Eine „Mafia“ in der Stadt der Päpste

Der "Stahlpakt" von 1978


Blick über die Via della Conciliazione auf den Petersdom.
Blick über die Via della Conciliazione auf den Petersdom.


Von Rober­to de Mat­tei*

In den letz­ten Mona­ten des Jah­res 1980 erhielt ich uner­war­te­ten Besuch von einem Prie­ster, der sich ernst­haf­te Sor­gen um die Zukunft der Kir­che mach­te. Die­ser Prie­ster war Don Mario Mari­ni (nicht zu ver­wech­seln mit Erz­bi­schof Pie­ro Mari­ni oder mit Msgr. Gui­do Mari­ni, dem nun­meh­ri­gen Bischof von Tortona).

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Ich wohn­te damals in der Via del­la Lun­ga­ra, neben der Por­ta Set­ti­mi­a­na, und der Prie­ster wohn­te weni­ge hun­dert Meter Luft­li­nie von mir ent­fernt, in der Resi­denz der liba­ne­si­schen Prie­ster in der Via Fra­tel­li Ban­die­ra, auf dem Gia­ni­co­lo-Hügel. Dort leb­ten auch der kana­di­sche Kar­di­nal Edouard Gagnon (1918–2007) und der syri­sche Erz­bi­schof Hila­ri­on Capuc­ci (1922–2017), der mit der Palä­sti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on (PLO) ver­bun­den war. Ein ande­rer jun­ger Prie­ster, Charles Murr, leb­te eben­falls bei ihnen und erin­nert zu Recht dar­an, daß sie sich „am sicher­sten Ort in ganz Rom“ befan­den. Die Israe­lis hat­ten, nach­dem sie Msgr. Capuc­ci wegen Waf­fen­han­dels ver­haf­tet hat­ten, unter der Bedin­gung wie­der frei­ge­las­sen, daß er nie wie­der in den Nahen Osten zurück­kehrt und sein Wohn­sitz sowohl von bewaff­ne­ten israe­li­schen als auch syri­schen Agen­ten bewacht wird. Pater Murrs lan­ges Inter­view und sein Buch „The God­mo­ther“ („Die Patin“), gewid­met Schwe­ster Pas­ca­li­na Len­hert (2017, ital. Ausg. 2019, beson­ders S. 223–265), ergän­zen die in mei­nen Tage­bü­chern fest­ge­hal­te­nen Erin­ne­run­gen um inter­es­san­te Details.

Don Mario Mari­ni wur­de am 13. Sep­tem­ber 1936 in Cer­via an der Rivie­ra der Roma­gna gebo­ren. Als ich ihn ken­nen­lern­te, war er vier­und­vier­zig Jah­re alt, hat­te eine kräf­ti­ge Sta­tur und zwei intel­li­gen­te und durch­drin­gen­de Augen. Nach dem Stu­di­um des Bau­in­ge­nieur­we­sens an der Uni­ver­si­tät Bolo­gna und der Theo­lo­gie an der Päpst­li­chen Uni­ver­si­tät Gre­go­ria­na trat er in das Prie­ster­se­mi­nar ein und wur­de im Novem­ber 1966 zum Prie­ster geweiht. Sei­ne erste pasto­ra­le Tätig­keit übte er als Fidei-donum-Prie­ster im Nor­den Mexi­kos aus. 1974 wur­de er von Msgr. Gio­van­ni Benel­li (1921–1982), dem Sub­sti­tu­ten am Staats­se­kre­ta­ri­at, geru­fen, mit ihm im Vati­kan zu arbei­ten.

Im August 1967 hat­te Paul VI. mit der Apo­sto­li­schen Kon­sti­tu­ti­on Regi­mi­ni Eccle­siae die Befug­nis­se der Kurie im vati­ka­ni­schen Staats­se­kre­ta­ri­at zen­tra­li­siert, über des­sen Büros alles zu lau­fen hat­te, was die Bezie­hun­gen des Pap­stes zu den römi­schen Dik­aste­ri­en und zu den Bischö­fen betraf. Das Staats­se­kre­ta­ri­at, des­sen Befug­nis­se außer­ge­wöhn­lich aus­ge­wei­tet wur­den, war das Instru­ment, mit dem Paul VI. beab­sich­tig­te, die „römi­sche Par­tei“ zu besie­gen, die sich an der Kurie den Refor­men des Kon­zils wider­setz­te.

