Michel Onfray, Theorie der Diktatur

"Das Maastrichter Imperium ist eine Gestalt gewordene Form der totalitären Gesellschaft, die Orwell in seinem Roman 1984 beschreibt"


Das Buch von Michael Onfray "Theorie der Diktatur" bietet das Instrumentarium zur Analyse und Demaskierung politischer Propaganda, die der Errichtung einer Diktatur dient.
Das Buch von Michael Onfray "Theorie der Diktatur" bietet das Instrumentarium zur Analyse und Demaskierung politischer Propaganda, die der Errichtung einer Diktatur dient.

Von Wolf­ram Schrems*

Anzei­ge

Der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Michel Onfray ist eine schil­lern­de Per­sön­lich­keit. Er hat in Frank­reich vie­le „Fans“ und vie­le Geg­ner. Onfray ist nach eige­nen Anga­ben Athe­ist, ande­rer­seits bedau­ert er die Ent­christ­li­chung des Chri­sten­tums, die Ver­än­de­run­gen durch das II. Vati­ca­num und die Isla­mi­sie­rung Euro­pas. Nicht alles ist bei ihm streng genom­men wider­spruchs­frei. Eine Sache ist dem Rezen­sen­ten aber völ­lig klar: In der Theo­rie der Dik­ta­tur zeigt sich ein schar­fer Ana­ly­ti­ker und ein ori­gi­nel­ler Den­ker. Vor­lie­gen­des Buch bie­tet das Instru­men­ta­ri­um zur Ana­ly­se und Demas­kie­rung poli­ti­scher Pro­pa­gan­da, die ihrer­seits der Errich­tung einer Dik­ta­tur dient.

Da es wich­tig ist, hier in gebo­te­ner Ausführlichkeit:

Der Autor und seine Hypothese

Michel Onfray, Dr. phil., wur­de 1959 in der Nor­man­die gebo­ren und arbei­te­te als Gym­na­si­al­pro­fes­sor in Caen. Dort grün­de­te er die Volks­uni­ver­si­tät Caen. Er ist frei­er Schrift­stel­ler und seit 2020 Her­aus­ge­ber einer Quar­tals­schrift (Front popu­lai­re). Er ist Exper­te für Nietz­sche, Camus und Proudhon. Er ver­faß­te fünf­zig Bücher, die in fünf­und­zwan­zig Spra­chen über­setzt wur­den. Ab 2010 änder­te er man­che Posi­tio­nen und begann, obwohl wei­ter­hin „Lin­ker“, man­che „lin­ke“ Posi­tio­nen vehe­ment zu kri­ti­sie­ren, so die Gen­der-Theo­rie, die Hul­di­gung der Euro­päi­schen Uni­on und die unrea­li­sti­sche Hal­tung des Westens gegen­über dem Islam. Im Jahr 2018 ergriff er Par­tei für die Pro­te­ste der Gelb­we­sten.

Onfray wer­tet nach grund­sätz­li­chen Erwä­gun­gen zur Geschich­te der Dik­ta­tur, von Sul­la über Crom­well bis zum Kom­mu­nis­mus, und nach detail­lier­ten Dar­stel­lun­gen fran­zö­si­scher Vor­gän­ge die bei­den dys­to­pi­schen War­nun­gen Geor­ge Orwells (eigent­lich Eric Arthur Blair), 1984 und Farm der Tie­re, aus, um all­ge­mei­ne Ein­sich­ten zu gewin­nen. Aus erste­rem Werk destil­liert er eine „Theo­rie der Dik­ta­tur“, aus zwei­te­rem, das er für „noch düste­rer“ hält als 1984, eine „Theo­rie der Revolution“.

Onfrays Grund­aus­sa­ge stellt die Euro­päi­sche Uni­on in einen Zusam­men­hang mit Orwells Dystopien:

„Ich stel­le die Hypo­the­se auf, dass das Maas­trich­ter Impe­ri­um eine Gestalt gewor­de­ne Form der tota­li­tä­ren Gesell­schaft ist, die Orwell in die­sem Roman [1984] beschreibt“ (40).

