(Rom) Die von Erzbischof Carlo Maria Viganò losgetretene Debatte über eine Revision des Zweiten Vatikanischen Konzils findet viel Aufmerksamkeit. Sie bewegt Katholiken, die ihren Glauben ernstnehmen und mit ihrer Kirche leben und leiden. Zu Wort meldete sich auch der Journalist und Vatikanist Americo Mascarucci, Autor von zwei Büchern über das Pontifikat von Papst Franziskus. 2018 erschien „Die Revolution von Papst Franziskus. Wie sich die Kirche von Don Milani zu Luther wandelt“[1] und 2019 ein Buch über die Veränderungen in der Italienischen Bischofskonferenz (CEI) „Die Kirche in der Politik. Wie sich die CEI von Ruini zu Papst Franziskus verändert hat“[2] Marco Tosatti veröffentlichte die Stellungnahme des Kollegen zum Vorschlag von Erzbischof Viganò.
Nach einer kurzen Einleitung, „ich bin kein Theologe“, sondern „ein einfacher Journalist, der sich leidenschaftlich für vatikanische Dinge interessiert“, kommt Mascarucci gleich zur Sache.
„Der Historiker Roberto de Mattei widerlegte in seinem Buch „Das Zweite Vatikanische Konzil: Eine bislang ungeschriebene Geschichte“ die These von der Hermeneutik der Kontinuität, die sowohl Wojtyla als auch Ratzinger so sehr am Herzen lag, und erbrachte den Nachweis, daß es unmöglich ist, das Konzil von den Irrtümern zu trennen, die auf dieses folgten. (…) Heute scheint die These von de Mattei angesichts bestimmter Verhaltensweisen, die für das derzeitige Pontifikat typisch sind, offenkundig Gestalt anzunehmen, und das genau dort, wo das Konzil zum Dach für bestimmte, zumindest fragwürdige Positionen wird, die zurückgeholt werden sollen.“
Papst Franziskus sei „vielleicht das beste Beispiel dafür, wie das II. Vaticanum – weit davon entfernt, sich im Zeichen der Kontinuität erneuern zu wollen – vielmehr das Ereignis war, das der katholischen Kirche als der einzigen Kirche Christi in apostolischer Kontinuität ein Ende setzte, der einen und einzigen Kirche, in der das Heil liegt.“
Die These des Theologen und Philosophen Karl Rahner, so Mascarucci, „eines großen Unterstützers des Konzils als Bruch mit der Tradition“, laut dem nicht die Zugehörigkeit zur Kirche das Heil garantiert, sondern das gerechte und auf das Gute ausgerichtete Gewissen die Menschen Gott nahebringt, auch wenn sie nicht an ihn glauben (die Theorie des ‚anonymen Christen‘), „scheint heute der Leitstern zu sein, an dem sich der derzeitige Papst orientiert“.
„Es ist kein Zufall, daß er mehr von Atheisten als von praktizierenden Katholiken beklatscht und gelobt wird, und daß er nie ein Geheimnis daraus gemacht hat, eine größere Affinität zu bestimmten Ungläubigen wie Eugenio Scalfari zu haben als zu den sogenannten traditionalistischen Katholiken.“
Wenn es also nicht möglich ist, die Irrtümer vom Konzil zu trennen, „dann ist es auch nicht möglich, zu glauben, daß das Schisma des Isolotto, das sich im „katho-kommunistischen Florenz“, das sich um die Ideen von Giorgio La Pira sammelte, entwickelte, das Ergebnis einer falschen Interpretation des Konzilsgeistes war“.
Der Hinweis verlangt einen kleinen Exkurs.