Msgr. Benel­li unter­stütz­te ihn bei die­ser Arbeit, doch die Nie­der­la­ge der Christ­de­mo­kra­ten beim Refe­ren­dum gegen die Schei­dung im Jahr 1974 schwäch­te sei­ne Posi­ti­on, wäh­rend der Stern sei­nes Riva­len Ago­sti­no Casaro­li (1914–1998) auf­ging. Das vati­ka­ni­sche Staats­se­kre­ta­ri­at wur­de in zwei Sek­tio­nen unter­teilt: die Sek­ti­on für All­ge­mei­ne Ange­le­gen­hei­ten und die Sek­ti­on für außer­or­dent­li­che kirch­li­che Ange­le­gen­hei­ten, die mit der Kuri­en­re­form in den Rat für öffent­li­che Ange­le­gen­hei­ten der Kir­che umge­wan­delt wur­de. Die­se bei­den Sek­tio­nen ent­spra­chen dem Innen- bzw. Außen­mi­ni­ste­ri­um eines moder­nen Staa­tes und wur­den von Msgr. Benel­li bzw. Msgr. Casaro­li unter der Lei­tung von Kar­di­nal­staats­se­kre­tär Jean-Marie Vil­lot (1902–1979) gelei­tet.

Es waren die Jah­re des tur­bu­len­ten Über­gangs vom Pon­ti­fi­kat Pauls VI. (1963–1978) zu dem von Johan­nes Paul II. (1978–2005), mit dem kur­zen Inter­re­gnum (Sep­tem­ber 1978) von Johan­nes Paul I., und die Römi­sche Kurie war ein Ort star­ker Gegen­sät­ze. 1977 ent­fern­te Paul VI. Benel­li aus Rom, indem er ihn zum Erz­bi­schof von Flo­renz ernann­te und in den Kar­di­nals­stand erhob. Die­se Ent­fer­nung ver­letz­te den neu­en Kar­di­nal zutiefst, tat sei­nen kämp­fe­ri­schen Akti­vi­tä­ten jedoch kei­nen Abbruch. Als am 22. Mai 1978 in Ita­li­en das Abtrei­bungs­ge­setz beschlos­sen wur­de, bezeich­ne­te Benel­li es als „infi­zier­te Eiter­beu­le“, das aus der Rechts­ord­nung getilgt wer­den müs­se, und unter­stütz­te in Flo­renz die Ent­ste­hung des Movi­men­to per la vita (Bewe­gung für das Leben), des­sen kirch­li­che Aner­ken­nung er för­der­te. In der Zwi­schen­zeit starb Kar­di­nal Vil­lot und Johan­nes Paul II. ernann­te Kar­di­nal Casaro­li zum Staats­se­kre­tär. Die­se Ernen­nung löste gro­ße Ver­wun­de­rung aus, denn Casaro­li war der Haupt­ver­ant­wort­li­che für die Ost­po­li­tik des Vati­kans, die Johan­nes Paul II. kei­nes­wegs erwünscht war. 

Eini­ge haben ange­nom­men, die Ent­schei­dung des neu­en Pap­stes sei damit zu erklä­ren, daß die Ost­po­li­tik mehr die Stra­te­gie von Paul VI. als von Casaro­li wider­spie­gel­te. Casaro­li sei ledig­lich ein treu­er Voll­strecker gewe­sen, der bereit sei, der Poli­tik von Papst Woy­ti­la so zu die­nen, wie er jene von Papst Mon­ti­ni umge­setzt hat­te. Mit sei­ner Ernen­nung zum Außen­mi­ni­ster habe Johan­nes Paul II. den Kreml auf geschick­te Wei­se beru­higt, indem er ihn an die Kon­ti­nui­tät der bis­he­ri­gen vati­ka­ni­schen Poli­tik glau­ben ließ, wäh­rend er völ­lig ande­re Leit­li­ni­en ausgab. 

