(Rom) Am vergangenen Freitag, dem 29. Mai, wurde Kardinal Philippe Barbarin von Papst Franziskus empfangen. Es war die erste Begegnung zwischen dem Kirchenoberhaupt und dem Purpurträger seit dessen Freispruch vor Gericht, wo er angeklagt war, Fälle von sexuellem Mißbrauch durch einen inzwischen laisierten Priester vertuscht zu haben. Es handelte sich dabei nicht um eine Audienz für den Kardinal. Auch der zweite freigesprochene Kardinal, der Australier George Pell, wartet darauf von Franziskus empfangen und damit rehabilitiert zu werden. Weder im einen noch im anderen Fall scheint das von Rom aber vorgesehen und gewünscht zu sein.
Zwei Kardinäle wurden bisher im Zusammenhang mit dem sexuellen Mißbrauchsskandal vor Gericht gestellt: Kardinal Barbarin wegen Vertuschung und Kardinal Pell wegen sexuellen Mißbrauchs. Eine beispiellose Situation in der Geschichte des Strafrechts. Beide wurden nach mehrjährigen Verfahren und medialer Vorverurteilung freigesprochen. Die Haltung von Papst Franziskus gegenüber beiden blieb ambivalent. Auch nach den Freisprüchen kam es nicht zu einer direkten Audienz, die ein sichtbares Zeichen ihrer Rehabilitierung wäre.
Keine Rückkehr trotz Freispruch I
Kardinal Philippe Barbarin, Jahrgang 1950, wurde 1977 für das Bistum Créteil, ein Suffraganbistum des Erzbistums von Paris, zum Priester geweiht. Bis 1994 war er in der Pfarrseelsorge tätig und ging dann für vier Jahre als fidei donum nach Madagaskar, wo er unter anderem am Priesterseminar in Fianarantsoa Theologie lehrte. 1998 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Moulins und 2002 zum Erzbischof von Lyon, der zugleich Primas von Gallien ist. Im Oktober 2003 folgte die Kreierung zum Kardinal. Seine römische Titelkirche ist die berühmte Dreifaltigkeitskirche Santissima Trinità dei Monti am oberen Ende der Spanischen Treppe. Mehrfach nahm er am Marsch für das Leben teil, der seit 2005 in Paris abgehalten wird. Die Ausbildung am Priesterseminar von Lyon baute er birituell um. Die Seminaristen werden seit 2010 in beiden Formen des Römischen Ritus ausgebildet, sowohl in der sogenannten ordentlichen Form (Novus Ordo) als auch in der überlieferten Form, wie sie bis zur Liturgiereform vor 50 Jahren galt. Der Kardinal, der sich seit den 90er Jahren um den christlich-islamischen Dialog bemühte, versuchte den in der islamischen Welt verfolgten Christen eine Stimme zu geben. Deshalb besuchte er Tibhirine in Algerien, wo 1996 mehrere Trappistenmönche ermordet wurden, und christliche Flüchtlinge im Irak.
Die vergangenen fünf Jahre waren überschattet vom Mißbrauchsskandal des inzwischen laisierten Priesters Bernard Preynat. Im kirchenfeindlichen Klima der sozialistischen Regierung von François Hollande (PS) wurde versucht, den Mißbrauchsskandal für einen Angriff gegen die katholische Kirche zu instrumentalisieren und in der Person des Kardinals die Kirche vor Gericht zu stellen. Ihm wurde als Erzbischof zur Last gelegt, die Mißbrauchsfälle des Priesters nicht zur Anzeige gebracht zu haben. Die Vorermittlungen, die Anklageerhebung und das Gerichtsverfahren bedeuteten eine mehrjährige mediale, teils aggressive Vorverurteilung. Am 7. März 2019 wurde der Kardinal schuldig gesprochen und zu sechs Monaten bedingter Freiheitsstrafe verurteilt. Die Schuld nicht nur des Erzbischofs, sondern der ganzen Kirche und ihres Klerus galt in der veröffentlichten Meinung als erwiesen.
Die Verurteilung wurde zum Mühlstein für den Primas von Gallien, obwohl kein rechtskräftiges Urteil vorlag. Am 18. März 2019 wurde Kardinal Barbarin von Papst Franziskus in Audienz empfangen. Um Gelegenheit zu erhalten, mit dem Kirchenoberhaupt die Lage zu besprechen, mußte der Kardinal sein Rücktrittsgesuch mitbringen. Dieses lehnte Franziskus zwar unter Verweis auf die Unschuldsvermutung ab, hatte aber eine Blankoerklärung in die Hand bekommen. Am nächsten Tag wurde Yves Baumgarten, der Generalvikar des Erzbistums Lyon, mit den Amtsgeschäften des Erzbischofs betraut. Kardinal Barbarin, der Berufung gegen seine Verurteilung einlegte, blieb nominell im Amt, war aber faktisch abgesetzt. Am 24. Juni zementierte Papst Franziskus die De-facto-Amtsenthebung, indem er Msgr. Michel Dubost, den emeritierten Bischof von Evry-Corbeil-Essonnes, zum Apostolischen Administrator von Lyon ernannte.