Das Schisma des Isolotto
Das Schisma des Isolotto von 1968 meint den Konflikt zwischen dem Pfarrer des Florentiner Stadtteils Isolotto, Don Enzo Mazzi, und seinem Erzbischof. Don Mazzi, ein „Arbeiterpriester“, der mit Kommunisten und Sozialisten mehr gemeinsam zu haben schien als mit den Christdemokraten, verfolgte seinen eigenen Kurs. Diesen begründete er mit dem Ziel, die „Trennlinien zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen Guten und Schlechten, zwischen Priestern und Laien, zwischen Sakralem und Profanem, zwischen den Parteien überwinden“ zu wollen. Eigenmächtig nahm er Änderungen an der Liturgie vor, indem er die Volkssprache einführte und Richtung Volk zelebrierte. Unterstützt wurde er vom damaligen linkskatholischen Bürgermeister von Florenz, Giorgio La Pira, dessen Seligsprechungsverfahren Papst Franziskus durch die Zuerkennung des heroischen Tugendgrades unterstützt.
Don Mazzi machte aus seinen politischen Präferenzen kein Hehl, indem er sich zu allen Themen engagierte, die der orthodoxen und der nicht orthodoxen Linken damals von Bedeutung waren: Er demonstrierte gegen die amerikanische Präsenz in Vietnam, solidarisierte sich mit den Schwarzen in den USA und unterstützte eine Gruppe von Studenten der Katholischen Universität von Mailand, die im September 1968 im Zuge der Studentenproteste den Dom von Parma besetzte. Während Papst Paul VI. die Aktion verurteilte, solidarisierte sich Don Mazzi mit den Studenten. Als er eine „basisdemokratische“ Versammlung seiner Pfarrei abhielt, obwohl sein Erzbischof diese verboten hatte, setzte ihn dieser als Pfarrer ab.
Don Mazzi wich jedoch nicht, sondern gründete im Stadtteil Isolotto als Ersatz für die entzogene Pfarrei eine „Basisgemeinschaft“, die zum Vorbild der Basisgemeinden in Europa wurde. Das war das Schisma. 1974 wurde er a divinis suspendiert und durfte sein Priestertum nicht mehr ausüben. Kurz darauf erfolgte seine Rückversetzung in den Laienstand. Obwohl die Basisgemeinschaft von der Kirche nicht anerkannt war, wurde sie von gleichgesinnten Priestern aus aller Welt besucht, die dort zelebrierten. Don Enzo Mazzi war einer jener zahlreichen Akteure der Nachkriegszeit, die sich um die Zusammenführung von Christentum und Sozialismus bemühten. Eine Quadratur des Kreises, die permanent scheitern mußte.
Mazzi selbst wurde ständiger Kolumnist der linken Tageszeitung La Repubblica von Eugenio Scalfari und der kommunistischen Tageszeitung Il Manifesto. Dort erschien 2010 auch sein letztes Buch mit dem Titel „Der Wert der Häresie“[3]. 2011 starb Mazzi im Alter von 84 Jahren. Gemäß seiner letzten Verfügung wurde sein Leichnam verbrannt.
Damit zurück zu den Ausführungen von Mascarucci.
Er zeigt insgesamt auf, daß das Engagement vieler Katholiken an der Seite der Kommunistischen Partei oder die Unterstützung der Scheidung beim Referendum 1974 durch namhafte Priester und Theologen nicht das Ergebnis einer „falschen Interpretation“ des Konzils war. Ebensowenig gehe der „Fall Lercaro“ auf eine „Fehlinterpretation“ zurück, als Giacomo Kardinal Lercaro, von 1952 bis 1968 Erzbischof von Bologna und einer der vier Konzilsmoderatoren, „mitten im Kalten Krieg seine berühmte Predigt gegen den Vietnamkrieg und den amerikanischen Imperialismus hielt, während die Kommunisten die Aufstände in den Ländern Osteuropas im Blut ertränkten und Priester und Ordensleute einsperrten, folterten und umbrachten“.
