Von Roberto de Mattei*
Zwischen Papst Franziskus und der Welt der Tradition ist eine dialektische Beziehung entstanden, die gefährliche Folgen haben kann.
Das Motu proprio Traditionis custodes vom 16. Juli 2021, das das Motu proprio Summorum Pontificum von Benedikt XVI. demontiert, sollte nicht in die Irre führen. Papst Franziskus lehnt den überlieferten Römischen Ritus nicht per se ab, aber er verabscheut jene, die diesem Ritus treu sind, oder vielmehr das karikierte Bild, das er sich im Laufe der Jahre von den Traditionalisten gemacht hat. Der Verweis auf „Großmutters Spitzen“ in seiner Ansprache an den sizilianischen Klerus am 17. Juni ist in dieser Hinsicht bezeichnend.
„Großmutters Spitzen“ gibt es nur in der Phantasie einiger progressiver Ideologen. Die Realität des sizilianischen Klerus ist nicht die von Spitzen, sondern besteht, wie überall, aus Priestern, die in Hemd und Sandalen herumlaufen und die neue Messe auf schlampige und respektlose Weise feiern. Sie rechtfertigen sich mit der Behauptung, die Form sei nicht die Substanz, aber gerade ihre Abneigung gegen alte Formen zeigt, daß für viele von ihnen die Form vor der Substanz kommt.
Papst Franziskus ist nicht sensibel gegenüber dem Thema Liturgie, aber ganz generell ist er nicht an der Lehrdebatte interessiert, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils und in den Jahren danach Konservative und Progressive gegeneinander stellte. „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“, lautet eines der Postulate der Enzyklika Evangelii gaudium (EG, 217–237). Was wirklich zählt, sind „nicht Ideen“, sondern „Unterscheidungsvermögen“, bekräftigte er am 19. Mai am Sitz der Civiltà Cattolica vor den Redakteuren der europäischen Kulturzeitschriften der Gesellschaft Jesu. „Wenn man sich allein in die Welt der Ideen begibt und sich von der Realität entfernt, endet man in der Lächerlichkeit.“ Das Lächerliche schreibt er den nicht vorhandenen traditionalistischen Spitzen zu, während er es in den maroden Liturgien der progressiven Geistlichen nicht wahrnimmt.
Wenn sich die Einsicht von den Ideen abhebt, wird sie zum Personalismus. Franziskus neigt dazu, jedes Thema zu personalisieren und die Bräuche, Ideen und Institutionen der Kirche beiseite zu schieben. Im Bereich des Regierens führt der Personalismus zu „Exzeptionalismus“, aber außergewöhnliche Entscheidungen sind, wie der Vatikanist Andrea Gagliarducci feststellt, nur außergewöhnliche Entscheidungen, sie schaffen keine objektive und universelle Norm. Seine Beziehungen zum Souveränen Malteserorden bestätigen dies. Der Papst scheut sich nicht, die Regeln zu brechen oder das kanonische Recht zu ändern, wenn es nötig ist, eben weil jede seiner Handlungen eine persönliche und daher „außergewöhnliche“ Angelegenheit ist.
Die Gegner von Franziskus, die „Restauratoren“, wie er sie nennt, laufen jedoch Gefahr, ihren Widerstand gegen sein Pontifikat zu personalisieren und dabei zu vergessen, daß er nicht nur ein Mensch ist, sondern auch der Nachfolger Petri und der Stellvertreter Christi.
Für einige Traditionalisten scheint es unvorstellbar zu sein, daß Papst Franziskus ein legitimer Pontifex sein könnte, und selbst wenn sie dies mit Worten akzeptieren, leugnen sie es auf der Ebene der Taten, indem sie, wie er, im Namen der persönlichen Einsicht die Praxis über die Theorie stellen. Der Gebrauch, ihn Bergoglio und nicht Franziskus zu nennen, zeigt diese Tendenz zur Personalisierung, die ihren Höhepunkt erreicht, wenn er mit Verachtung „der Mann von Santa Marta“ oder „der Argentinier“ genannt wird. Gerade ein kluger argentinischer Beobachter der Dinge der Kirche hat darauf hingewiesen, daß „die Radikalisierung dazu führt, daß die gesamte Realität sub specie bergoglii gelesen wird. Auf diese Weise beruht unsere Zugehörigkeit zum katholischen Glauben paradoxerweise nicht mehr auf der Bejahung des Glaubens der Apostel, sondern auf dem Widerstand gegen alles, was Franziskus tut“.
Die Personalisierung der Probleme führt nicht nur zu einem Primat der Praxis, sondern auch zu einem Primat der Ideen über die Gefühle. Liebe und Haß emanzipieren sich von den beiden augustinischen Städten, in denen sie verankert sein sollten, der Civitas Dei und der Civitas diaboli, und personalisieren sich. Dieses Phänomen entstand im Rahmen des Neomodernismus in den 1960er Jahren. Man braucht nur die Seiten des Tagebuchs von Pater (später Kardinal) Yves Congar zu lesen, um den bitteren Geschmack des Hasses auf die Tradition der Kirche zu spüren, der aus jeder Zeile herausquillt. Aber dieser Haß hat leider einige Traditionalisten angesteckt, die Papst Franziskus aus tiefstem Herzen hassen, ohne Liebe für das Papsttum: Sie hassen die Katholiken, die nicht so denken wie sie, ohne Liebe für die Kirche. Im Jahr 2016 erschien eine respektvolle und ausgewogene Correctio filialis über die Irrtümer von Papst Franziskus. Heute hat die Kritik an Substanz und Respekt verloren, und die Sprache wird tendenziell spaltend und aggressiv.
Doch die Grundlage der katholischen Religion ist die Liebe. Es gibt ein Band der Vollkommenheit, sagt der heilige Paulus, und dieses Band ist die Nächstenliebe (Kolosser 3,14), durch die wir Gott um Seiner selbst willen über alles lieben und uns selbst und unseren Nächsten um Gottes willen. Nächstenliebe hat nichts mit Philanthropie oder Sentimentalität zu tun, aber Christentum ohne Liebe ist kein Christentum. Die Liebe zum Fernen verbirgt den Haß auf den Nächsten, aber der Haß auf den Nächsten offenbart das Fehlen der Gottesliebe. Getrennt betrachtet ist die Gottesliebe an sich natürlich höher als die Nächstenliebe, aber wenn beide, die Gottesliebe und die Nächstenliebe, vereint betrachtet werden, ist die Nächstenliebe für Gott nach Ansicht der Theologen besser als die Gottesliebe allein, weil erstere beide einschließt, was man von letzterer nicht unbedingt sagen kann. Außerdem ist die Gottesliebe, die sich auch auf den Nächsten erstreckt, vollkommener, da Er geboten hat, daß jene, die Gott lieben, auch ihren Nächsten lieben sollen (Antonio Royo Marin o. p., Teologia della perfezione cristiana, hrsg. v. Edizioni Paoline, Rom 1965, S. 622).
Aus Liebe zu Gott, zur Kirche und zu unseren Nächsten, angefangen bei denen, die uns geistig am nächsten stehen, müssen wir unseren Kampf zur Verteidigung der Wahrheit entschlossen und unerschütterlich führen. Jede Zersplitterung und Spaltung kommt vom Teufel, dem Spalter schlechthin. Die Liebe vereint, und die Vereinigung schafft den wahren sozialen und individuellen Frieden, der auf der Unterordnung von Verstand und Herz unter die höchsten Pläne des göttlichen Willens beruht.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana