Vorbemerkung: Dieses Interview wurde schriftlich von Herrn Jörg R. Mayer, Chefredakteur des Attersee Reports, geführt und unter dem Titel „Provokationen“ in der aktuellen Ausgabe des Reports veröffentlicht. Der Attersee Report ist die Vierteljahresschrift des Atterseekreises in der Freiheitlichen Partei Österreichs. Die vorliegende Version ist – mit Ausnahme der alten Orthographie und geringfügigen Korrekturen – gegenüber dem Original unverändert, es wurden lediglich Links zu Internetquellen eingefügt.
Mut zur Wahrheit – so hieß ein kleiner Sammelband, den der Atterseekreis vor einigen Jahren herausgegeben hat. Namhafte Persönlichkeiten von Barbara Kolm bis Hans Olaf Henkel haben in ihm aus ihrer Sicht „mutige“ Gedanken formuliert. Besonders gerne wurde in der Folge auf den Beitrag „Mut zu Sozialreformen“ von Andreas Unterberger verwiesen. Indem der Atterseekreis seinen Text publizierte, habe er sich mit den erhobenen Forderungen gemein gemacht, indem wiederum die FPÖ den Atterseekreis unterstützt, auch sie sich. Nun beklagt die Öffentlichkeit gerne, dass in Parteien zu wenig gedacht werde. Doch wenn jeder Satz gegen den Überbringer instrumentalisiert werden kann, wird schon Andersdenkenden zuzuhören zum Wagnis. Wir wollen es dennoch wieder wagen.
Herr MMag. Schrems, ich habe einmal ein Interview mit Dr. Marcus Franz geführt und ihn eingangs gefragt, ob er eine Provokation sei. Diese Frage brauche ich Ihnen gar nicht erst stellen. Als Kirchenmann alten Schlags müssen Sie doch eigentlich eine Provokation sein: ein Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, den wir nicht gerne spüren.
Ich freue mich, daß der Atterseekreis seit 2017 an meinen Beiträgen interessiert ist. Offenbar wird die „Provokation“ von der Leserschaft mit Wohlwollen oder zumindest mit intellektueller Offenheit aufgenommen. Ich muß aber relativieren: Ich bin nur ein einfacher Gläubiger und kein Amtsträger der Kirche. Ihre Formulierung „alten Schlags“ bejahe ich insofern, als ich mich in meinen Stellungnahmen am überlieferten und niemals veralteten Offenbarungsgut orientiere und damit die Generationen vor mir, also „die Alten“, nachahme. Das empfinden manche Zeitgenossen tatsächlich als „Stachel im Fleisch“. An den Reaktionen gemessen scheinen diesen „Stachel“ am meisten der organisierte Linksextremismus und die heimische Kirchenbürokratie zu spüren. Ersterer duldet keine Proklamation zugunsten des ungeborenen Menschenlebens und der Familie in der Öffentlichkeit, letztere hat sich in Kompromiß und Unterwürfigkeit mit der politischen Macht bequem eingerichtet.
Die FPÖ, zu der ja unser Atterseekreis gehört, ist historisch klar anti-klerikal gewesen, die traditionelle Heimat politisch engagierter Christen war stets die ÖVP. Hat sich das geändert? Ich frage das nicht zuletzt deshalb, weil Alfons Adam vor einigen Wochen verstorben ist, der mit der Partei Die Christen ja selbst einen politischen Versuch unternommen hat. Sein Nachfolger in der späteren CPÖ, Rudolf Gehring, der ja auch Präsidentschaftskandidat war, ist explizit deshalb aus der ÖVP ausgetreten: weil es dort mit dem christlichen Fundament nicht mehr weit her sei.
Die ÖVP, nach der Farbrevolution als „die neue Volkspartei“ auftretend, mag von manchen noch als Heimat politisch engagierter Christen verstanden werden. Aber diese Einschätzung beruht auf einem Irrtum. Zu oft waren christliche und naturrechtliche Positionen verraten worden. Christlich auftretende ÖVP-Kandidaten haben bei Wahlen die Aufgabe, Stimmen von Christen für die Partei zu akquirieren, einen erkennbaren Einfluß auf die Parteilinie üben sie nicht aus. Der Vollständigkeit halber sei angefügt, daß die Kirchenführung weltweit und in Österreich seit den 60er Jahren zur Entchristlichung der Politik selbst beigetragen hat. Die beiden von Ihnen genannten Herren waren nicht nur – zu Recht – von der ÖVP enttäuscht, sie erfuhren auch keinerlei Unterstützung durch die Kirche.
Im Zuge diverser öffentlich gewordener Chatverläufe hat sich sogar ein umgekehrtes Bild ergeben: Die ÖVP hat mit Nachdruck mehr politische Neutralität von der Katholischen Kirche in Österreich eingemahnt, Stichwort Migrationspolitik. Ist das nicht mehr als verständlich? Die österreichische Politik ist ja doch keinem universalen Glaubensreich verpflichtet, sondern den sehr irdischen aktuellen Interessen der Bevölkerung. Oder anders gefragt: Kann sich spezifisch Christliches in der Politik überhaupt äußern, ohne dass man es mit einem „politischen Christentum“ analog zum „politischen Islam“ zu tun bekommt?
In diesem Fragenkomplex gibt es einige implizite Annahmen, die korrigiert werden müssen. Erstens widersprechen die Stellungnahmen der österreichischen Bischöfe und ihrer Apparate zum Thema Masseneinwanderung der kirchlichen Lehre selbst. Der Katechismus der Katholischen Kirche, dessen Redaktionssekretär immerhin Kardinal Schönborn war, lehrt in § 2241 u. a.: „Die politischen Autoritäten dürfen im Hinblick auf das Gemeinwohl, für das sie verantwortlich sind, die Ausübung des Einwanderungsrechtes verschiedenen gesetzlichen Bedingungen unterstellen und verlangen, daß die Einwanderer ihren Verpflichtungen gegenüber dem Gastland nachkommen. Der Einwanderer ist verpflichtet, das materielle und geistige Erbe seines Gastlandes dankbar zu achten, dessen Gesetzen zu gehorchen und die Lasten mit zu tragen.“ Ich habe das noch nie aus dem Mund eines österreichischen Bischofs gehört. Im Gegenteil unterstützen die Autoritäten der Kirche de facto die Masseneinwanderung nach Europa („Migration“ ist ein verschleiernder Ausdruck, denn die Einwanderer „migrieren“ ja nicht weiter). Damit sind sie auf der Linie der notorischen transnationalen Mächte. Die österreichische Politik ist damit ebenfalls kompatibel: Wir erinnern uns beispielsweise, daß 2014 der damalige ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel den Ausdruck „Ausländer“ als „retro“ bezeichnete und damit implizit die Legitimität der Unterscheidung von In- und Ausländern bestritt. Im Jahr 2018 zwang die ÖVP die Salzburger Europaparlamentarierin Claudia Schmidt wegen derer No-na-Aussagen zu den Problemen der Immigration zum Widerruf und setzte sie nicht mehr auf die Liste. Abseits inszenierter Abschiebungen ist die österreichische Politik in der Frage der Masseneinwanderung und Islamisierung nicht den legitimen „aktuellen Interessen der Bevölkerung“ verpflichtet, sondern tatsächlich einem „universalen Glaubensreich“, und zwar dem linksliberalen und globalistischen. Auf diesem Sektor kann es also keinen wirklichen Dissens zwischen österreichischer Kirchenführung und „neuer Volkspartei“ geben. Und zweitens, ja, es wäre tatsächlich die Aufgabe der Kirche, auf eine Verchristlichung der Politik und Kultur zu drängen (nach der traditionellen Lehre vom Christkönigtum, zuletzt von Papst Pius XI. 1925 proklamiert). Das Ergebnis von dessen Umsetzung ist ein anderes als das des „politischen Islam“ (übrigens ein Pleonasmus).
Man könnte das Metathema, das wir hier gerade besprechen, vielleicht mit dem Begriff der Supererogation (i. e.: von jemandem mehr an Leistungen zu verlangen, als jener an Pflichten übernommen hat) auf den Punkt bringen. Es fällt auf, dass bei Fragen wie der von Ihnen erwähnten Masseneinwanderung die kirchliche Botschaft zu sein scheint: Ihr müsst euch in dieser Sache um der Anderen willen eurer Selbst entäußern, das ist euch zumutbar. Nun sieht etwa Jürgen Habermas gerade in der Zurücknahme von supererogatorischen Zumutungen einen ethischen Vorzug des modernen Staates. Ich würde dem grds. beipflichten. Jetzt ist es aber einerseits bezeichnend, dass die Kirche, die ja ganz andere Voraussetzungen hat als der moderne Staat und die zudem ja das Wohlergehen des Menschen in einem Jenseits in die Rechnung hineinnehmen muss, bei ihrem eigenen Verkündigungsauftrag ebenfalls auf dieser Linie ist, d. h. den Menschen nicht mehr mit den supererogatorischen Zumutungen der christlichen Lehre konfrontiert. Und dass andererseits bei Masseneinwanderung die Supererogation dann plötzlich wieder auftaucht. Das sei dann doch den Menschen wieder zumutbar, so die traute Einigkeit zwischen (links)liberalen und kirchlichen Akteuren. Ich finde das schizophren.
Das ist präzise auf den Punkt gebracht. Weder das natürliche noch das geoffenbarte, also das christliche, Sittengesetz verlangen die Selbstaufgabe eines Volkes zugunsten übermäßiger Einwanderung und die Selbstaufgabe eines Staates zugunsten des Souveränitätsverlustes. Dennoch wird diese von Papst und westeuropäischen Bischöfen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – propagiert. Richtig ist auch, daß die Kirchenoberen nicht das einfordern, was zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen (und übrigens auch zum zeitlichen Wohl der Völker) eingefordert werden muß, nämlich den Glauben und das Einhalten der Gebote. Skeptisch bin ich bezüglich der Habermasschen Einschätzung, daß der „moderne“ Staat (was auch immer das ist) „supererogatorische Zumutungen“ zurückgenommen hätte. Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, und schon das revolutionäre Frankreich, sind doch wohl „moderne“ Phänomene. Zudem muten uns die „modernen“ europäischen Regierungen im Zuge der Oberhoheit der EU vieles zu, was nicht ausgemacht war (und was etwa bei der Volksabstimmung von 1994 in Österreich gar nicht zur Wahl stand): Aufgabe von Souveränitätsrechten und Währung, Schuldenunion und Enteignung.
Als Advokat des „modernen“ Staates müsste ich jetzt wohl entgegenhalten, die Französische Revolution wäre dessen Geburtswehen und der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts dessen Bewährungsprobe gewesen – wobei der Nationalsozialismus mit Waffengewalt niedergerungen und der Kommunismus mit der Strategie des „Containment“ so lange ausgesessen wurde, bis er an sich selbst kollabierte. Die Welt, in der ich groß geworden bin, liegt schon nach 1990. Insofern war Francis Fukuyamas The End of History and the Last Man für mich als Jugendlichen ein prägendes Buch – wobei die These ja nicht so sehr darauf beruht, dass die liberale Demokratie sich überall durchsetze, sondern dass sie der Maßstab geworden war, an dem wir alle heute die politischen Regimes messen. Jetzt hat die Geschichte seit dem 11.9.2001 aber in Gestalt des politischen Islam, um diesen Pleonasmus, wie Sie sagen, noch einmal aufzuwerfen, den Clash mit diesem Konkurrenzmodell erlebt. Gleichzeitig gehen auch europäische Länder – Russland, Polen, Ungarn usw. – wieder einen Schritt „zurück“: mehr Traditionalismus, mehr Volkstum, mehr Autorität. Sehen Sie diese letztere Entwicklung positiv? Wo sollten wir uns positionieren?