Das Zweite Vaticanum wurde durch regelrechte Sabotageaktionen manipuliert
Erzbischof Viganò habe es richtig aufgezeigt:
„Das Zweite Vatikanische Konzil wurde in Wirklichkeit durch regelrechte Sabotageaktionen manipuliert, die, innerhalb und außerhalb, richtige Zentralen der Konspiration am Werk sahen. Unter diesen verdient vor allem eine Organisation namens Opus Angeli Aufmerksamkeit, zu dessen Hauptinitiatoren der ultraprogressive belgische Kardinal Léon-Joseph Suenens und der brasilianische Bischof Helder Camara, einer der wichtigsten Vertreter der von Franziskus oft gelobten Befreiungstheologie, gehörten.“
Diese versuchten „mit Unterstützung mächtiger Medien, die Konzilsarbeiten und vor allem das Endergebnis zu beeinflussen.
„Obwohl sie damit scheiterten, daß das Konzil ihre Bürgerrechtsagenda, die Abschaffung des priesterlichen Zölibats, die Öffnung für das Frauenpriestertum und die Änderung der Sexualmoral durch Zulassung von künstlichen Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle durch die Staaten genehmigt hätte, waren sie sehr geschickt darin, das klare Wasser zu trüben, die Inhalte zu verwirren und die Texte zu verunreinigen, sodaß einer freien und zweideutigen Auslegung der Konzilsdokumente und der Glaubenslehre nach einem modernistischen Schlüssel Tür und Tor geöffnet wurde, die zur Grundlage für die auf das Konzil folgenden Irrtümer wurde.“
Papst Johannes Paul II. habe viele der Fehlentwicklungen erkannt und sich tatkräftig, teils sogar mutig darum bemüht, das Konzil in seiner Wahrnehmung und Wirkung auf den richtigen Weg zu bringen. Dabei wurde er unermüdlich von Kardinal Joseph Ratzinger, seinem Glaubenspräfekten, unterstützt.
„Doch auch er wurde in einigen auftretenden Fragen in die Irre geführt, vielleicht weil er der erste ausländische Papst inmitten einer vatikanischen Kurie war, die noch vollständig von Italienern, den Erben der Montini-Ära, kontrolliert wurde, die selbst vielfach mit der Konzilszeit und ihren Irrtümern verbunden waren.“
Anders, so Mascarucci, läßt sich die harte Linie, die gegen Erzbischof Marcel Lefebvre, den großen Konzilskritiker, und die von ihm gegründete Priesterbruderschaft St. Pius X. eingenommen wurde, nicht erklären. Eine Linie, die von Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli (1914–1998) und seinem Ziehsohn Achille Kardinal Silvestrini (1923–2019) auch nach dem Tod Pauls VI. energisch vertreten wurde, so wie auch beide einflußreiche Verfechter der Ostpolitik und ihrer Annäherung der Kirche an die Sowjetunion und den kommunistischen Ostblock waren.
„Erzbischof Lefebvre wurde 1988 exkommuniziert, wie es die am weitesten links stehenden Sektoren der Römischen Kurie gefordert hatten, obwohl Kardinal Ratzinger sich dagegen ausgesprochen hatte.“
Der französische Erzbischof habe jedoch laut Meinung der genannten Sektoren gerade deshalb bestraft werden müssen, „weil er mit der größten Entschlossenheit die fehlende Kontinuität des Zweiten Vatikanischen Konzils anprangerte“.
Johannes Paul II. konnte auch den „Geist von Assisi“ und andere Exzesse nicht vollständig eindämmen, „wie es selbst sein Freund und großer Bewunderer Vittorio Messori wiederholt beklagte“.
