlogen sein, die von der UGLE anerkannt sind (vgl. R. A. Gilbert: The Golden Dawn. Twilight of the Magicians, The Aquarian Press, Wellingborough, Northamptonshire, UK, 1983, S. 138).
In diesem Kapitel betrachten wir einige Figuren von Freimaurern, Mitgliedern und Gelehrten des ursprünglichen Golden Dawn Ordens oder seiner Ableger, die sich jedoch in der Umlaufbahn der magischen und initiatorischen Tradition des Golden Dawn befinden.
3.1. Robert A. Gilbert und der Golden Dawn
Die erste internationale Konferenz über die Geschichte der Theosophischen Gesellschaft („The First International Conference on Theosophical History“) fand vom 18. Juli bis 20. Juli 1986 in London statt. Der Freimaurer Robert Gilbert hielt den Vortrag „The Golden Dawn and the Esoteric Section“, in dem er die Beziehung zwischen dem Golden Dawn und der Esoterischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft von Madame Blavatsky erläuterte. Der Text wurde 1987 in Form einer Broschüre veröffentlicht. Auf der zweiten Umschlagseite findet sich ein kurzer Lebenslauf des Autors, Robert A. Gilbert, und insbesondere eines der wahrscheinlichen „Motive“ für sein Interesse am Golden Dawn. Die Hebamme, die ihn 1942 in Bristol entbunden hat („the midwife who delivered him“), war die Schwester des letzten Leiters des „Hermes“-Tempels der „Stella Matutina“-Gruppe des Golden Dawn (vgl. Robert A. Gilbert, „The Golden Dawn and the Esoteric Section“, Theosophical History Centre, London 1987, zweite Umschlagseite).
Als Anhang zu Gilberts Broschüre gibt es ein Golden Dawn Formular von 1888 („Pledge Form, 1888“) aus einem Manuskript von William Wynn Westcott (UGLE Mason, SRIA, Golden Dawn,…). Darin heißt es: „Order of the G.D., For the purpose of the study of Occult Science, and the further investigation of the Mysteries of Life and Death, and our Environment, permission has been granted by the Secret Chiefs of the R. C. to certain Fratres learned in the Occult Sciences, (and who are also members of the Soc. Ros. in Ang.) to work the Esoteric Order of the G.D. in the Outer; to hold meetings thereof for Study; and to initiate any approved person Male and Female, who will enter into an Undertaking to maintain strict secrecy regarding all that concerns it. Belief in One God necessary. No other restrictions. N.B. This Order is not established for the benefit of those who desire only a superficial Knowledge of Occult Science“ (S. 19). („Orden der Goldenen Morgenröte: Zum Zwecke des Studiums der okkulten Wissenschaften und der weiteren Erforschung der Mysterien des Lebens und des Todes sowie unserer Umwelt haben die Geheimen Leiter des R.C. einigen in den okkulten Wissenschaften gelehrten Brüdern (die auch Mitglieder der Soc. Ros. in Ang. sind) die Erlaubnis erteilt, den Esoterischen Orden des G.D. im Äußeren zu wirken, Versammlungen zum Studium abzuhalten und jede zugelassene Person, männlich und weiblich, die sich zur strikten Verschwiegenheit über alles, was ihn betrifft, verpflichtet, einzuweihen. Der Glaube an den einen Gott ist erforderlich. Keine weiteren Einschränkungen. N.B. Dieser Orden ist nicht zum Nutzen derer gegründet worden, die nur eine oberflächliche Kenntnis der okkulten Wissenschaft wünschen.“)

Kandidaten verpflichten sich zur Geheimhaltung über den Orden, den Namen des Ordens, seine Mitglieder, über die Zusammenkünfte und generell über jedwede Information bezüglich des Ordens, und das gilt auch für den Fall, daß sie den Orden verlassen oder ausgeschlossen werden sollten (vgl. S. 19). Eine weitere Verpflichtung: das permanente Studium der okkulten Wissenschaften („I undertake to prosecute with zeal the study of the Occult Sciences“, S. 19).