Sieben Gebote zur Errichtung einer Diktatur

Nach­dem Onfray den Inhalt von 1984 kurz dar­ge­stellt hat, for­mu­liert er dar­aus sie­ben Gebo­te zur Errich­tung einer Dik­ta­tur nach Orwell­schem Muster: 

  • die Frei­heit zerstören, 
  • die Spra­che verarmen, 
  • die Wahr­heit abschaffen, 
  • die Geschich­te auslöschen, 
  • die Natur leugnen, 
  • den Haß anheizen, 
  • das Impe­ri­um anstreben.

Die­se Anwei­sun­gen für einen Dik­ta­tor wer­den wie­der­um in Unter­ka­pi­teln prä­zi­siert. Wir sehen sofort die Nutz­an­wen­dung, zumal kurz nach dem Erschei­nen des fran­zö­si­schen Ori­gi­nals die Coro­na-Kam­pa­gne gestar­tet wur­de, die ihrer­seits Züge der Dik­ta­tur zeigt.

Dem Rezen­sen­ten scheint zunächst beson­ders die Zer­stö­rung der Spra­che als für unse­re Zeit cha­rak­te­ri­stisch, die unum­schränk­te Herr­schaft von Phra­sen, Lügen und Dop­pel­denk, die tota­le Ent­kop­pe­lung der Spra­che von der Rea­li­tät. Onfray ver­tei­digt die dem gesun­den Men­schen­ver­stand ent­spre­chen­de Logik und wür­digt sogar – bemer­kens­wert für einen Athe­isten – die intel­lek­tu­el­len Anstren­gun­gen des christ­li­chen „Mit­tel­al­ters“:

„Es gibt eine Kunst des Den­kens, die von mehr als zwei Jahr­tau­sen­den Ent­wick­lung pro­fi­tiert hat. Die sokra­ti­sche Dia­lek­tik, die ari­sto­te­li­sche Logik, die römi­sche Schu­le der Rhe­to­rik, die mit­tel­al­ter­li­che Scho­la­stik, all die­se Bewe­gun­gen haben eini­ge Regeln der Logik ermög­licht. So auch das Prin­zip der Wider­spruchs­frei­heit, wonach, wenn etwas ist, nicht zugleich das Gegen­teil wahr sein kann. (…) Zu den­ken, dass dies gleich­zei­tig mög­lich und eine denk­ba­re logi­sche For­mel sei, ist intel­lek­tu­el­ler Nihi­lis­mus“ (66).

Die bei­den letz­ten Sät­ze des Zitats mögen als Ein­spruch gegen die alles auf­lö­sen­den Denk­mu­ster ost­asia­ti­scher Kul­te auf­ge­faßt wer­den, die sich ja auch rasch in Euro­pa ausbreiten.

Dem Rezen­sen­ten erscheint zwei­tens die Ver­brei­tung von Haß von aktu­el­ler Rele­vanz (208). Das Regime in 1984 setzt den Haß gegen einen (höchst­wahr­schein­lich ima­gi­nä­ren) äuße­ren Feind namens Ema­nu­el Gold­stein ein, um Par­tei und Volk bes­ser zu steu­ern und von rea­len Pro­ble­men im Inne­ren abzu­len­ken. Sofort tre­ten in die­sem Zusam­men­hang Sad­dam Hus­sein, Wla­di­mir Putin, Alex­an­der Lukaschen­ko, Baschar al-Assad, Vik­tor Orbán u. a. ins Bewußt­sein west­li­cher Medi­en­kon­su­men­ten. (Nicht daß die­se Män­ner immer und in jeder Hin­sicht vor­bild­lich waren oder sind, aber sie die­nen der Pro­pa­gan­da als Ziel­schei­ben für ihre eige­nen, auch nicht per se lau­te­ren und vor­bild­li­chen, viel­leicht noch ver­werf­li­che­ren Interessen.)

Michel Onfray zeigt sich in sei­nem Buch als ein schar­fer Ana­ly­ti­ker und ein ori­gi­nel­ler Denker

Dem­sel­ben Zweck dient die För­de­rung des Has­ses nach innen. Er zer­stört die Bezie­hun­gen, unter­mi­niert das Ver­trau­en und macht das Leben zum Vor­ge­schmack der Höl­le. In Zei­ten des Kamp­fes gegen „hate speech“, den die euro­päi­schen Regie­run­gen füh­ren, mag das irrele­vant klin­gen. Das Gegen­teil ist aber der Fall: Denn als „hate speech“ wer­den erfah­rungs­ge­mäß ent­we­der die Ver­kün­di­gung des christ­li­chen Glau­bens und der Gebo­te oder aber wahr­heits­ge­mä­ße Aus­sa­gen zu heik­len The­men dif­fa­miert. Damit wer­den die­je­ni­gen, denen man „Haß­re­de“ vor­wirft, mehr oder weni­ger aus­drück­lich und beab­sich­tigt zu legi­ti­men Zie­len von – Haß.

Drit­tens scheint auch der Umgang des Orwell­schen Regimes mit der Sexua­li­tät eine War­nung für uns Zeit­ge­nos­sen zu sein:

In 1984 för­dert die Par­tei Kam­pa­gnen zur „Keusch­heit“, die aber in Wirk­lich­keit die Zer­stö­rung der Per­son, der men­schen­wür­di­gen Sexua­li­tät und des ehe­li­chen Lebens meint. Gleich­zei­tig wird die Pro­sti­tu­ti­on gedul­det und indi­rekt geför­dert. Der Staat selbst pro­du­ziert dar­über hin­aus por­no­gra­phi­sche Massenliteratur.

Der tota­le Staat ist also bestrebt, „…die Sexua­li­tät zu einem Objekt von Han­del und Kon­sum zu machen; die sexu­el­le Bezie­hung zu vir­tua­li­sie­ren, die Libi­do durch die Por­no­in­du­strie zu zer­stö­ren; das Leben zu hygie­ni­sie­ren, wäh­rend man gleich­zei­tig den Todes­trieb för­dert“ (213).

Die Ableh­nung von Hum­a­nae vitae durch wei­te Tei­le der Chri­sten­heit etwa 20 Jah­re nach Orwells War­nung hat sich als Desa­ster erwie­sen. Die Men­schen sind dadurch nicht glück­li­cher gewor­den. Und sie sind dem social engi­nee­ring der skru­pel­lo­sen Mäch­ti­gen ins Netz gegangen.

Es ist bemer­kens­wert, daß Orwell auch auf die­sem Gebiet (übri­gens etwa zeit­gleich mit C. S. Lewis, Die böse Macht) de fac­to die katho­li­sche Hal­tung unterstützt.

Animal Farm: Kritik der Revolution und des „Fortschritts“

Was in der Farm der Tie­re, einer bis­si­gen Para­bel auf die frü­he Sowjet­uni­on, viel stär­ker als in 1984 zum Aus­druck kommt, ist die frei­wil­li­ge „Kom­pli­zen­schaft“ so vie­ler Men­schen (183). Sie ermög­licht die Kon­trol­le umso bes­ser. Wie wir vor allem wäh­rend der Coro­na-Kam­pa­gne gese­hen haben, set­zen sich viel zu vie­le Men­schen frei­wil­lig und mit gläu­bi­ger Inbrunst der offi­zi­el­len Pro­pa­gan­da aus. Kor­ri­gie­ren­de und wider­spre­chen­de Stim­men wer­den aus­ge­blen­det, Abweich­ler denun­ziert, das Block­war­te­tum blüht.

Und weil Onfray das „Maas­trich­ter Impe­ri­um“ anpran­gert: Hat uns die EU nicht einen rapi­den Ver­fall an Mei­nungs­frei­heit und Selbst­be­stim­mung gebracht? Aber haben die Leu­te die­sem uto­pi­schen Pro­jekt nicht zuge­stimmt (zumin­dest in Öster­reich und Ostmitteleuropa)?

Wie­der­um bemer­kens­wert ist die offe­ne Kri­tik an blin­der Fortschrittsgläubigkeit:

„Der Fort­schritt ist zum Fetisch gewor­den und Fort­schritts­glau­be die Reli­gi­on einer Epo­che ohne Hei­lig­keit, die Hoff­nung einer ver­zwei­fel­ten Zeit, der Glau­be einer Zivi­li­sa­ti­on ohne Glau­ben“ (178).

Nach Onfray sind wir auf dem Weg, vor dem Orwell in sei­nen bei­den Wer­ken warnt, schon weit fortgeschritten.