Das Wort „modern“ ist inhaltlich unklar. Es wird suggestiv und propagandistisch eingesetzt. Es impliziert einen linearen Fortschritt der Geschichte hin zum immer Besseren. Klarerweise entbehrt das jeder historischen Evidenz. Mir erscheinen auch die Begriffe „Geburtswehen“ und „Bewährungsprobe“ in diesem Zusammenhang verharmlosend und irreführend. Zudem ist die Geschichte des Kommunismus von Anfang an mit „modernen“ westlichen Kräften verbunden. Die frühe Sowjetunion wurde doch propagandistisch und finanziell etwa aus den USA unterstützt. Ich erinnere mich übrigens an die 1980er-Jahre, als der Sowjetblock in der öffentlichen Meinung für seine Menschenrechtsverletzungen praktisch nicht kritisiert wurde. Mich wunderte nach 1989, daß keine adäquate Aufarbeitung des Kommunismus durchgeführt wurde, so wie sie in bezug auf den Nationalsozialismus gemacht worden war. Stéphane Courtois wurde wegen seines Schwarzbuchs des Kommunismus von der westlichen Intelligenzija mehr oder weniger verfemt. Andererseits ist mir aus heutiger Sicht klar, daß auch in bezug auf den Nationalsozialismus keine adäquate Aufarbeitung stattfand, etwa in bezug auf dessen relativistische, dynamistische und eben „moderne“ Ideologie. Interessant wäre überdies auch, warum der Westen das NS-Regime lange hofierte (etwa bei den Olympischen Spielen 1936) und sich bezüglich Österreichs und der Sudetengebiete so kulant zeigte. Auch in bezug auf den Islam zeigt sich der „moderne“ Westen ambivalent. Einen richtigen „Clash“ kann ich nicht erkennen: Das „rückständige“ Saudi-Arabien ist ein Verbündeter der „modernen“ USA, die EU begrüßt islamische Zuwanderung und stellt „Islamophobie“ unter Strafe. Ist diese „Modernität“ einfach ein Etikett für eine Option gegen das Christentum? Louis Billot, ein bedeutender Theologe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, läßt die „Moderne“ mit den Schriftgelehrten und Pharisäern zur Zeit Jesu Christi beginnen. Das hat etwas für sich. Von daher ist der von Rußland, Polen und Ungarn getätigte „Schritt zurück“, wie Sie sagen, möglicherweise einfach eine Rückbesinnung auf das, was ihre Geschichte, Kultur und Existenz ausmacht, nämlich das Christentum. Wenn das so ist, sehe ich es positiv. Der „moderne“ Glaube an den „Fortschritt“ hat sich als trügerisch erwiesen. Ich habe keine Detailkenntnisse über die von Ihnen genannten Länder. Mir scheint aber, daß sie sich für die legitimen Interessen ihrer Völker einsetzen. Ob das „mehr Autorität“ bedeutet, als wie wir sie derzeit bei uns erleben, kann ich mangels intimer Kenntnis dieser Länder nicht sagen. Pflege der eigenen Tradition, des nationalen Erbes und einer gesunden Autorität – das scheint mir auch für Österreich ein gutes Zukunftsmodell.
In der politischen Theorie unterscheidet man gerne drei Gestaltungsmächte, die in und zwischen den Staaten wirken: 1. Ideen, 2. Institutionen und 3. Interessen, freilich hier nicht nur nationale Interessen, sondern auch parteipolitische Interessen, persönliche Interessen usw. Natürlich laufen all diese Motive je durcheinander, entsprechend groß die Gefahr falscher Vorbilder, Stichwort „Wir brauchen einen wie Putin!“. Andererseits, wenn jemand wie Orbán angesichts der Kniefallkonjunktur vor einem sportlichen Großereignis sagt, ein Ungar würde „nur in drei Fällen niederknien: vor Gott, vor seiner Heimat und wenn er seine Liebste um ihre Hand bittet“, hat das wohl in jedem Fall Vorbildcharakter. In unserer eigenen, der österreichischen, Politik sehen wir aber, dass oft persönliche und fast immer parteipolitische Interessen den Vorzug genießen vor nationalen, dass unsere Institutionen zum Spielball geworden sind sowohl für gewisse Seilschaften wie auch für das allgegenwärtige linke Meinungskartell, und dass politische Ideen anscheinend gleich gar keine Rolle mehr spielen. Man könnte sagen: Auf die geistliche Leerstelle ist die weltliche Leerstelle gefolgt. Religion findet nicht mehr statt, Politik aber auch nicht mehr. Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει.