In diesem Abschnitt für die Kandidaten findet sich kein Hinweis auf die praktizierte Magie, sondern nur auf das Studium der „Okkulten Wissenschaften“. Dennoch ist sicher, daß im Golden Dawn, seit seiner Gründung, Magie praktiziert wurde. Es ist zudem interessant zu hören, daß auch die SRIA (Rosenkreuzer) erklärt, die „Okkulten Wissenschaften“ zu studieren.
Zumindest um 1985/1986 hat Robert A. Gilbert den 2. Grad der SRIA (vgl. Societas Rosicruciana in Anglia, Metropolitan College – Transactions, – SRIA, 1985 und 1986, London, S. 12).
3.2. W. Wynn Westcott: „Der magische Freimaurer“ (Bro. R.A. Gilbert, 1983)
1983 gab Robert A. Gilbert (UGLE, SRIA,…) eine Sammlung von William Wynn Westcotts Schriften heraus („Edited and Introduced by R.A. Gilbert“): „The Magical Mason. Vergessene hermetische Schriften von William Wynn Westcott. Physician and Magus“ (The Aquarian Press, Wellingborough, Northamptonshire, UK, 1983).
In der Einleitung lesen wir, daß William Wynn Westcott (1848–1925) 1871 in die Freimaurerei eingeweiht wurde. 1880 wurde er Mitglied der SRIA (vgl. S. 7). 1881 war er Gerichtsmediziner in London, „Deputy Coroner“ und „Coroner for North-East London“ bis 1918. 1888 initiiert Westcott zusammen mit Mathers und Dr. Woodman den Golden Dawn mit der Gründung des „Isis-Urania“-Tempels in London. Im Jahr 1897 war er gezwungen, von den Ämtern des Golden Dawn zurückzutreten, weil staatliche Stellen erfuhren, daß er eine prominente Rolle in einer Gesellschaft spielte, die magische Kräfte für sich beanspruchte, und wenn diese Nachricht an die Öffentlichkeit gelangen würde, wäre dies eine Schande für ihn, da er ein Gerichtsmediziner der britischen Krone war. Laut Gilbert war der Urheber der „Bespitzelung“ höchstwahrscheinlich Mathers, der sich dann im Jahr 1900 zusammen mit anderen Mitgliedern des „Zweiten Ordens“ (des Inneren Ordens der Roten Rose und des Goldenen Kreuzes) gegen Westcott auflehnte. Westcott unterstützte Mathers jedoch auch nach 1900 weiter (vgl. S. 8).

Nach Darcy Küntz (Herausgeber, Gelehrter und Mitglied der Golden Dawn „Community“) und Nick Farrell (Gelehrter und Mitglied der „Tradition“ oder „Community“ der vom Golden Dawn inspirierten Orden) war es dagegen nicht Mathers, der Westcott verriet, sondern Edmund William Berridge (1843–1923), ein Arzt in London, Okkultist und Mitglied des Golden Dawn (vgl. Nick Farrell: „King over the Water. Samuel Mathers and the Golden Dawn“, Kerubim Press, Dublin 2012, S. 18, 85f). Berridge wird Leiter des Londoner „Isis-Urania“-Tempels Nr. 3 von Mathers‘ „Alpha et Omega“ (Abspaltung des Golden Dawn) sein (vgl. S. 202).
Wir fahren fort mit Gilberts Buch „The Magical Mason“. Von 1892 bis zu seinem Tod war Westcott „Supreme Magus“ (das höchste Amt) der SRIA. Im Jahr 1918 ließ er sich mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn in Durban, Südafrika, nieder, wo er seine freimaurerischen Studien und seine Korrespondenz fortsetzte (vgl. R.A. Gilbert, The Magical Mason, op.cit., S. 9). Gilbert stellt fest, daß es zum Verständnis des Golden Dawn notwendig ist, die Schriften seiner Schöpfer zu lesen, also auch die von Westcott (vgl. S. 9).
