
Von Roberto de Mattei*
In den letzten Monaten des Jahres 1980 erhielt ich unerwarteten Besuch von einem Priester, der sich ernsthafte Sorgen um die Zukunft der Kirche machte. Dieser Priester war Don Mario Marini (nicht zu verwechseln mit Erzbischof Piero Marini oder mit Msgr. Guido Marini, dem nunmehrigen Bischof von Tortona).
Ich wohnte damals in der Via della Lungara, neben der Porta Settimiana, und der Priester wohnte wenige hundert Meter Luftlinie von mir entfernt, in der Residenz der libanesischen Priester in der Via Fratelli Bandiera, auf dem Gianicolo-Hügel. Dort lebten auch der kanadische Kardinal Edouard Gagnon (1918–2007) und der syrische Erzbischof Hilarion Capucci (1922–2017), der mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) verbunden war. Ein anderer junger Priester, Charles Murr, lebte ebenfalls bei ihnen und erinnert zu Recht daran, daß sie sich „am sichersten Ort in ganz Rom“ befanden. Die Israelis hatten, nachdem sie Msgr. Capucci wegen Waffenhandels verhaftet hatten, unter der Bedingung wieder freigelassen, daß er nie wieder in den Nahen Osten zurückkehrt und sein Wohnsitz sowohl von bewaffneten israelischen als auch syrischen Agenten bewacht wird. Pater Murrs langes Interview und sein Buch „The Godmother“ („Die Patin“), gewidmet Schwester Pascalina Lenhert (2017, ital. Ausg. 2019, besonders S. 223–265), ergänzen die in meinen Tagebüchern festgehaltenen Erinnerungen um interessante Details.
Don Mario Marini wurde am 13. September 1936 in Cervia an der Riviera der Romagna geboren. Als ich ihn kennenlernte, war er vierundvierzig Jahre alt, hatte eine kräftige Statur und zwei intelligente und durchdringende Augen. Nach dem Studium des Bauingenieurwesens an der Universität Bologna und der Theologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana trat er in das Priesterseminar ein und wurde im November 1966 zum Priester geweiht. Seine erste pastorale Tätigkeit übte er als Fidei-donum-Priester im Norden Mexikos aus. 1974 wurde er von Msgr. Giovanni Benelli (1921–1982), dem Substituten am Staatssekretariat, gerufen, mit ihm im Vatikan zu arbeiten.
Im August 1967 hatte Paul VI. mit der Apostolischen Konstitution Regimini Ecclesiae die Befugnisse der Kurie im vatikanischen Staatssekretariat zentralisiert, über dessen Büros alles zu laufen hatte, was die Beziehungen des Papstes zu den römischen Dikasterien und zu den Bischöfen betraf. Das Staatssekretariat, dessen Befugnisse außergewöhnlich ausgeweitet wurden, war das Instrument, mit dem Paul VI. beabsichtigte, die „römische Partei“ zu besiegen, die sich an der Kurie den Reformen des Konzils widersetzte.
Msgr. Benelli unterstützte ihn bei dieser Arbeit, doch die Niederlage der Christdemokraten beim Referendum gegen die Scheidung im Jahr 1974 schwächte seine Position, während der Stern seines Rivalen Agostino Casaroli (1914–1998) aufging. Das vatikanische Staatssekretariat wurde in zwei Sektionen unterteilt: die Sektion für Allgemeine Angelegenheiten und die Sektion für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten, die mit der Kurienreform in den Rat für öffentliche Angelegenheiten der Kirche umgewandelt wurde. Diese beiden Sektionen entsprachen dem Innen- bzw. Außenministerium eines modernen Staates und wurden von Msgr. Benelli bzw. Msgr. Casaroli unter der Leitung von Kardinalstaatssekretär Jean-Marie Villot (1902–1979) geleitet.
Es waren die Jahre des turbulenten Übergangs vom Pontifikat Pauls VI. (1963–1978) zu dem von Johannes Paul II. (1978–2005), mit dem kurzen Interregnum (September 1978) von Johannes Paul I., und die Römische Kurie war ein Ort starker Gegensätze. 1977 entfernte Paul VI. Benelli aus Rom, indem er ihn zum Erzbischof von Florenz ernannte und in den Kardinalsstand erhob. Diese Entfernung verletzte den neuen Kardinal zutiefst, tat seinen kämpferischen Aktivitäten jedoch keinen Abbruch. Als am 22. Mai 1978 in Italien das Abtreibungsgesetz beschlossen wurde, bezeichnete Benelli es als „infizierte Eiterbeule“, das aus der Rechtsordnung getilgt werden müsse, und unterstützte in Florenz die Entstehung des Movimento per la vita (Bewegung für das Leben), dessen kirchliche Anerkennung er förderte. In der Zwischenzeit starb Kardinal Villot und Johannes Paul II. ernannte Kardinal Casaroli zum Staatssekretär. Diese Ernennung löste große Verwunderung aus, denn Casaroli war der Hauptverantwortliche für die Ostpolitik des Vatikans, die Johannes Paul II. keineswegs erwünscht war.
Einige haben angenommen, die Entscheidung des neuen Papstes sei damit zu erklären, daß die Ostpolitik mehr die Strategie von Paul VI. als von Casaroli widerspiegelte. Casaroli sei lediglich ein treuer Vollstrecker gewesen, der bereit sei, der Politik von Papst Woytila so zu dienen, wie er jene von Papst Montini umgesetzt hatte. Mit seiner Ernennung zum Außenminister habe Johannes Paul II. den Kreml auf geschickte Weise beruhigt, indem er ihn an die Kontinuität der bisherigen vatikanischen Politik glauben ließ, während er völlig andere Leitlinien ausgab.