Exakt. „Alles fließt und nichts bleibt“: Diesen Eindruck habe ich schon lange. In der Kirche hat man ab dem II. Vaticanum an Doktrin, Moral, Katechese und Liturgie pausenlos herumgedoktert. Dauernd wird etwas umgebaut, nie wird etwas fertig. Die Dauer-„Reform“ wurde zum Selbstzweck. Papst Franziskus hat diese negative Dynamik massiv befeuert. Worum es in der Kirche eigentlich geht, kann dann natürlich unmöglich klarwerden. In der Politik ist das auch so: Ein EU-Vertrag jagt den nächsten. Aber wird den Völkern reiner Wein eingeschenkt, wozu alle diese „Reformen“ dienen sollen? Meines Wissens nicht. Sinnbildlich für das selbstzweckhafte Verändern ist übrigens auch die Manie von Stadtplanern, dauernd abzureißen, neu zu bauen, umzubauen. Das geht auf Kosten der historischen Substanz und natürlich der Funktionalität (wie – ganz trivial – derzeit bei der Wiener U‑Bahn ersichtlich). Wäre man im „Mittelalter“ auch so vorgegangen, hätten wir heute in Europa weder eine nennenswerte Bausubstanz noch irgendeine geistige Substanz, von der wir zehren können. Es ist, wie Sie es andeuten: Die Ideen spielen keine Rolle (oder werden nicht offengelegt), die tradierten Institutionen verfallen, die partikularen, ja egoistischen Interessen einiger weniger prävalieren. Deswegen fällt auch jemand wie Viktor Orbán im derzeitigen Einheitsbrei auf. Und was den von Ihnen genannten Präsidenten Putin betrifft, so würde ich aus meinem Kenntnisstand sowohl von unkritischer Glorifizierung als auch von – möglicherweise bewußt kriegstreiberisch eingesetzter – Dämonisierung abraten.
Es ist eine interessante Beobachtung, was für ein politisches Paradigma die „Reformen“ heute darstellen. Ich kann mich erinnern, da war ich noch ein kleiner Bub, als Michael Häupl bei einem TV-Interview einmal gemeint hat: Reformen, Reformen, ich kann das Wort schon nicht mehr hören! Mein Vater musste vor dem Fernseher kurz lachen: Ja, da habe er sogar ein Stück weit Recht… Ist es nicht tatsächlich so, dass manch Reformierungseifer auch etwas von der, frei nach Leo Trotzki, permanenten Revolution in sich trägt? Das Beispiel EU, das Sie aufgeworfen haben, zeigt das ja deutlich. Es heißt oft, die EU sei wie ein Rad: Es muss sich weiterdrehen, sonst falle es um. Aber was ist das für ein wahnsinniges Konzept! Anstatt uns auf ihren Zweck zu verständigen, wird ihr Progress zum Ziel-Ersatz: die „ever closer union“, wie Jacques Delors einst sagte. Ich möchte noch ein anderes Beispiel anführen: Seit ich denken kann, werden ständig „Bildungsreformen“ gefordert. Eine jagt die andere, nie ist es genug. Ist unser Bildungsstand seitdem besser geworden? Allein bzgl. des Religionsunterrichts – ich nutze das Beispiel gerne, zumal Sie ja auch Katechet sind – hat sich die pädagogische Theoriebildung nur so überschlagen, seit man Kirchliche Katechetik nicht mehr in der Schule haben will: Auf die liberale Pädagogik folgte im evangelischen Milieu etwa der hermeneutische Religionsunterricht, dann der problemorientierte, dann der symboldidaktische, dann der subjektorientierte, der performative, der semiotische, der neostrukturalistische, der kompetenzorientierte usw. Eines scheint mir bei allen Modellen gleich zu sein: Es geht um alles Mögliche, nur nicht so sehr um die Letzten Dinge. Und ich glaube, uns um diese Letzten Dinge herumzudrücken, unser unerhörtes Betroffensein davon zu verdrängen, das prägt unser Zeitalter.