Derselbe Robert A. Gilbert stellt in seiner Studie „William Wynn Westcott and the Esoteric School of Masonic Research“ („William Wynn Westcott und die esoterische Schule der freimaurerischen Forschung“), die in den Proceedings der Loge Quatuor Coronati Nr. 2076 in London veröffentlicht wurde [AQC 100 (1987), S. 6–32], Westcotts freimaurerischen Lehrplan vor. Ich werde mich auf einige wenige Fakten beschränken.
Westcott wurde 1871 als Freimaurer initiiert, 1886 war er Mitglied der Quatuor Coronati Lodge No. 2076“, deren Worshipful Master er 1893 wurde. Im Jahr 1902 ist er Past Junior Grand Deacon (UGLE) und Past Grand Standard Bearer (Supreme Grand Chapter of England – UGLE). Im Alten und Angenommenen Ritus (oder Rose-Croix) erhielt er 1875 den 18. Grad und 1878 den 30. Grad. 1880 wurde er in die SRIA aufgenommen, deren Generalsekretär er 1883 war, und 1891 [1892] war er Supreme Magus der SRIA. Im Jahr 1922 trat er dem Durban Chapter No. 127 des Alten und Angenommenen Ritus in Durban, Südafrika, bei (vgl. S. 30).
Westcotts freimaurerischer Lebenslauf findet sich auch in AQC 38 (1925), S. 224–226.
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Kehren wir zu Fr. Gilbert zurück und sehen uns einige Berichte über Bro. William Wynn Westcott an.
In dem Text „Data of the History of the Rosicrucians“ (vgl. R.A. Gilbert: The Magical Mason, op. cit, 1983, S. 28–39), der 1916 für die SRIA veröffentlicht wurde, schreibt Westcott, daß die Societas Rosicruciana in Anglia (SRIA) 1865 von Robert Wentworth Little (der in der „Freemasons‘ Hall“, dem Hauptsitz der UGLE, einige alte Rituale findet) und von Kenneth Mackenzie geplant wird, der in Österreich von Graf Apponyi (dessen Englischlehrer er ist) sowohl die rosenkreuzerische Initiation als auch die Vollmacht zur Gründung einer rosenkreuzerischen Freimaurerorganisation in England erhält (vgl. S. 34). 1866 wird das Londoner „Metropolitan College“ der SRIA gegründet und „R.W. Little, 30th, Deputy Prov. G.M. of Middlesex“ wird zum „Supreme Magus“ gewählt (vgl. S. 34). 1887 wird „der Isis-Urania-Tempel der hermetischen Studenten des G.D.“ gegründet (vgl. S. 36), d. h. der Golden Dawn.
Es sei darauf hingewiesen, daß sowohl Little als auch Westcott 30. Grades Rose-Croix oder Ancient and Accepted Rite waren, ein System freimaurerischer Hochgrade oder „Side Degrees“, das behauptet, christlich zu sein…
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In dem Bericht „Man, Miracle, Magic. From the Ancient Rosicrucian Dogmata“ (S. 66–70), der zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt vor dem „Isis-Tempel des Golden Dawn“ vorgetragen wurde, erklärt Westcott, daß es aus der Sicht der Rosenkreuzer kein Wunder, nichts Übernatürliches gibt… Der Okkultismus studiert das, was unbekannt ist (vgl. S. 66). Was allgemein als „Wunder“ bezeichnet wird, werde in Wirklichkeit durch die Kenntnis der Naturgesetze und mit Fähigkeiten erreicht, die der Adept stärker und weiterentwickelt hat (vgl. S. 67). Die rosenkreuzerische Hochmagie („The High Magic of the true Rosicrucian“) ist das Wissen und die Wahrnehmung der Strahlen des geistigen Menschen durch die mentalen Kräfte des niederen Menschen… Der höhere Geist ist eins mit dem universellen Geist (vgl. S. 68). Die praktische Magie zielt darauf ab, etwas von diesem Geist in die Tat umzusetzen (vgl. S. 68)… Nach Westcott ist der wahre Rosenkreuzer kein Medium, er hat nichts mit schwarzer Magie zu tun (vgl. S. 68f)…