Auch wenn die Art des „Dialogs“ von Johannes Paul II. mit Osteuropa von Anfang an anders zu sein schien als die von Paul VI., so irrten doch jene, die glaubten, Casarolis Rolle sei nur die eines Vollstreckers. Don Marini war davon überzeugt, daß das nicht der Fall war, und die Fakten und Dokumente gaben ihm recht (vgl. z. B. die Rekonstruktion von Giovanni Barberini: L’Ostpolitik della Santa Sede. Un dialogo lungo e faticoso [Die Ostpolitik des Heiligen Stuhls. Ein langer und mühsamer Dialog], Il Mulino, Bologna 2007; ibid.: La politica del dialogo. Le carte Casaroli sull’Ostpolitik vaticana [Die Politik des Dialogs. Die Casaroli-Dokumente über die vatikanische Ostpolitik] Il Mulino, 2008).
Don Marini, der 1978 aus dem Staatssekretariat ausschied, war kein Traditionalist, hatte aber wie Kardinal Benelli eine starke Sensibilität für die Lebensrechtsfrage und verabscheute den progressiven Flügel an der Kurie, den Casaroli verkörperte. Er beschloß daher, das Feld diskret zu betreten.
Obwohl er wußte, daß nicht alle unsere Vorstellungen übereinstimmten, bat er mich um Hilfe bei der Aufdeckung einer regelrechten „Mafia“, die unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. die Macht kontrollierte. Wenn er das Wort „Mafia“ verwendete, legte Don Marini stets Wert darauf, die heilige Kirche, die göttlich und unfehlbar ist, nicht mit den Männern der Kirche zu verwechseln, die ihr dienen und sie verraten. Das waren die „Mafiosi“, von denen er sprach, viele Jahre bevor man von der „Mafia von St. Gallen“ sprach.
Um zu verstehen, was im Vatikan geschah, so Don Marini, müsse man bis zum Tod Pauls VI. am 6. August 1978 zurückgehen, als zwei starke regionale Gruppen oder „Clans“ um die Macht in der Stadt der Päpste rangen. Don Marini definierte sie als die lombardisch-piemontesische „Familie“ und die romagnolische „Familie“, wobei er dem Wort Familie die Bedeutung zuschrieb, mit der in der Mafia die „Cosche“, Clans oder Mafiagruppen, die ein Gebiet kontrollieren, bezeichnet werden.
Die erste „Cosca“, die lombardisch-piemontesische, hatte ihren Dreh- und Angelpunkt im Privatsekretär von Paul VI., Msgr. Pasquale Macchi (1923–2006), und umfaßte die zukünftigen Kardinäle Msgr. Giovanni Coppa (1925–2016), Mitglied des Staatssekretariats, Msgr. Francesco Marchisano (1929–2014), Sekretär für das katholische Bildungswesen, Msgr. Luigi Maverna (1920–1998), Generalsekretär der Italienischen Bischofskonferenz, und Msgr. Virgilio Noé (1922–2011), päpstlicher Zeremonienmeister.
Die zweite „Cosca“, die aus der Romagna, wurde von vier Gefährten des regionalen Priesterseminars in Bologna gebildet. Es handelte sich um die künftigen Kardinäle Msgr. Achille Silvestrini (1923–2019), Msgr. Pio Laghi (1922–2009), der später zum apostolischen Nuntius in Argentinien ernannt wurde, Msgr. Dino Monduzzi (1922–2006), Präfekt des Päpstlichen Hauses, und Msgr. Franco Gualdrini (1923–2010), Rektor des Kollegs Capranica und späterer Bischof von Terni. Der geistliche Leiter dieses „Vierecks“ war Msgr. Salvatore Baldassarri (1907–1982), der 1975 von Paul VI. wegen seines Ultra-Progressivismus von seinem Amt als Erzbischof von Ravenna „entbunden“ wurde und durch eine enge Freundschaft mit dem „roten Bischof“ von Ivrea, Msgr. Luigi Bettazzi, verbunden war, mit dem er am Priesterseminar in Bologna studiert hatte.
Nach dem Tod von Paul VI. schlossen die beiden „Familien“ einen „Stahlpakt“ für die Kontrolle des Vatikans. Msgr. Monduzzi hatte das Abkommen eingefädelt, aber der Regisseur war Msgr. Achille Silvestrini, der die Nachfolge von Msgr. Casaroli als Sekretär des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche angetreten hatte, während Msgr. Edoardo Martinez Somalo (1927–2021) Substitut des Staatssekretariats geworden war. Die beiden „Unterminister“ waren Msgr. Audrys Juozas Bačkis, Untersekretär für die öffentlichen Angelegenheiten, und Msgr. Giovanni Battista Re, Assessor für die Allgemeinen Angelegenheiten, beide zukünftige Kardinäle und noch am Leben.
„Jeden Morgen um neun Uhr“, erklärt Don Marini, „trifft sich die politische Gruppe, die den Vatikan lenkt und aus diesen Leuten besteht, und bereitet ihre Berichte für den Papst vor. Aber die wirklichen Entscheidungen sind bereits von einem geheimen ‚Direktorium‘ getroffen worden, das alle Informationen kontrolliert, die in unzugänglichen Archiven aufbewahrt und nach Bedarf gefiltert werden, um die Entscheidungen zu lenken und Ernennungen unter scheinbar evidenten Vorwänden vorzuschlagen.“
An der Spitze dieses Direktoriums stand Msgr. Achille Silvestrini, dieselbe Person, die wir zwanzig Jahre später als „graue Eminenz“ der „Mafia von St. Gallen“ wiederfinden werden, deren Geschichte Julia Meloni rekonstruiert hat (The St. Gallen Mafia, TAN, Gastonia 2021).
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana