(Rom) Das Ansehen des Papsttums befindet sich seit 2013 nicht auf einem Höhenflug. Papst Franziskus praktiziert eine Neugestaltung, die andere als Ausverkauf sehen. Am gestrigen Sonntag nahm er wie irgendwelche andere Interviewpartner an einer Sendung des dritten Kanals des italienischen Staatsrundfunks RAI teil. Einer unter vielen, die eine Meinung haben und sie zum Besten geben.
Am Rande sei erwähnt, daß Franziskus im Mai 2015 in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Voz del Pueblo (Volksstimme) sagte:
„Ich habe seit 1990 nicht mehr ferngesehen. Es ist ein Versprechen, das ich Unserer Lieben Frau auf dem Berge Karmel in der Nacht des 15. Juli 1990 gegeben habe.“
Am 16. Juli feiert die Kirche den Gedenktag Unserer Lieben Frau auf dem Berge Karmel, der seit dem 14. Jahrhundert vom Karmelitenorden begangen wird und seit 1726 ein Fest der ganzen Kirche ist.
In jenem Interview enthüllte Franziskus auch, daß er „nur eine Zeitung“ lese, die linke La Repubblica des Eugenio Scalfari. Später, viel später, wurde versucht, die Aussage abzubiegen, indem aus La Repubblica der ideologisch weniger verfängliche Il Messaggero gemacht wurde. Ob der Papst vielleicht auch im anderen Teil seiner Aussage etwas verwechselt hatte?
RAI3 ist der traditionell am weitesten links stehende Sender des öffentlich-rechtlichen italienischen Rundfunks. Er wurde schon vor dem Zusammenbruch des Ostblocks von der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) kontrolliert und deshalb auch „Telekabul“ genannt. Die Sendung „Che tempo che fa“ von Fabio Fazio, an der Franziskus teilnahm, ist entsprechend politisch positioniert. Fazio lädt sich jeweils einen Gast ein, den er interviewt. Auch die Studiogäste sind verortet. Zu ihnen gehörten schon Barack Obama, Emmanuel Macron und Bill Gates.
In dieser Sendung konnte 2006 der deutsche Schriftsteller Günther Grass seinen vielleicht niederträchtigsten Angriff gegen den damals regierenden Papst Benedikt XVI. ausführen. Grass, der „Saubermann“ und Ankläger der Kriegsgeneration par excellence, hatte im Vorfeld seines autobiographischen Werkes „Beim Häuten der Zwiebel“ enthüllt, selbst bei der Waffen-SS gedient zu haben. 60 Jahre hatte er es verschwiegen. Was er auch jetzt noch verschwieg: Als Minderjähriger konnte er sich nur freiwillig zu dieser Einheit gemeldet haben. Es sollte nicht der einzige PR-Gag sein, den Grass zur Bewerbung seiner Erinnerungen einsetzte, wie ihm Kritiker vorwarfen. In der Sendung von Fabio Fazio behauptete er, als Kriegsgefangener in einem bayerischen Lager einem anderen Gefangenen begegnet zu sein, den er wenig vorteilhaft charakterisierte und der ihm erzählte, er wolle „Papst werden“. Als 2005 Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde, das war ein Jahr vor der Veröffentlichung der Grass-Erinnerungen, sei er, Grass, sich ziemlich sicher gewesen, die Stimme jenes jungen Mannes in dem Gefangenenlager wiedererkannt zu haben. Eigenwerbung für Grass auf Kosten anderer und zugleich ein unverschämter Seitenhieb auf den damals amtierenden deutschen Papst mit einer frei erfundenen Geschichte („Ah, ein Karrierist, der schon immer hoch hinaus wollte“). Ein tiefer Griff in den Schmutzkübel.
„Der größte Friedhof Europas“
Zur gestrigen Fernsehsendung wurde behauptet, es handle sich um „ein historisches erstes Live-Interview“ des Papstes. In Wirklichkeit war es vorab aufgezeichnet und zeitversetzt ausgestrahlt worden, wie unschwer an der Armbanduhr des Papstes abzulesen war. Warum das Gegenteil behauptet wurde, hat wohl auch mit PR-Maßnahmen zu tun, von denen wir ständig umringt sind und manipuliert werden.
Fabio Fazio, der sich damals zusammen mit Günther Grass über Benedikt XVI. „amüsiert“ hatte, streute Franziskus ausgiebig Blumen. Der argentinische Papst sei „im Herzen ein Intellektueller, ein Papst, der sich entschieden hat, alle zu erreichen“, so der Fernsehmoderator.
Franziskus bedankte sich und beklagte in der Sendung schwerpunktmäßig das Schicksal von Hunderttausenden von Migranten, insbesondere jenen, die über die Mittelmeerroute nach Europa drängen. Er wiederholte seine Behauptung, es gäbe in Libyen „Konzentrationslager“ für Migranten, und forderte die Staaten der EU auf, sich auf ein „Gleichgewicht“ zu einigen. Damit meinte das Kirchenoberhaupt, die Staaten sollten sich auf eine großzügige Aufnahme von Migranten verständigen. Wörtlich sagte Franziskus:
„Was den Migranten angetan wird, ist kriminell. Sie leiden so sehr, um das Meer zu erreichen. Es gibt Aufnahmen von Konzentrationslagern, ja ich benutze dieses Wort, von Menschenhändlern in Libyen. Was jene erleiden, die fliehen wollen, sieht man auf diesen Aufnahmen.“
Das Mittelmeer sei „der größte Friedhof Europas“, so Franziskus, weil Migranten „zurückgewiesen werden“. Es gebe zahlreiche Schiffe, „die auf einen Hafen warten“. Das Anlaufen eines sicheren Hafens, womit Franziskus einen Hafen in einem EU-Land meinte, werde nur zögerlich gewährt.
Der Papst forderte die EU-Mitgliedsstaaten auf, zu sagen, wie viele Migranten sie aufnehmen würden. Die EU habe auf einen Ausgleich zu drängen. Im Klartext verlangte Franziskus, daß die EU die Mitgliedsstaaten disziplinieren solle, damit alle Staaten Migranten aufnehmen. Franziskus lobte Italien und Spanien, die beiden Länder, „in denen die meisten Migranten ankommen“, die „willkommen geheißen, begleitet, gefördert und integriert“ werden. Franziskus meinte, die Notwendigkeit zur Aufnahme von Migranten gelte umso mehr wegen des in Europa herrschenden Bevölkerungsrückgangs. „Menschen werden gebraucht, und ein integrierter Migrant hilft dem Land.“
Vergebung als Menschenrecht
Es gelte „zu fühlen und zu berühren“, so Franziskus, um nicht „in die Versuchung zu geraten, wegzuschauen“. Zudem formulierte er eine „Wahrheit“, die manche „schockieren wird“:
„Vergebung ist ein Menschenrecht. Wir alle haben das Recht auf Vergebung, wenn wir um Vergebung bitten. Wir haben vergessen, daß jemand, der um Vergebung bittet, das Recht hat, daß ihm vergeben wird.“
Insgesamt seien die Probleme der Welt aber nicht neu: Migranten, Krieg, Waffenhersteller, die diesen schüren, und der Klimawandel. Dafür erntete Franziskus großen Beifall beim Publikum im Mailänder Studio.
Das „größte Übel der Kirche“ sei, so Franziskus, die „spirituelle Weltlichkeit“. Das sei „noch schlimmer als das der freizügigsten Päpste“, denn sie lasse in der Kirche „eine häßliche Sache entstehen, den Klerikalismus, der eine Perversion der Kirche ist“.
„Der Klerikalismus, der in der Starrheit liegt; und unter aller Starrheit ist immer Fäulnis.“
Auch einige persönliche Fragen beantwortete Franziskus. So sagte er, er brauche Menschen um sich, weshalb er auch in Santa Marta wohne. Er habe „wenige, aber wahre Freunde“ und möge „klassische Musik und Tango“:
„Ein Porteño, der keinen Tango tanzt, ist kein Porteño.“
Porteños werden die Einwohner von Buenos Aires genannt.
Wichtig, so Franziskus, sei es, immer gute Laune zu haben. Er denke aber auch viel darüber nach, warum Kinder leiden müssen. Die einzige Antwort, die er darauf finde, sei, mit ihnen mitzuleiden. Darin sei ihm Dostojewski ein großer Lehrmeister.
Am Ende applaudierte das Publikum dem Papst stehend. Eine Geste, die von den Sendungsmachern natürlich so beabsichtigt war.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: RAI3 (Screenshot)