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In „The Kabbalah“ (S. 81–94), über die Lehren der Kabbala („the doctrines of the Kabalah“), weist Westcott auf sieben kabbalistische „Dogmen“ („the following dogmas“) hin, darunter: die Präexistenz der Seelen in einer höheren Welt, bevor diese materielle Welt geschaffen wurde; die Rückkehr und Verschmelzung der Seelen mit Gott; die Erlösung der gefallenen Engel, die ebenfalls wieder in Gott eintauchen werden (vgl. S. 92):
- „(1) That the supreme Incomprehensible One was not the direct Creator of the World“ („Daß der höchste Unbegreifliche nicht der direkte Schöpfer der Welt war…“);
- (2) That all we perceive or know of is formed on the Sephirotic type. („Daß alles, was wir wahrnehmen oder wissen, nach dem sephirotischen Typus gebildet ist“);
- (3) That human souls were pre-existent in an upper world before the origin of this present world („Daß die menschlichen Seelen vor der Entstehung dieser Welt in einer oberen Welt präexistent waren“);
- (4) That human souls before incarnation dwell now in an upper Hall, where the decision is made as to what body each soul shall enter („Daß die menschlichen Seelen vor der Inkarnation in einer oberen Halle verweilen, wo die Entscheidung getroffen wird, in welchen Körper jede Seele eintreten soll“);
- (5) That every soul after earth lives must at length be so purified as to be reabsorbed into the Infinite” (S. 92) („Daß jede Seele nach dem Erdenleben schließlich so geläutert werden muß, daß sie wieder in das Unendliche aufgenommen wird“).
Ich komme damit direkt zum siebten und letzten Punkt, den Westcott nennt:
- „(7) That when all the pre-existent souls have arrived at perfection, the Fallen Angels are also raised, and all lives are merged into the Deity by the Kiss of Love from the Mouth of Tetragrammaton – and the Manifested Universe shall be no more“ (S. 92), („Wenn alle präexistenten Seelen zur Vollkommenheit gelangt sind, werden auch die gefallenen Engel auferweckt, und alle Leben werden durch den Kuß der Liebe aus dem Mund des Tetragrammaton in die Gottheit verschmolzen – und das manifestierte Universum wird nicht mehr sein“).
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In einem weiteren Bericht über die Kabbala, „A Further Glance at the Kabalah“ (S. 95–109), erklärt Westcott, daß Theosophie, Kabbala und Berkeley’scher Idealismus (George Berkeley, ein anglikanischer irischer Bischof und Philosoph) in diesen Theorien übereinstimmen: Nur Geist existiert, Materie existiert nicht, alles ist Geist (vgl. S. 105). Nach der von Westcott erläuterten Kabbala ist das Universum zwar verschieden, aber nicht von Gott getrennt, sondern es ist Gott, der sich dem Menschen offenbart (vgl. S. 105f). Die Materie ist nur unsere Vorstellung, sie stellt einen Aspekt, eine minderwertige Manifestation des Geistes dar. Die einzige Substanz, die existiert, ist der Geist (vgl. S. 106). Wie die Theosophie lehrt auch die Kabbala die Reinkarnation der menschlichen Seelen, bis diese, wenn sie sich vervollkommnen, mit dem Göttlichen wiedervereinigt werden (vgl. S. 107).
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In dem Aufsatz „The Religion of Freemasonry Illuminated By The Kabbalah“ (S. 114–123), der bereits in AQC 1 (1886–1888) veröffentlicht wurde, stellt Westcott fest, daß die englische Freimaurerei sich selbst als „ein in Allegorien verhülltes und durch Symbole veranschaulichtes System der Moral“ beschreibt. Westcott erklärt, daß die Freimaurerei in Wirklichkeit viel, viel mehr ist als ein System moralischer Grundsätze (vgl. S. 114f), da verschiedene rituelle und symbolische Elemente der Freimaurerei an die jüdische Kabbala und insbesondere an die Sephiroth erinnern (vgl. S. 119–123). Auf dieses Thema werde ich nicht näher eingehen.