Onfray als Kritiker der Revolution und der Revolutionen

Onfray kri­ti­siert, und das muß extra her­aus­ge­stri­chen wer­den, die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on vernichtend:

„Doch was hat die Revo­lu­ti­on [von 1789] den ein­fa­chen und beschei­de­nen Men­schen gebracht? Nichts! Sie waren unter der Mon­ar­chie arm und aus­ge­beu­tet und sie blie­ben es auch unter einem repu­bli­ka­ni­schen System!“ (113)

Für jeman­den, der sich als Athe­isten ver­steht, ist fol­gen­der Kom­men­tar bemerkenswert:

„Nach der Revo­lu­ti­on war der katho­li­sche Gott der Mon­ar­chi­sten nicht mehr unum­schränk­ter Herr­scher, denn es war nun das Geld der Bour­geoi­sie, das sei­nen Platz ein­nahm. Wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on hat der Hun­ger der Arbei­ter die Geschäf­te und Besitz­tü­mer der Bour­geoi­sie genährt“ (113).

Ableh­nend steht Onfray auch der Rus­si­schen Revo­lu­ti­on gegen­über. Auch das ist in Zei­ten wie die­sen bemerkenswert.

Schließ­lich weist er auf das Phä­no­men hin, daß ehe­ma­li­ge Revo­lu­tio­nä­re (unter ihnen Stei­ne­wer­fer) im Frank­reich der 60er Jah­re wie Dani­el Cohn-Ben­dit und Ber­nard-Hen­ri Lévy nun­mehr auf die Sei­te des Estab­lish­ments und der Poli­zei gewech­selt sind und die „Gelb­we­sten“ (offen­bar tat­säch­lich eine nicht von oben initi­ier­te und gesteu­er­te Pro­test­be­we­gung gegen Öko-Wahn und Steu­er­dik­ta­tur) beschimpfen.

In die­sem Zusam­men­hang zitiert Onfray Geor­ge Orwell, daß eine Revo­lu­ti­on im Prin­zip frü­her oder spä­ter die­sel­ben Zustän­de her­stellt, die sie bekämpft hat (112).

Mária Schmidt: eine Stimme aus der politischen Praxis

Der Ver­le­ger hat­te die aus­ge­spro­chen glück­li­che Ein­ge­bung, die Direk­to­rin des Muse­ums „Haus des Terrors/​Terror Háza“ in Buda­pest und Bera­te­rin von Mini­ster­prä­si­dent Vik­tor Orbán für die deut­sche Aus­ga­be um ein Vor­wort zu bit­ten. Die­ses Vor­wort mit sei­nen Ein­sich­ten in den Zusam­men­hang von poli­ti­scher Theo­rie und all­täg­li­cher poli­ti­scher Pra­xis erhöht den Wert des vor­lie­gen­den Buches noch einmal.

Unter dem Titel „Euro­pas Hybris“ schreibt die habi­li­tier­te Histo­ri­ke­rin eingangs:

„Der katho­li­sche Phi­lo­soph Tamás Molnár hat mich, die ich von der gera­de gewon­ne­nen Frei­heit noch benom­men war und dach­te, mit dem Kom­mu­nis­mus sei es nun end­gül­tig vor­bei, vor drei Jahr­zehn­ten zurecht­ge­wie­sen: ‚Der Kom­mu­nis­mus hat zwar 1990 eine bedeu­ten­de Nie­der­la­ge erlit­ten, er ist jedoch weder alt­mo­disch noch unglaub­wür­dig gewor­den. Er hat ein­fach sei­ne Hei­mat gewech­selt und ist von der Sowjet­uni­on nach Ame­ri­ka gezo­gen.‘“ (7)

Zu den Aus­füh­run­gen Onfrays selbst kom­men­tiert sie:

„Der Autor zeigt, wie die suk­zes­si­ve Auf­he­bung der Mei­nungs­frei­heit, die Ver­ar­mung der Spra­che, die Ver­höh­nung der Wahr­heit, die Aus­lö­schung der Geschich­te bzw. der Ver­gan­gen­heit, die Leug­nung der Natur­ge­set­ze und die unse­ren All­tag durch­drin­gen­de Angst uns zum Kon­for­mis­mus zwin­gen und die ein­sti­ge freie Welt in ein Land des Has­ses zu ver­än­dern begin­nen. ‚Die alten Zivi­li­sa­tio­nen behaup­te­ten, auf Lie­be und Gerech­tig­keit gegrün­det zu sein. Unse­re ist auf Haß gegrün­det‘, schrieb Orwell in 1984 pro­phe­tisch“ (9).