Der Ausdruck „Reform“ hatte schon lange vor der genervten Bemerkung Michael Häupls seine eigentliche Bedeutung verloren. „Re-formare“ heißt zwar laut Lexikon auch „umgestalten“, aber wörtlich ist es „in die rechte Form zurückbringen“. Um das zu tun, muß man zuerst einmal wissen, was diese rechte Form im jeweiligen Fall, etwa in der Politik oder in der Pädagogik, sein soll. Ohne also das Wesen und die Zweckbestimmung einer Sache zu kennen, kann man weder etwas „formen“ noch „in-formieren“ (also „in Form bringen“) noch „re-formieren“. Die von Ihnen genannten Blüten des evangelischen Religionsunterrichts, die natürlich zum Lachen reizen, erinnern auch daran, daß schon die sogenannte „Reformation“ keine „Reform“ in zweiterem Sinne war, sondern ein ganzes Spektrum an revolutionären Neuerfindungen zwischen Wittenberg, Zürich, Genf, Lambeth und anderswo. Und so ähnlich ist es auch mit den endlosen „Reformen“ des von Ihnen ins Spiel gebrachten Schulwesens – und eben der EU. Insofern stimme ich Ihnen zu, daß das adäquate Deutungsmuster dieser Vorgänge die „permanente Revolution“ Trotzkis ist. Immerhin ist einer der ideologischen Gründerväter des vereinigten Europas der Kommunist Altiero Spinelli, nach dem ein EU-Gebäude und eine Abgeordnetengruppe benannt sind. Aber wir müssen tiefer graben. Sie sagen es ganz richtig: Es ist ein Wesenszug des Menschen unseres Zeitalters, sich um die Letzten Dinge „herumzudrücken“. Eine Art, das zu tun, sind eben selbstzweckhafte Umgestaltungen im äußeren Bereich, die als Vorwand dienen, sich nicht den tieferen Fragen stellen zu müssen. Die „ever closer union“, ja genau, aber was dann? Bricht dann das Paradies aus? Da wird der „Progress zum Ziel-Ersatz“, ganz richtig. In jungen Jahren war für mich das Buch des Arztes und Philosophen Max Picard Die Flucht vor Gott (1934) ein Erweckungserlebnis. Auch wenn ich nicht alles in diesem etwas schwierigen Traktat verstand, so verstand ich genug, um mich betreten zu fühlen. Jeder muß sich den Letzten Dingen immer wieder stellen. Und nur das ermöglicht dem Individuum und der Gesellschaft eine realistische und sinnvolle Ordnung des eigenen Lebens.
Sie haben es sich vielleicht schon gedacht, aber mit diesem letzten großen Fass, das ich hier aufgemacht habe: mit unserem Tod und mit dem, was möglicherweise danach ist oder auch nicht, und mit der Rechtfertigung unserer Existenz, möchte ich natürlich am Ende doch noch den Bogen schlagen zu der Frage, die ich Ihnen eigentlich schon am Anfang stellen wollte und die auch in gewisser Weise der Grund für unser Gespräch war: Sie haben in der letzten Ausgabe unseres Reports einen Artikel mit dem Titel „Verschwindendes Land, verschwindende Kirche“ verfasst. Wir haben Ihnen einen Absatz rauszensiert, weil er in ein tagespolitisches Thema – hier die Gesundheitspolitik – Letzte Dinge hineingebracht hat, wozu man, und ich hoffe, Sie konnten die Gründe nachvollziehen, aus unserer Sicht nur sagen kann: Das ist gesellschaftlich unzumutbar (bzw.: So etwas kann man nur in einem kritischen Gespräch erörtern). Würden Sie vielleicht Ihren Gedanken hier noch einmal schildern, und auch, warum sie ihn doch für zumutbar halten?
Ja, es ging in meinem Artikel um die Rolle der Kirche im Aufbau der deutschen Nation zur Zeit der Karolinger. Ich thematisierte die iro-schottischen und angelsächsischen Missionare, die Eingliederung der Sachsen in Kirche und Reich und die Logik des Regierens unter dem Motto der Reichskrone: Per me reges regnant, durch mich regieren die Könige (Spr 8,15). Ich hatte dann den Einfall, zur besseren Illustration das damals herrschende Lebensgefühl mit dem heutigen unter dem Gesichtspunkt der Teleologie, dem Bewußtsein für Ziel und Sinn des Lebens, zu kontrastieren. Damals wußte man um die Verantwortung vor der Ewigkeit, heute bunkert man sich mental im Diesseits ein. Da bot sich die Manie um das neue Lifestyle-Accessoire geradezu an: Viele glauben, durch die Spritze ihre Gesundheit schützen und ihr Leben verlängern zu können. Abgesehen davon, daß nach allen bereits veröffentlichten Informationen diese Rechnung wohl nicht aufgehen wird, sind dieser Glaube, die einschlägige, allgegenwärtige und wahrheitselastische Propaganda und die nicht sehr subtile Nötigung auch unerfreuliche Symptome unserer Zeit. Mir ging es aber in erster Linie um den Verlust der Teleologie: Ich wollte sagen, daß es sinnlos ist, danach zu trachten einem letztlich als sinnlos empfundenen Leben durch eine Injektion noch einige sinnlose Jahre mehr anzufügen. Ich wollte nicht sagen, daß das Leben der Zeitgenossen per se sinnlos ist. Aber angesichts des tatsächlichen Verlustes der Teleologie und eben auch der Eschatologie bei vielen Zeitgenossen war das als Weckruf gedacht. Dieser ist zumutbar, weil er erstens den größeren Horizont aufreißt und somit der Wahrheit über den Menschen entspricht und weil er zweitens konkret hilfreich ist: Die Lehre von den Letzten Dingen relativiert die weltlichen Dinge, besonders die Politik, und stellt sie an ihren Platz. Die weltlichen Bereiche, Politik, Wirtschaft, Gesundheitsvorsorge u. a. sollen als Hilfe für das Leben dienen und eben nicht Selbstzweck sein. In Zeiten wie diesen, da sich die Politik autoritär, ja totalitär („alternativlos“), gebärdet, kann das regimekritisch und somit freiheitsfördernd sein. Ich kann mir natürlich vorstellen, daß meine Gedankenführung in dem Artikel den Verantwortungsträgern einer Publikation zu abrupt und daher als leicht mißzuverstehen erscheinen mußte. Es spricht aber für Ihre Publikation, daß die Autoren unüblich vieles erörtern können. Und gegebenenfalls eine zweite Chance erhalten.