Der größte magische Inhalt ist der Abschnitt „The Vestiges of Tetragrammaton“ (S. 154–156), der an die Mitglieder des Golden Dawn gerichtet ist und in dem Westcott erklärt, daß das jüdische Tetragramm, d. h. der Name Gottes in hebräischer Sprache, ein Symbol für die Weltseele, den Großen Magischen Agenten ist:
„The ‘Tetragrammaton’ is a symbol of the Soul of the World, that is, the Astral Light, the Great Magical Agent, the action of God in the Universe. […]. Two opposing forces form the DUAD in equilibrium. The Duad is resumed in a Triad, and the Triad is perfected in the Tetragrammaton – Yod-Hé-Vau-Hé – concept of Deity forces, the Active and Passive, Male and Female, Volatile and Fixed, Positive and Negative, and each a Monad Power, Vis, or Unity” (S. 154). („Das ‚Tetragrammaton‘ ist ein Symbol der Weltseele, d. h. des Astrallichts, des Großen Magischen Agenten, des Wirkens Gottes im Universum. […]. Zwei gegensätzliche Kräfte bilden den DUAD im Gleichgewicht. Die Duade wird in einer Triade wieder aufgenommen, und die Triade wird im Tetragrammaton – Yod-Hé-Vau-Hé – Konzept der Gottheitskräfte vervollkommnet, der Aktiven und Passiven, Männlichen und Weiblichen, Flüchtigen und Fixen, Positiven und Negativen, und jede eine Monaden-Kraft, Vis, oder Einheit.“)

Für diese Lehre beruft sich Westcott auch auf den französischen Okkultisten Eliphas Levi (vgl. S. 155f). Die kabbalistische und alchemistisch-hermetische Lehre vom Tetragrammaton findet sich auch im Rosenkreuzertum:
„Rosicrucianism again develops the Tetragrammaton in its Religio-physical conceptions, and INRI which shines in burning letters on the Cross of the Jesus who was Christ, or Holy, becomes alike ‘Igne Naturae renovator integra’: ‘Nature by Fire is renewed in its integrity’, and also, ‘Iamin, Nour, Ruach, Iaberschah’: ‘Water, Fire, Air and Earth’, which again are the Yetziratic Mothers [Hebrew: Mem, Shin, Aleph], and Malkuth on the Plane of Assiah and Matter“ (S. 156). („Das Rosenkreuzertum entwickelt das Tetragrammaton in seinen religiös-physikalischen Vorstellungen weiter, und INRI, das in brennenden Buchstaben auf dem Kreuz des Jesus, der Christus war, leuchtet, wird gleichsam ‚Igne Naturae renovator integra‘: ‚Die Natur wird durch das Feuer in ihrer Integrität erneuert‘, und auch ‚Iamin, Nour, Ruach, Iaberschah‘: ‚Wasser, Feuer, Luft und Erde‘, die wiederum die jetziratischen Mütter [hebräisch: Mem, Shin, Aleph] sind, und Malkuth auf der Ebene von Assiah und Matter.“)
3.3. Hermetische Schriften von MacGregor Mathers (Bro. R.A. Gilbert, 1983)
1983 veröffentlichte der übliche Verlag The Aquarian Press (Wellingborough, Northamptonshire, UK) ein weiteres Buch, herausgegeben von Robert A. Gilbert („Edited and Introduced by“): The Sorcerer and His Apprentice. Unknown Hermetic Writings of S.L. MacGregor Mathers and J.W. Brodie-Innes”. In der Einleitung (S. 7–12) lesen wir, daß Samuel Liddell MacGregor Mathers (1854–1918) 1877 als Freimaurerlehrling eingeweiht wurde und 1878 Freimaurermeister wurde. 1882 trat er der SRIA (vgl. S. 8) auf Drängen von Frederick Holland bei, der ihn zum Studium des Okkultismus ermutigte („occult studies“, S. 8). In der SRIA lernte Mathers Westcott und Woodman kennen und begann damit, den Grundstein für das zu legen, was Gilbert auch „the Hermetic Order of the Golden Dawn“ (S. 8) nennt. Ab 1888 deckt sich Mathers‘ Geschichte mit der des Golden Dawn („From 1888 the story of MacGregor Mathers is the story of the Golden Dawn“, S. 8).