„Messori war es, der inakzeptable Episoden beim Weltfriedenstag, der am 27. Oktober 1986 in Assisi in Anwesenheit von Vertretern aller Weltreligionen stattfand, wie heidnische Riten in der Basilika des heiligen Franziskus, Hühner, die auf dem Altar der Basilika der heiligen Klara geschlachtet wurden, esoterische Tänze und anderes mehr, anprangerte, Exzesse, die selbst der Aufmerksamkeit von Kardinal Ratzinger entgangen waren, der in den Tagen zuvor energisch interveniert hatte, um andere fragwürdige und sakrilegische Initiativen zu verhindern.“
Der deutsche Einfluß auf die Kirche
Mascarucci folgert aus der Entwicklung:
„All das hat den Grundstein für diese Ökumene gelegt, die – weit davon entfernt, im Zeichen des Dialogs ein Verhältnis des gegenseitigen Respekts zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen zu fördern – dazu führte, die Idee einer Welteinheitskirche zu legitimieren, den einen und gleichen Gott für alle, für einen Menschen, der fast völlig frei ist, sich die Kirche zu wählen, die seinen Vorlieben am besten entspricht, da es ausreiche, an den einzigen Gott zu glauben, um unabhängig von der Taufe Erlösung zu finden.
Eine Idee, die sich in den Jahren seit dem Ende der Ratzinger-Ära, die vom Versuch Benedikts XVI. geprägt war, durch eine Bekräftigung der Hermeneutik der Kontinuität den Projekten des deutschen Episkopats entgegenzutreten, die auf Ideen des Theologen Hans Küng zurückgehen, den Bruch mit der Tradition besonders in den ethischen Fragen und der Unabhängigkeit der nationalen Bischofskonferenzen von Rom zu beschleunigen. Unter Bergoglio fallen diese Projekte dank des Einflusses, den der deutsche Kardinal Walter Kasper, Stichwortgeber für die Familiensynode und die Öffnungen gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen, wilden Ehen und Homo-Verbindungen, auf den derzeitigen Papst ausübt, auf fruchtbaren Boden. Auf Kasper geht auch die Förderung von immer engeren Beziehungen mit der lutherischen und der protestantischen Welt insgesamt zurück.“
Die Amazonassynode sei die logische Konsequenz einer Politik gewesen, „die darauf abzielt, den Triumph des Synkretismus im Namen des einzigen Gottes einer Welteinheitsreligion zu bekräftigen“. Dieser könne als solcher „unter jeder Form, jedem Symbol und jeder Gottheit, ob christlich oder heidnisch, anerkannt und verehrt werden“.
Das Ergebnis sei eine katholische Kirche, „die trotz gegenteiliger Beteuerungen zu einer bloßen Agentur zur Förderung des Guten reduziert ist, einer Art NGO, die einzig zu Unterstützung, Solidarität und Gastfreundschaft ohne jeden Bekehrungszweck ermächtigt ist, ja vielmehr daran interessiert ist, den Glauben dem Projekt des planetarischen Globalismus zu unterwerfen. Nur so erklärt sich der in der Kirche rezitierte Koran zum Zeichen des Respekts für muslimische Migranten, die im Namen des universalen Soros-Gutmenschentums willkommen geheißen werden.“
Erzbischof Viganò habe daher recht, so Mascarucci:
„Die Zeit ist gekommen, über das Zweite Vatikanische Konzil und die von ihm hervorgebrachten Früchte zu diskutieren in der Hoffnung, daß der künftige Papst sich die Bitte einer tiefgreifenden Überarbeitung im Zeichen des einzig wahren Glaubens, des einzig wahren Evangeliums, des einzig wahren Lehramtes und des einzig wahren menschgewordenen Wortes, Jesus Christus, des Sohnes Gottes, der zum Heil der Menschheit fleischgewordene Gott, zu eigen macht.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Vatican.va (Screenshot)
[1] Americo Mascarucci: La rivoluzione di Papa Francesco. Come cambia la Chiesa da don Milani a Lutero, Historica Edizioni, Cesena 2018.
[2] Americo Mascarucci: La Chiesa nella politica. Come è cambiata la CEI da Ruini a papa Francesco, Historica Edizioni, Cesena 2019.
[3] Enzo Mazzi: Il valore dell’eresia, ManifestoLibri, Rom 2010.