Sehr geehrter Herr MMag. Schrems, vielen Dank für das Gespräch!
Der eigentliche Problem ist doch die geistige Nivellierung auf das Diesseits. Und das ist nur primitiv. Seit 1948 gibt es den Beweis, daß Gott die Welt geschaffen hat. Lemaitre hat in seinen Berechnungen den Beginn des Universums auf das Uratom zurück geführt. Wohlweislich ging er nicht weiter, um überhaupt eine Diskussion darüber nicht ab zu blocken. Wer dem Uratom den Namen „Gottesteilchen verpaßt hat, hat genau nachgedacht. Dieses Ur-Minimum müsste sich selbst geschaffen, sich selbst gezündet und gottgleich alles andere in göttlicher Allwissenheit gesteuert haben.
Die Quantenphysik, ich gestehe, meine Vorstellungskraft reicht da absolut nicht aus, bringt eine neues Denken in die Welt. Sie ist die Grundlage für die Berechnungen von Stephen Hawkins. Er beweist, daß alles haargenau so abgelaufen ist, daß zum Schluß der Mensch
möglich ist.
Der praktische Nutzen für heute wäre gewaltig, wenn die Wahrheit angenommen würde. Der Klimawandel ist eher eine Erfindung des Club of Rome als der Beweis von Tatsachen. Wie sollen die 0,04 % CO2 in der Atmosphäre das Klima beeinflussen. Die Sonne macht das Wetter durch ihre Einwirkung auf Luft, Wasser und Boden. (Nach 8 Minuten Sonnenfinsternis wird es kalt für ca. 8 Minuten.) Warmzeiten sind gute Zeiten.
Gott hat Kohle, Gas und Erdöl in riesigen Lagerstätten eingebaut, damit wir Wärmebedürftigen nicht unsere Wälder verheizen müssen.
Was sie da versuchen, ist das Jenseits aus dem Diesseits zu verstehen. Wenn sich Naturwissenschaft und Technik eine Leiter gebaut haben und diese Leiter kippt, fällt auch der, der auf der Leiter steht. Sollte er sich an der Leiter festhalten? Sollte der Mensch sich nicht vielmehr am Jenseits festhalten, an dem, was nicht fällt, weil es vor dem Diesseits da war? Käme ein falscher Prophet, würde der nicht genau das verkünden: Haltet Euch an dem Diesseits fest? Würde er nicht sogar genau das verkünden, was am wenigsten Ausdruck des göttlichen Willens ist?
Wege aus dem Diesseitsdilemma finden sich bei den idealistischen Philosophen, zB. Plato oder Cusanus. Das wäre der erkenntnistheoretische Weg. Dann gibt es den Weg der Erfahrung. Der Christ erfährt in der Eucharestie die Erfahrung einer Veränderung. Er fühlt sich nach der Kommunion anders, vollständiger. Er kann sich dann sagen, es geht mir anders, ich fühle mich vollständiger. Diese Vollständigkeit kann nur aus dem jenseitigen verstanden werden. Vorher erscheint mir mein Wesen eher irrend, jetzt bin ich klarer.
Die katholische Kirche ist Hüterin der Liturgie, eines Weges aus dem Dilemma. Das ist ihre Aufgabe. Wo Sie das nicht tut, ist sie nicht Kirche.
Es wäre sehr einfach: Moderne = Gnosis = AnthropoTheismus = SelbstVerGötzung