Es geht nicht um den langen „Marsch durch die Institutionen“, der von den Neomarxisten nach 1968 erfolgreich beschritten wurde, sondern um einen langen „Marsch Richtung Heidentum“, so der Wirtschaftswissenschaftler, Finanzethiker und ehemalige Präsident der Vatikanbank IOR Ettore Gotti Tedeschi in einem gestern von der italienischen Tageszeitung La Verità veröffentlichten Aufsatz.
Der lange Marsch Richtung Heidentum
Von Ettore Gotti Tedeschi
Dank des Chaos mit der Pandemie und deren Folgen scheint sich ein neuer „Überraschungs-Humanismus“ anzubahnen. Es ist offensichtlich, daß in diesem ökonomischen, sozialen, politischen und moralischen Chaos das Fehlen einer globalen Führung spürbar wird. Daher kann derzeit alles passieren. Die Gefahr besteht, daß ein neuer „Überraschungs-Humanismus“ aufgezwungen wird, der von wenigen beschlossen und von vielen im Geist der Versöhnung angenommen wird. Wir befinden uns heute in einer Phase, die lautstark nach „Versöhnung“ verlangt, um die gemeinsamen und globalen Probleme zu lösen. Die Versöhnung wird sich als ökonomische, soziale, politische, ökologische, technologische Lösungen tarnen, in Wirklichkeit aber vor allem eine moralische Versöhnung sein, weil sie Auswirkungen auf das Sein des Menschen als Geschöpf und auf die Schöpfung haben wird.
Wir alle scheinen verwirrt und fühlen uns verunsichert, doch nicht alle sind es wirklich. Wegen der mysteriösen Pandemie und der nicht minder mysteriösen staatlichen und kirchlichen Reaktion darauf fühlen wir uns ohnmächtig angesichts von Szenarien, die wir erdulden müssen, und solchen, die uns noch zu erwarten scheinen. Während die Menschen der Eindruck plagt, die Orientierung verloren zu haben, besteht der Verdacht, daß jemand den Kompaß in der Hand hält und sehr genau weiß, wohin wir geführt werden sollen.
In dieser Situation sind Entscheidungen schnell zu treffen, und das auf globaler Ebene, gewiß. Dennoch ist es notwendig, daß die Allgemeinheit von diesen Entscheidungen weiß und sie in ihren ökonomischen, sozialen, politischen, moralischen Konsequenzen versteht. Wir riskieren, daß sie uns aufgezwungen werden, ohne daß wir sie verstanden oder auch nur erkannt haben. Das ist allerdings keine große Neuheit. Es bleibt uns zumindest das Recht, irritiert und empört zu sein, und das auch zu Papier zu bringen (wie es an dieser Stelle geschieht). Es drängt sich nämlich wieder einmal der Eindruck auf, daß jemand dabei ist, Fehler korrigieren und Probleme lösen zu wollen, ohne an die Gründe und Ursachen zu denken und damit Gefahr zu laufen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Daher ist die Annahme legitim, daß genau diese Fehler das angestrebte Ziel sind.
Wir sollten also beunruhigt sein, denn das, was auf dem Spiel steht, ist das menschliche Leben selbst, von der Handbremse bei der Geburtenrate bis zur Reduzierung einer überschüssigen Bevölkerung. Dieses Mal geht es aber nicht mehr nur um den Westen, sondern um die ganze Welt.
In dieser zweiten Phase der „globalen Lösung“ der Bevölkerungsfrage habe ich den Eindruck, daß es sogar über den Malthusianismus hinausgeht, der den Entscheidungen zugrundelag, die seit den 60er Jahren auf den Einbruch der Geburtenrate im Westen abzielten. Mir drängt sich der Eindruck auf, daß der heutigen Phase weniger das Denken von Thomas Malthus zugrundeliegt, sondern das der für alle akzeptablen Naturreligion von John Locke, die Ökologie, ergänzt durch die Wertschätzung von David Hume für die heidnischen Religionen, die beispielgebend für den Respekt vor der Natur und für die Toleranz seien. Sie werden der Intoleranz und dem Fanatismus der monotheistischen Religionen entgegengesetzt. Die heidnische Ökologie als universale Weltreligion. Ist das der neue Überraschungs-Humanismus? Das wird von den Entscheidungen jener abhängen, die die Macht haben.
Die Prämissen für den „Great Reset“, den die Mächtigen anstreben, kündigen, wie immer in der jüngeren Geschichte, utopistische Programme an. Was die gesamte Welt brauche, um die Krise zu überwinden, sei ein wiederhergestelltes sozioökonomisches Gleichgewicht, das Ungleichheit und egoistische Souveränitätsbestrebungen austilgt und die Gefahren sozialer Spannungen bannt, so heißt es. Kurioserweise konzentriert sich auch hier die Aufmerksamkeit auf die selbst verursachte zu hohe Überalterung der Bevölkerung und ihre sozialen und ökonomischen Auswirkungen (wobei die Ursachen dafür konsequent ignoriert werden). Gleichzeitig wird an der Notwendigkeit eines Bevölkerungsrückgangs festgehalten (der diesmal global sein soll, andernfalls werden – so die im Raum stehende Ankündigung – weitere Pandemien folgen). Vor allem wird der Widerspruch zwischen diesen beiden globalen strategischen Entscheidungen mißachtet. Der aristotelische Syllogismus wurde in unserer Zeit durch die unlogische Logik des politisch korrekten Denkens ersetzt.
Offenbar wurden die strategischen Grundlagen der zukünftigen Welt bereits identifiziert: Sie werden (vor allem) digital und green sein. Beide Aspekte enthalten wohlverborgen die Bevölkerungsfrage. Der erste, die Digitalisierung (Technologie und künstliche Intelligenz), bedarf mit Sicherheit keines Bevölkerungswachstums, vielmehr soll sie diese ersetzen. Der zweite (der Umweltschutz) „leidet“ geradezu unter der Anwesenheit des Menschen, der angeblich ein Krebsgeschwür für die Natur ist.
Und da finden wir nun die Überraschung.
Was man vorzubereiten scheint im Namen der utopistischen Parolen der „offenen Gesellschaft“ von Karl Popper (das Ende von Ungleichheit, das Ende von Diskriminierung, das Ende egoistischer Souveränitätsbestrebungen, das Ende dogmatischer Autoritarismen) ist ein neuer digitaler und ökologischer Humanismus, der zunächst dazu führen wird, daß der Ökologismus Eingang in die Verfassung findet.
Und das geschieht mit der offensichtlichen Zustimmung der moralischen Autorität, der Kirche, die bereits eine neue „ökologische Theologie“ vorbereitet zu haben scheint, um damit die Soziallehre der Kirche zu ersetzen. Doch nur wenige scheinen sich um das menschliche Leben zu sorgen, das einmal, selbst dem angeblich so finsteren Mittelalter, als heilig galt.
Heute zählt es weniger, so wenig, daß ein Mensch eliminiert werden kann. Die Gefahr rückt näher, daß dank dieses neuen „Überraschungs-Humanismus“ bald einige Menschen nicht nur eliminiert werden können, sondern gemäß Verfassung und Moralgesetz zu eliminieren sein werden.
Ist das die Next Civilization? Wenn ja, schaut die Zukunft düster aus.
Bild: Titelbild des Buches „Die globale Revolution für einen neuen Humanismus“ (Screenshot)/CR