Auch wenn die Art des „Dia­logs“ von Johan­nes Paul II. mit Ost­eu­ro­pa von Anfang an anders zu sein schien als die von Paul VI., so irr­ten doch jene, die glaub­ten, Casaro­lis Rol­le sei nur die eines Voll­streckers. Don Mari­ni war davon über­zeugt, daß das nicht der Fall war, und die Fak­ten und Doku­men­te gaben ihm recht (vgl. z. B. die Rekon­struk­ti­on von Gio­van­ni Bar­be­ri­ni: L’Ostpolitik del­la San­ta Sede. Un dia­lo­go lungo e fati­co­so [Die Ost­po­li­tik des Hei­li­gen Stuhls. Ein lan­ger und müh­sa­mer Dia­log], Il Muli­no, Bolo­gna 2007; ibid.: La poli­ti­ca del dia­lo­go. Le car­te Casaro­li sul­l’Ost­po­li­tik vati­ca­na [Die Poli­tik des Dia­logs. Die Casaro­li-Doku­men­te über die vati­ka­ni­sche Ost­po­li­tik] Il Muli­no, 2008).

Don Mari­ni, der 1978 aus dem Staats­se­kre­ta­ri­at aus­schied, war kein Tra­di­tio­na­list, hat­te aber wie Kar­di­nal Benel­li eine star­ke Sen­si­bi­li­tät für die Lebens­rechts­fra­ge und ver­ab­scheu­te den pro­gres­si­ven Flü­gel an der Kurie, den Casaro­li ver­kör­per­te. Er beschloß daher, das Feld dis­kret zu betre­ten.

Obwohl er wuß­te, daß nicht alle unse­re Vor­stel­lun­gen über­ein­stimm­ten, bat er mich um Hil­fe bei der Auf­deckung einer regel­rech­ten „Mafia“, die unter dem Pon­ti­fi­kat von Johan­nes Paul II. die Macht kon­trol­lier­te. Wenn er das Wort „Mafia“ ver­wen­de­te, leg­te Don Mari­ni stets Wert dar­auf, die hei­li­ge Kir­che, die gött­lich und unfehl­bar ist, nicht mit den Män­nern der Kir­che zu ver­wech­seln, die ihr die­nen und sie ver­ra­ten. Das waren die „Mafio­si“, von denen er sprach, vie­le Jah­re bevor man von der „Mafia von St. Gal­len“ sprach.

Um zu ver­ste­hen, was im Vati­kan geschah, so Don Mari­ni, müs­se man bis zum Tod Pauls VI. am 6. August 1978 zurück­ge­hen, als zwei star­ke regio­na­le Grup­pen oder „Clans“ um die Macht in der Stadt der Päp­ste ran­gen. Don Mari­ni defi­nier­te sie als die lom­bar­disch-pie­mon­te­si­sche „Fami­lie“ und die roma­gno­li­sche „Fami­lie“, wobei er dem Wort Fami­lie die Bedeu­tung zuschrieb, mit der in der Mafia die „Cosche“, Clans oder Mafia­grup­pen, die ein Gebiet kon­trol­lie­ren, bezeich­net wer­den.

Die erste „Cos­ca“, die lom­bar­disch-pie­mon­te­si­sche, hat­te ihren Dreh- und Angel­punkt im Pri­vat­se­kre­tär von Paul VI., Msgr. Pas­qua­le Mac­chi (1923–2006), und umfaß­te die zukünf­ti­gen Kar­di­nä­le Msgr. Gio­van­ni Cop­pa (1925–2016), Mit­glied des Staats­se­kre­ta­ri­ats, Msgr. Fran­ces­co Mar­chisa­no (1929–2014), Sekre­tär für das katho­li­sche Bil­dungs­we­sen, Msgr. Lui­gi Maver­na (1920–1998), Gene­ral­se­kre­tär der Ita­lie­ni­schen Bischofs­kon­fe­renz, und Msgr. Vir­gi­lio Noé (1922–2011), päpst­li­cher Zere­mo­nien­mei­ster.