Ich möchte hier nur auf einige Schriften von Mathers, dem Freimaurer (UGLE), Rosenkreuzer (SRIA) und Mitstreiter des Golden Dawn, hinweisen.
„The Symbolism of the 4 Ancients“ (S. 19–22) ist ein Bericht von Mathers für die SRIA, der 1888 als „Clavicula No. 2“ (S. 19) veröffentlicht wurde, aber später schreibt Gilbert „Clavicula Rosicruciana No. 11. Issued by the S.R.I.A., 1888“ (S. 22).
Mathers erklärt, daß die 4 wichtigsten Amtsträger eines SRIA-„Kollegiums“ („Loge“) „Älteste“, „Ancients“ genannt werden, und jeder von ihnen steht einem der 4 Elemente vor, Luft-Feuer-Wasser-Erde (vgl. S. 19f). Mathers erklärt, daß in der hebräischen Kabbala („the Hebrew Kabalah“) der Begriff „Ältester“ Gott bezeichnet, den Ältesten der Tage („Ancient of Days“), der vor der Schöpfung steht (vgl. S. 19). Die SRIA vereinigt Kabbala, Alchemie und Astrologie (vgl. S. 20):
- Der 1° Älteste repräsentiert das Erdelement, entspricht dem astrologisch-zodiakalen Zeichen Stier und der Jahreszeit Frühling und trägt ein schwarzes Gewand.
- Der 2° Älteste = Luftelement, Wassermann, Winter, gelbe Farbe.
- Der 3° Älteste = Wasserelement, Skorpion, Herbst, blaue Farbe.
- Der 4° Älteste = Feuerelement, Löwe, Sommer, rote Farbe. (vgl. S. 21).
Der Kandidat für den 1. SRIA-Grad („Zelator“) geht den umgekehrten Weg der Jahreszeiten („backwards“), vom 1° Ältesten (Frühling) zum 4° Ältesten (Sommer) (vgl. S. 22).
Mathers führt aus, daß laut den jüdischen Rabbinen („the Hebrew Rabbis“) jeder der vier Buchstaben des „heiligen Tetragramms“ (der Name Gottes auf hebräisch) eines der vier Elemente darstellt: „the Divine Name […] IHVH rushes through the universe, for each letter presides over an element–Yod over Fire, Hé over Water, Vau over Air, and Hé over Earth, and that therefore he who could pronounce it aright would make both heaven and earth totter and quake, seeing that he would have used the creative word which called each element into being“ (S. 22). („Der göttliche Name […] IHVH rauscht durch das Universum, denn jeder Buchstabe steht einem Element vor – Jod über das Feuer, Hé über das Wasser, Vau über die Luft und Hé über die Erde, und deshalb würde derjenige, der ihn richtig aussprechen könnte, Himmel und Erde zum Wanken und Beben bringen, denn er würde das schöpferische Wort benutzen, das jedes Element ins Leben gerufen hat.“)
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„The Qliphoth of the Qabalah“ (S. 23–29) ist ein Vortrag, den Mathers am 2. Juli 1900 vor den Mitgliedern des „Isis-Urania“-Tempels (London), Golden Dawn, hielt. Die „Qliphoth“ sind die Perversionen der göttlichen „Sephiroth“, das Böse. Sie sind zehn wie die Sephiroth, aber sie sind Wohnstätten des Bösen („Infernal Palaces“, vgl. S. 23).