Schmidt mach­te die für sie über­ra­schen­de Ent­deckung, daß Geor­ge Orwell in maß­geb­li­chen west­li­chen Krei­sen eben­so­we­nig wohl­ge­lit­ten ist wie jeg­li­cher Anti­to­ta­li­ta­ris­mus, der auch den Kom­mu­nis­mus ableh­nen muß:

„Als das Buda­pe­ster Muse­um Haus des Ter­rors im Jahr 2003 Orwells zu sei­nem hun­dert­sten Geburts­tag mit Aus­stel­lun­gen, Büchern, Kon­fe­ren­zen gedach­te, waren wir ver­blüfft und befrem­det über die feind­li­che Ein­stel­lung der Bri­ten. Ihre poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Ver­tre­tung war nicht nur bei unse­ren Ver­an­stal­tun­gen nicht prä­sent, son­dern sie riet uns sogar von die­sen ab. Da habe ich ver­stan­den, dass Orwell ein Sta­chel im Fleisch nicht nur der Kom­mu­ni­sten, son­dern auch der west­li­chen, soge­nann­ten Fort­schritt­li­chen ist“ (10).

Frau Schmidt war Sti­pen­dia­tin der Open Socie­ty Foun­da­ti­ons von Geor­ge Sor­os und kennt daher die Denk­wei­se der libe­ra­len, inter­na­tio­na­li­sti­schen Eli­ten. Von daher wird man ihrer Stim­me beson­de­res Gewicht zuer­ken­nen müssen.

Resümee

Die Ana­ly­sen Onfrays zu Orwell sind kla­rer­wei­se ein Augen­öff­ner für tota­li­tä­re Vor­gän­ge, die sich – das wis­sen wir beson­ders aus der Coro­na-Kam­pa­gne – als „phil­an­thro­pisch“ tarnen.

Kri­tisch sehen könn­te man die Tat­sa­che, daß Onfray – ent­ge­gen den Erwar­tun­gen, die der Titel weckt – kei­ne voll­stän­di­ge Geschich­te und Theo­rie der Dik­ta­tur vorlegt.

Onfray kommt trotz sei­nes andern­orts offen bekann­ten Athe­is­mus immer wie­der auf das Chri­sten­tum zu spre­chen, dem er für den Auf­bau der abend­län­di­schen poli­ti­schen Kul­tur und ihrer Errun­gen­schaf­ten posi­ti­ven Ein­fluß zuer­kennt. Lei­der geht er dabei nicht weit genug. Bedau­er­lich ist auch die unglück­li­che Rede von der „jüdisch-christ­li­chen Zivi­li­sa­ti­on“ (etwa 27). Ein Phi­lo­soph müß­te wis­sen, daß das eine das ande­re ausschließt.

Die Ein­rei­hung von Gene­ral Fran­co in eine Rei­he mit Lenin, Sta­lin, Trotz­ki, Hit­ler und Mus­so­li­ni ist histo­risch falsch und tut ihm Unrecht (149). Hier hat Onfray eine Chan­ce ver­tan, die bei­den bedeu­ten­den Ibe­rer Fran­cis­co Fran­co und Anto­nio Oli­vei­ra de Sala­zar als Modell einer auto­ri­tä­ren Herr­schaft zu the­ma­ti­sie­ren (even­tu­ell im Rück­griff auf Juan Dono­so Cor­tés), die in chao­ti­schen Zei­ten Schlim­me­res, und zwar viel Schlim­me­res, ver­hin­dern kann.

Fol­gen­des Zitat ist cha­rak­te­ri­stisch für die manch­mal bemerk­ba­re Wider­sprüch­lich­keit in Onfrays Denken:

„Erin­nern wir uns, dass das Chri­sten­tum auch immer ein Inter­es­se dar­an hat­te, die Mas­sen zu unter­rich­ten, Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten zu eröff­nen, jedoch um Schü­ler und Stu­den­ten bes­ser indok­tri­nie­ren zu kön­nen. Dabei soll­te aber eben­so nicht ver­ges­sen wer­den, dass auch in einem Regime der libe­ra­len Tyran­nei die Indok­tri­na­ti­on die glei­chen Wege geht…“ (158).

