von Wolfram Schrems*
Obwohl dieses Werk hier schon einmal in einer sehr brauchbaren Rezension besprochen wurde, möchte ich es ein zweites Mal, diesmal mit einer anderen Schwerpunktsetzung, der geschätzten Leserschaft dieser Seite präsentieren. Denn erstens ist das Buch wichtig und zweitens soll die verdienstvolle Arbeit des Carthusianus-Verlages gewürdigt werden.
Wie bekannt brachte dieser den Traktat Tradition und Modernismus – Über die Unveränderbarkeit der Tradition gegen die neue Häresie des Evolutionismus (1929) des französischen Jesuitenkardinals Louis Billot (1846 – 1931) erstmals auf Deutsch heraus. In einer Zeit, in der von der kirchlichen Hierarchie in verantwortungsloser Weise das Glaubensgut im Zeichen einer modernistisch interpretierten „Entwicklung“ verfälscht wird und in der dieselbe Hierarchie vermeint, den 500. Jahrestag der Katastrophe einer fälschlich so genannten „Reformation“ feiern zu müssen, sind die Ausführungen eines brillanten Kirchenmannes von nicht zu überschätzendem korrigierendem Wert.
Daher hier noch einmal Louis Billot und die verhandelte Problematik.
Der Autor
Billot stammte aus Sierck-les-Baines in Lothringen (in der Nähe der deutsch-luxemburgischen Grenze) und wurde 1869 zum Priester geweiht. Im selben Jahr trat er in die Gesellschaft Jesu ein. Er wurde Dogmatikprofessor an der Gregoriana und Konsultor der Glaubenskongregation. Er wurde 1911 vom hl. Pius X. zum Kardinal kreiert. Im Streit mit Papst Pius XI. über dessen Verbot der Action Française ließ er sich 1927 vom Kardinalat entbinden und starb hochbetagt im Jesuitennoviziat in Ariccia (in der Nähe von Rom).
Billots Einfluß auf die lehramtliche Verkündigung war erheblich: Er unterstützte Pius X. bei der Konzeption von Pascendi (1907), der maßgeblichen Enzyklika gegen die zerstörerischen – und häufig konspirativ agierenden – Strömungen des Modernismus. Er war Konsultor des Hl. Offiziums (später Glaubenskongregation) und war als Autor und Lehrer im Sinne der klassischen thomistischen Theologie, die von Papst Leo XIII. als für die katholische Theologie und Philosophie maßgeblich erklärt und gefördert worden war, sehr einflußreich („Römische Schule“).
Alfred Loisy, „Säulenheiliger“ des Modernismus – überraschend aktuell
Der äußere Anlaß zur Abfassung des vorliegenden Traktates war die zersetzende Tätigkeit des vom Glauben abgefallenen Priesters Alfred Loisy (1857 – 1940). Dieser griff damals schon kursierende Ideen über die Entstehung der Bibel und die „Entwicklung“ des Glaubens auf (in „Das Evangelium und die Kirche“, 1902, und der polemische Folgeband Autour d’un petit livre). Loisy bestritt die historische Zuverlässigkeit der neutestamentlichen Texte und die Legitimität der kirchlichen Tradition. Er ging von einer Veränderbarkeit des christlichen Glaubens unter den Vorzeichen einer falsch verstandenen „Evolution“ aus.
Etwas vereinfacht gesagt bot Alfred Loisy (mit anderen Autoren) die theoretischen Grundlagen für das, was sich heute „Geist des Konzils“, „Kirche von unten“, „Pfarrerinitiative“, „Wir sind Kirche“ u. dgl. nennt. Auch die Irrungen von Kardinal Walter Kasper und dessen Adepten stehen in einem untergründigen Zusammenhang mit diesen Grundlagen (vgl. dazu die großartige Studie von Thomas H. Stark Historizität und Deutscher Idealismus im Denken Walter Kaspers).
Damit kann Loisy als einer der Urväter der „modernen“ innerkirchlichen Zersetzung gelten.
Loisys Einfluß war schon zu Lebzeiten groß, konnte aber aufgrund der Wachsamkeit der Hierarchie eingedämmt werden.