Mathers argumentiert, daß in der Schöpfung alle Dinge notwendig sind, auch das Böse:
„But surely all things in the Creation are necessary, seeing that one existeth not without the other, and the Evil also helpeth the Work, for thus the greater and more intense the Darkness, by so much the more doth the Light become bright by Contrast and draweth, as it were, increased force from the Blackness“ (S. 24). („Aber alle Dinge in der Schöpfung sind notwendig, denn das eine existiert nicht ohne das andere, und auch das Böse hilft dem Werk, denn je größer und intensiver die Dunkelheit ist, desto mehr wird das Licht durch den Kontrast hell und zieht gleichsam eine größere Kraft aus der Schwärze.“)
Dann beschreibt Mathers minutiös die höllischen Paläste, „Qliphoth“, und die schrecklichen höllischen Wesen, die Dämonen (vgl. S. 24–29).
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Am Ende eines Berichts über das Tarot (S. 51–78), der 1888 veröffentlicht wurde, schreibt Mathers, daß der Teufel („The Devil“) im Tarot in Form einer Ziege dargestellt wird, die auf einem Würfel über dem Universum sitzt. Der Teufel des Tarot hat einen fünfzackigen Stern auf der Stirn mit einer Spitze nach oben und ist ein Symbol des Lichts. Der Teufel des Tarot zeigt mit einer Hand nach oben und mit der anderen nach unten, ein Symbol des ewigen Gleichgewichts („the eternal equilibrium of Mercy and Justice“; „das ewige Gleichgewicht von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“), er hat einen männlichen und einen weiblichen Arm (vgl. S. 78). Zwischen seinen Hörnern trägt er eine Fackel, die Intelligenz und das magische Licht des universellen Gleichgewichts symbolisiert: „The torch of intelligence is placed between its horns, as the Magical Light of the Universal Equilibrium“ (S. 78). („Die Fackel der Intelligenz ist zwischen seinen Hörnern plaziert, als das magische Licht des universellen Gleichgewichts.“)
Mathers erklärt, daß der Tarot-Teufel anstelle der Genitalien einen Caduceus (Hermesstab mit zwei Schlangen) trägt, der die Ewigkeit des Lebens symbolisiert: „The caduceus which holds the place of the generative organs signifies the eternity of life“ (S. 78). („Der Caduceus, der den Platz der Zeugungsorgane einnimmt, bedeutet die Ewigkeit des Lebens.“)
Auf seinem Bauch hat der Tarot-Teufel Schuppen, die das Element Wasser darstellen; er hat Flügel, die das Flüchtige [Luft] symbolisieren; seine Ziegenfüße ruhen auf der Erde (vgl. S. 78).
So drückt der Teufel des Tarots die vier Elemente aus: Feuer, Wasser, Luft, Erde.…
Diese Beschreibung des Tarot-Teufels wurde im wesentlichen bereits von dem französischen Okkultisten Eliphas Levi illustriert (vgl. S. 77), und Mathers (mit dem Golden Dawn) teilt sie.
Es ist interessant zu wissen, daß die englische freimaurerische Wochenzeitschrift „The Freemason“, Nr. 218, 10. Mai 1873, unter der Überschrift „Rosicrucian Society of England“ (SRIA) feststellt, daß Eliphas Levi einstimmig zum Ehrenmitglied der SRIA gewählt wurde („honorary member“, S. 310). Die Wochenzeitschrift „The Freemason“ veröffentlichte auch offizielle Berichte der Vereinigten Großloge von England (UGLE).
(Fortsetzung folgt)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/MiL
Bisher in der Reihe erschienen:
- Der Hermetische Orden der Goldenen Morgenröte, Freimaurerei und Freimaurer (Teil 1)
- Der Hermetische Orden der Goldenen Morgenröte, Freimaurerei und Freimaurer (Teil 2)
- Der Hermetische Orden der Goldenen Morgenröte, Freimaurerei und Freimaurer (Teil 3)
- Der Hermetische Orden der Goldenen Morgenröte, Freimaurerei und Freimaurer (Teil 4)
- Der Hermetische Orden der Goldenen Morgenräte, Freimaurerei und Freimaurer (Teil 5)