„Das Chri­sten­tum“ „indok­tri­niert“ nicht, die Kir­che stell­te aber im „fin­ste­ren Mit­tel­al­ter“ alle intel­lek­tu­el­len und phy­si­schen Grund­la­gen her, näm­lich Rezep­ti­on der anti­ken Phi­lo­so­phie, Erschaf­fung der Uni­ver­si­tä­ten, För­de­rung der Per­son im Geist Jesu Chri­sti, auf denen sich heu­te die „libe­ra­le Tyran­nei“ aus­to­ben zu müs­sen glaubt. –

Unter dem Strich bleibt ein sehr gut gear­bei­te­tes, dich­tes und anspruchs­vol­les Buch, das vie­le Vor­gän­ge der Gegen­wart erklä­ren und demas­kie­ren wird können.

Der Rezen­sent schließt sich dem Klap­pen­text des Ver­le­gers an: 

„Noch ist die Pra­xis der Dik­ta­tur nicht voll­ends eta­bliert. Noch bleibt Zeit zum – Widerstand!“

Und wie auch immer Michel Onfray es mit Gott hal­ten mag, dem Rezen­sen­ten kam ange­sichts eines mit schar­fem Ver­stand und bren­nen­dem Herz ver­faß­ten Buches immer wie­der ein Wort der Schrift in den Sinn:

„Jesus sah, daß er mit Ver­ständ­nis geant­wor­tet hat­te, und sag­te zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Got­tes“ (Mk 12,34).

P. S.: Historische Darstellungen außerhalb des Hauptstroms

Der Jun­g­eu­ro­pa-Ver­lag ver­öf­fent­lich­te im Jahr 2017 die auf die­ser Sei­te schon emp­foh­le­ne Novel­le Die Kadet­ten des Alcá­zar. Dort ging es um den heroi­schen Wider­stand spa­ni­scher Mili­tärs und Zivi­li­sten in der Mili­tär­aka­de­mie von Tole­do gegen eine Über­macht bol­sche­wi­sti­scher Ter­ro­ri­sten am Beginn des Spa­ni­schen Bür­ger­kriegs 1936. Ganz aktu­ell brach­te der Ver­lag nun auch die Novel­le Waf­fen­brü­der des fin­ni­schen Autors Vil­jo Sara­ja her­aus, die sozu­sa­gen das fin­ni­sche Pen­dant zum Alcá­zar dar­stellt, näm­lich die trotz hoher Ver­lu­ste an Leben und Ter­ri­to­ri­um erfolg­rei­che Abwehr des sowje­ti­schen Über­falls auf Finn­land im soge­nann­ten „Win­ter­krieg“ von 1939/​40. Dort waren es die Fin­nen, gläu­bi­ge pro­te­stan­ti­sche Chri­sten, die der kom­mu­ni­stisch-athe­isti­schen Welt­re­vo­lu­ti­on Wider­stand lei­ste­ten. Nach Sara­ja griff die Rote Armee mit Vor­lie­be zivi­le Zie­le und medi­zi­ni­sche Ein­rich­tun­gen an. Auch das zeigt die sata­ni­sche Inspi­ra­ti­on der Revo­lu­ti­on. Bei­de Vor­gän­ge sind heut­zu­ta­ge unter Katho­li­ken kaum bekannt. Da aber der­je­ni­ge, der die Ver­gan­gen­heit kon­trol­liert, auch die Gegen­wart und die Zukunft kon­trol­lie­ren wird, sind gründ­li­che Geschichts­kennt­nis­se von gewis­ser Bedeu­tung für die Erhal­tung oder Wie­der­her­stel­lung einer Atmo­sphä­re der Frei­heit. Somit wird man, der Logik von Geor­ge Orwell und Michel Onfray fol­gend, zur histo­ri­schen Bil­dung auf­ru­fen und damit auch die bei­den genann­ten Novel­len emp­feh­len müssen.

Michel Onfray, Theo­rie der Dik­ta­tur, aus dem Fran­zö­si­schen von Loui­se Feldt, mit einem Vor­wort von Mária Schmidt, Jun­g­eu­ro­pa-Ver­lag, Dres­den 2021, 221 S.

*Wolf­ram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Kate­chist, Pro-Lifer, poli­tisch inter­es­siert, meta­po­li­tisch tätig, ungläu­big gegen­über den Hauptstrommedien.

Bild: Wiki­com­mons

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