Billot nahm nun das Werk Loisys zum Anlaß, um in der Entgegnung darauf einige grundsätzliche Fragen zu erörtern (ohne sich aber auf Loisys Publikationen zu beschränken). In sechs Kapiteln (Der katholische Begriff der heiligen Tradition; Die Ursache der scheinbaren Widersprüche in den Zeugnissen der Tradition; Der Fehler der historischen Methode bei der Kritik der Traditionszeugnisse; Der Irrtum der relativen Wahrheit bei den Lehren der Tradition; Der moralische Dogmatismus als Weg in den totalen Ruin [gemeint ist die Kantsche Normenbegründung]; Die Anhäufung von Irrtümern im System des ‚lebendigen Glaubens‘) erklärt er die innere Logik der katholischen Tradition und analysiert entgegenstehende Meinungen, neben Loisy den Protestantismus und den verheerenden Einfluß Kants.
Und all das sind bekanntlich keine akademischen Spekulationen ohne Bezug auf die menschliche Wirklichkeit. Denn wenn es so wäre, hätten die konspirativ arbeitenden Modernisten nicht so viel Zeit und Energie in ihre subversive Arbeit gesteckt. Die Gegenseite wußte ganz genau, wie die Veränderung des Glaubens und des Denkens die Kirche und die Welt verändern muß.
Und „Veränderung“ kann hier nur „Verfälschung“ bedeuten. Und wo die Wahrheit verschwindet, verschwinden die Gebote Gottes. Damit verschwindet die Freiheit, die bekanntlich nur Freiheit ist, wenn sie zum Guten verwendet wird (vgl. KKK 1733). Damit verschwindet auch das gegenseitige Wohlwollen und „die Liebe erkaltet“ (vgl. Mt 24,12).
Kommt uns das nicht bekannt vor?
Gegen das protestantische Sola Scriptura-Prinzip
Da man derzeit auch auf katholischer Seite die unglückliche Eingebung hatte, die irrigerweise so genannte „Reformation“ anläßlich deren 500. Geburtstages festlich begehen zu wollen, soll hier zunächst auf die Billotsche Bestreitung des Sola Scriptura – Prinzips Luthers eingegangen werden.
Luther hatte bekanntlich gegen die gesamte Überlieferung der Kirche und gegen jeden gesunden Menschenverstand ausschließlich den Wortlaut der hl. Schrift als Glaubensquelle anerkannt und damit die ganze Tradition ausgeschlossen. Konsequenterweise wurde er zum einzig legitimen Interpreten der Bibel – und wehe dem „Co-Reformator“, der zu anderen Auffassungen als der unfehlbare „Reformator“ selbst gelangte! Endlose Spaltungen – und Kriege – waren vorprogrammiert.
Hinter der Haltung Luthers und anderer Revolutionäre steckte (häufig uneingestanden) die blasphemische Irrlehre, daß Jesus Christus nicht „alle Tage“ bei seiner Kirche gewesen sein soll, vielleicht sogar 1500 Jahre lang nicht:
„Was soll das heißen, ‚alle Tage‘? Das soll heißen, in der gewöhnlichen und täglichen Ausübung des Lehramtes, wie auch in ihrer feierlichen Ausübung. Wenn Christus nämlich ‚alle Tage‘ sagt, dann schließt er jede Unterbrechung völlig aus, sei sie auch kurz, nur einen Tag während, und läßt für ein Abweichung keinen Raum. Was bedeutet ‚alle Tage‘ noch? In jedem Jahrhundert, in jeder Generation“ (72f).
Billot weist dann darauf hin, daß das eigentliche Organ der Glaubensverkündigung nicht die Bibel sondern die Kirche ist:
„Es stellt sich die Frage, wo es in der biblischen Exegese der Protestanten einen Platz für dieses beständige, ordentliche und ewige Organ gibt, dem Christus alle Tage und bis an das Ende der Zeiten seinen fortwährenden Beistand geben sollte? Nirgendwo [nach protestantischer Auffassung], da ja der Schatz der himmlischen Lehre, der ein für alle Mal von den Hörern im festgefügten Instrument der Schrift niedergelegt worden ist; und seitdem blieb nichts mehr zu tun, und der gesamte Auftrag ‚alles zu lehren, was ich euch aufgetragen habe‘, mußte zwangsläufig mit der Generation der Apostel oder ihrer Schüler ein Ende nehmen“ (73f).
Die Christen sind aber nicht „Leute des Buches“ (wie es gemäß einer Fremdzuschreibung heißt, die leider heute auch in die Kirche der Dhimmis eingedrungen ist)! Die Christen sind die Leute der lebendigen Glaubensweitergabe, also der „Tradition“:
„Fügen wir noch gleichfalls mit Robert Bellarmin hinzu, daß die Apostel, wenn sie von Amts wegen eine schriftliche Fixierung ihrer Lehre intendiert hätten, zweifelsohne einen Katechismus oder ein vergleichbares Werk mit einer Sammlung der Lehrtexte zusammengestellt hätten. (…) Wir haben hier ein unabweisbares Indiz dafür, daß die Apostel von Christus mit der Aufgabe betraut waren, die durch das Evangelium geoffenbarte Wahrheit zu überliefern und weiterzugeben, indem sie zuerst und vor allem die mündliche und persönliche Verkündigung ausübten“ (74f).