Die zwei­te „Cos­ca“, die aus der Roma­gna, wur­de von vier Gefähr­ten des regio­na­len Prie­ster­se­mi­nars in Bolo­gna gebil­det. Es han­del­te sich um die künf­ti­gen Kar­di­nä­le Msgr. Achil­le Sil­ve­st­ri­ni (1923–2019), Msgr. Pio Laghi (1922–2009), der spä­ter zum apo­sto­li­schen Nun­ti­us in Argen­ti­ni­en ernannt wur­de, Msgr. Dino Mon­duz­zi (1922–2006), Prä­fekt des Päpst­li­chen Hau­ses, und Msgr. Fran­co Gual­d­ri­ni (1923–2010), Rek­tor des Kol­legs Capra­ni­ca und spä­te­rer Bischof von Ter­ni. Der geist­li­che Lei­ter die­ses „Vier­ecks“ war Msgr. Sal­va­to­re Bald­assar­ri (1907–1982), der 1975 von Paul VI. wegen sei­nes Ultra-Pro­gres­si­vis­mus von sei­nem Amt als Erz­bi­schof von Raven­na „ent­bun­den“ wur­de und durch eine enge Freund­schaft mit dem „roten Bischof“ von Ivrea, Msgr. Lui­gi Bet­taz­zi, ver­bun­den war, mit dem er am Prie­ster­se­mi­nar in Bolo­gna stu­diert hat­te.

Nach dem Tod von Paul VI. schlos­sen die bei­den „Fami­li­en“ einen „Stahl­pakt“ für die Kon­trol­le des Vati­kans. Msgr. Mon­duz­zi hat­te das Abkom­men ein­ge­fä­delt, aber der Regis­seur war Msgr. Achil­le Sil­ve­st­ri­ni, der die Nach­fol­ge von Msgr. Casaro­li als Sekre­tär des Rates für die öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten der Kir­che ange­tre­ten hat­te, wäh­rend Msgr. Edo­ar­do Mar­ti­nez Soma­lo (1927–2021) Sub­sti­tut des Staats­se­kre­ta­ri­ats gewor­den war. Die bei­den „Unter­mi­ni­ster“ waren Msgr. Audrys Juo­zas Bačkis, Unter­se­kre­tär für die öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten, und Msgr. Gio­van­ni Bat­ti­sta Re, Asses­sor für die All­ge­mei­nen Ange­le­gen­hei­ten, bei­de zukünf­ti­ge Kar­di­nä­le und noch am Leben.

„Jeden Mor­gen um neun Uhr“, erklärt Don Mari­ni, „trifft sich die poli­ti­sche Grup­pe, die den Vati­kan lenkt und aus die­sen Leu­ten besteht, und berei­tet ihre Berich­te für den Papst vor. Aber die wirk­li­chen Ent­schei­dun­gen sind bereits von einem gehei­men ‚Direk­to­ri­um‘ getrof­fen wor­den, das alle Infor­ma­tio­nen kon­trol­liert, die in unzu­gäng­li­chen Archi­ven auf­be­wahrt und nach Bedarf gefil­tert wer­den, um die Ent­schei­dun­gen zu len­ken und Ernen­nun­gen unter schein­bar evi­den­ten Vor­wän­den vorzuschlagen.“

An der Spit­ze die­ses Direk­to­ri­ums stand Msgr. Achil­le Sil­ve­st­ri­ni, die­sel­be Per­son, die wir zwan­zig Jah­re spä­ter als „graue Emi­nenz“ der „Mafia von St. Gal­len“ wie­der­fin­den wer­den, deren Geschich­te Julia Melo­ni rekon­stru­iert hat (The St. Gal­len Mafia, TAN, Gasto­nia 2021).

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017 und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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