Und diese Verkündigung geht weiter und wird über die Jahrhunderte kulturprägend. Dabei wird die Bibel in höchsten Ehren gehalten – und auf dem Hintergrund des gesamten kirchlichen Glaubens richtig verstanden und ausgelegt. Sola Scriptura hat die Auslegung aber zur Privatsache gemacht und zu endloser Fragmentierung im Protestantismus geführt.
Diese Mentalität schwappt nun im Zuge einer „modernen“ Abkoppelung von der Tradition zwangsläufig in die Kirche hinein.
Daher zu einer anderen Frage:
Wann beginnt die „Moderne“ – und was ist sie überhaupt?
In der Verwirrung, die durch den „Modernismus“ ausgelöst wurde, ist man offensichtlich gar nicht mehr auf die Frage gekommen, was die „Moderne“ überhaupt ist und wann sie allenfalls begonnen haben sollte. Sie wird häufig mit einem „Erwachen des Subjektes“ und einer neugefundenen „Freiheit“ (o. ä.) identifiziert und mit Descartes und/oder der „Aufklärung“ angesetzt.
Billot identifiziert die „Moderne“ aber mit dem Unglauben, mit dem Widerstand, der der göttlichen Offenbarung entgegen gebracht wird:
„Es ist zweifelsohne wahr, daß sich der moderne Geist in seiner Ungläubigkeit Wundern widersetzt, eher das Unmögliche versucht, als ihre Realität zuzugeben, und bereitwillig die Augen verschließt, um sich nicht von ihrem unwiderlegbaren Zeugnis aus der Fassung bringen zu lassen. Aber abgesehen davon, daß es hier bei Gott nichts Neues und Modernes gibt, außer man läßt die moderne Ära zur Zeit der Schriftgelehrten und Pharisäer beginnen, wäre die Schlußfolgerung zu jener, die sie erweisen wollen, diametral entgegengesetzt“ (144).
Es ist vielleicht nicht überflüssig hier zu ergänzen, daß eine prominente jüdische Stimme ebenfalls Judentum und „Moderne“ miteinander identifiziert und damit einen jüdischen Buchpreis gewonnen hat (Yuri Slezkine, The Jewish Century, 2006).
Die „Moderne“ löst damit in pharisäischer Logik auch die Gebote Gottes auf und erfindet eigene (vgl. Mk 7,8): Gegen den schon zur Zeit Billots und besonders heute inflationär und mißbräuchlich verwendeten „modernen“ Gewissensbegriff erklärt Billot daher, daß hinter dem Anspruch des Gewissens etwas steht, das unverhandelbar und objektiv ist. Das Gewissen kann nicht willkürlichen Launen und Moden unterworfen werden, es „entwickelt“ sich auch nicht in ein „Nicht-Gewissen“ oder in eine arrogante Willkür, die heute allgegenwärtig ist. Das Gewissen korrespondiert mit der Fülle der – katholischen – Wahrheit:
„Tatsächlich ist nichts offenkundiger, als daß die Verpflichtung, die das Gewissen bindet und den Menschen (ob er will oder nicht) mit einem unlösbaren Band an sich zieht, in ihrem Begriff die Abhängigkeit von einer absolut notwendigen Regel einschließt, und diese ist von etwas Höherem auferlegt, das real bzw. in der Wirklichkeit wahrhaft existiert“ (192).
Wir können also sagen, daß die „Moderne“ letztlich die Abwendung von Gott ist oder die „Flucht vor Gott“ (Max Picard). Denn recht viel mehr an Inhalt wird man im Begriff der „Moderne“ kaum finden können. Sie ist ein Irrlicht.
Das Martyrium – bei evolutionistisch verstandener Dogmenentwicklung sinnlos
Ein letzter Punkt, der wieder stärker mit Loisy zu tun hat. Dieser behauptete ja, daß die Lehrentwicklung der Kirche inhaltlich in ständigem Fluß sei. Damit widerspricht er aber dem katholischen Verständnis von Dogmenentwicklung, wonach ein einmal definiertes Dogma selbstverständlich auch seinem Wortlaut nach fixiert ist. Freilich kann dieses Dogma immer tiefer erfaßt werden, aber man kann nicht mehr hinter den fixierten Wortlaut zurück. Dieser transzendiert die Dogmenentwicklung in der Geschichte. Die Märtyrer vergossen ihr Blut eben auch für einen bestimmten Wortlaut. Das mag überspitzt klingen, trifft aber die Sache. Denn nur im definierten Wortlaut ist die göttlich geoffenbarte Wahrheit enthalten:
„Doch würde man sein Blut vergeblich vergießen und sein Leben nicht seinem wahren Wert nach einschätzen, wenn es hier lediglich um menschliche Formeln ginge, die heute beliebt und morgen außer Mode sind! Und wenn man sich jetzt vorstellen darf, daß die ‚Wesensgleichheit‘ der Fachterminus einer bestimmten Schule ist und daß man sie eines Tages gegen einen anderen Begriff und eine andere Bedeutung austauschen kann! Und wenn man der Ansicht sein kann, daß Jesus vielleicht nicht Gott ist, außer in dem Sinn, daß seine Seele eine Umwandlung durchgemacht hat und er sich einer gewissen Vereinigung mit dem Vater bewußt geworden wäre!“ (168)
Zusammenfassung
Billot legt dar, wie verläßlich der wahre Glaube in der römischen Kirche übermittelt und den Völkern und Einzelpersonen verkündigt wurde. Dabei wurde das Glaubensgut theologisch entfaltet, durchaus auch auf verschlungenen Pfaden, aber nicht verändert.
Der zur Zeit Billots in voller Blüte stehende Darwinismus vermeinte, daß sich ein Ding in ein anderes „entwickeln“ könne. Im Bereich der Weltanschauung und Religion führte das bei Loisy und anderen zur fatalen Absurdität, daß das depositum fidei, das Glaubensgut, sich je nach Epoche zu seiner eigenen Verneinung „entwickeln“ könnte oder müßte.
Alle diese Themen sind heute von größter Relevanz. Kardinal Kasper etwa ist diesen Weg gegangen. Kardinal Schönborn auch. Papst Franziskus begünstigt diese Tendenz.
Der Abfall vom Glauben brachte den Abfall von der Vernunft. Das kann nur in die Unfreiheit führen. Die Zeichen stehen an der Wand.
Resümee zum Buch
Das Lektüreerlebnis ist erfreulich. Ein sympathischer Autor versucht, theologische Fragen zu klären, ohne allzu weitschweifig zu werden. Obwohl der Traktat gut lesbar und nicht nur für promovierte Theologien gedacht ist, setzt er natürlich ein hohes Maß an Problembewußtsein und theologischem Wissen voraus.
Billot scheint auch Sinn für Humor gehabt zu haben (witzige Anspielung auf Joh 9,21; 203), antiplatonische Spitzen sind allerdings entbehrlich (173). –
Wie im Carthusianus-Verlag üblich, gibt es eine gründliche Einleitung ins Thema und in den Zeithintergrund, umfangreiche Anmerkungen im laufenden Text, einschließlich vieler Originalzitate Loisys, Bibliographie und Register. –
Jeder, der für sich einige Hintergründe der derzeitigen kirchlichen Verwerfungen einerseits und die Prinzipien der Tradition andererseits klären will, wird hier fündig werden. Religionslehrer, Professoren und Geistliche sollten erwägen, den – anspruchsvollen – Inhalt für ihre Schüler aufzubereiten. Auch Papst und Jesuitenorden sollten das tun.
Louis Billot SJ, ‚Tradition und Modernismus‘ – Über die Unveränderbarkeit der Tradition gegen die neue Häresie des Evolutionismus, eingeleitet und übersetzt von Claudia & Peter Barthold, Carthusianus-Verlag, Fohren-Linden 2014, 236 S. www.carthusianus-verlag.de
*Wolfram Schrems, Mag. theol., Mag. phil., Katechist
Persönlich würde ich die sog. Moderne nicht so negativ sehen. Die Moderne gehört nicht den Protestanten und „Modernisten“. Gerade das Gegenteil ist doch wahr: diese beiden Gruppen oder Lager sind un-modern, denn sie wollen ja freiwillig nicht katholisch-christgläubig sein, sondern vertreten eine eigene enggerippte Ideologie, vergleichbar dem Islam.
Modern ist für mich die wahre, die römisch-katholische und apostolische Kirche mit all ihren Lehren und Dogmen und der Tradition.