Am 30. Januar 2020 wurde Kardinal Barbarin aber im Berufungsverfahren freigesprochen. Das Berufungsgericht verwarf den Schuldspruch erster Instanz, weil der Erzbischof nicht verpflichtet war, die Mißbrauchsfälle zur Anzeige zu bringen. Diese Pflicht gilt bei minderjährigen Opfern wegen deren besonderer Schutzbedürftigkeit. Als der Kardinal von den Fällen erfuhr, waren die Opfer aber bereits volljährig und daher selbst in der Lage, den Mißbrauch zur Anzeige zu bringen. Die Möglichkeit, mehrere Jahre lang den Kardinal und die katholische Kirche anzuklagen und an den Pranger zu stellen, hatte schweren Schaden angerichtet. Der Ansehensverlust kann durch den Freispruch, der in der Medienberichterstattung nur mehr vergleichsweise wenig Raum einnahm, nicht wiedergutgemacht werden.
Zudem war eine Rückkehr in sein Bischofsamt offenbar weder für Rom noch für Teile der Bischofskonferenz eine denkbare Option. Das zeigte die Zurückhaltung, mit der der Vatikan auf den Freispruch reagierte. So erklärte der Kardinal kurz darauf, sich nicht mehr eine Rückkehr an die Spitze eines Bistums vorstellen zu können, sondern wieder in die Seelsorge, vielleicht an einem Wallfahrtsort, zurückkehren zu wollen.
Am 6. März nahm Papst Franziskus das seit einem Jahr bereitliegende Rücktrittsgesuch des erst 69 Jahre alten Kardinals an. Das Erzbistum wird weiterhin von dem 78 Jahre alten Msgr. Dubost verwaltet.
Eine Audienz für den freigesprochenen Barbarin, Signal seiner Rehabilitierung, wurde von Rom nicht vorgesehen. Erst fünf Monate nach dem Freispruch kam es zu einer Begegnung indirekter Art. Nicht der Kardinal wurde von Franziskus empfangen, sondern die Association Lazare, ein Hilfswerk für Obdachlose, das sein zehnjähriges Bestehen begeht. Sie wurde vom Kardinal nach Rom begleitet.
Keine Rückkehr trotz Freispruch II
Nicht anders ergeht es dem zweiten Purpurträger, der vor Gericht gestellt wurde. Kardinal George Pell aus Australien wurde sogar persönlich des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt. Der ehemalige Erzbischof von Sydney war seit 2014 Präfekt des römischen Wirtschaftssekretariats und seit 2013 Vertreter Ozeaniens im C9-Kardinalsrat. Von den australischen Medien und politischen Gruppierungen wurde er als „Pädophiler“ durch die Spalten der Gazetten und die Sendezeiten von Hörfunk und Fernsehen gepeitscht.
Pell wurde 1966 für das Bistum Ballarat, ein Suffraganbistum des Erzbistums von Melbourne, zum Priester geweiht. Zu seinem Studium der Philosophie und der Theologie in Melbourne und an der Urbaniana in Rom promovierte Pell in Oxford in Kirchengeschichte, wo er während seiner Studienzeit Kaplan am elitären Eton College war. In sein Heimatbistum zurückgekehrt, wurde er Direktor des Institute of Catholic Education und Mitarbeiter der diözesanen Kirchenzeitung. 1987 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof des Erzbistums Melbourne. 1996 bestieg er selbst die Cathedra des Erzbischofs von Melbourne. 2001 erfolgte seine Berufung zum Erzbischof von Sydney und 2003 seine Erhebung in den Kardinalsrang. Seine römische Titelkirche ist Santa Maria Domenica Mazzarello, ein peripherer Neubau, der 1997 geweiht wurde.
Auch Kardinal Pell wurde in erster Instanz, im Dezember 2018, verurteilt. In seinem Fall lautete die einige Wochen später verhängte Strafe nicht sechs Monate, sondern sechs Jahre. Dem Gerichtsverfahren war nicht nur die mediale Vorverurteilung, sondern auch eine Intrige gegen ihn im Vatikan vorausgegangen. Der Kardinal, schwer enttäuscht, verzichtete auf eine vorläufige Haftaussetzung, solange das Urteil nicht rechtskräftig war, und ging 2019 ins Gefängnis. Am Berufungsgericht begann das Urteil zu wanken. Zwei Richter bestätigten es zwar, doch einer widersprach und legte eine Minderheitenmeinung vor. Dieser folgte schließlich der Oberste Gerichtshof von Australien und sprach Kardinal Pell am vergangenen 7. April frei. Zu viele Ungereimtheiten hatten sich im Verfahren ergeben. Die erste Instanz habe keine logische Beweisführung erbracht, um eine Verurteilung stützen zu können. Die Frage, wie glaubwürdig die Aussage des einzigen Belastungszeugen, des vermeintlichen Opfers ist, sei von den verurteilenden Richtern nicht ausreichend gewürdigt worden.
Dennoch war auch Kardinal Pell von Franziskus noch vor dem Freispruch seiner Ämter enthoben und teilweise ersetzt worden. Als Präfekt des Wirtschaftssekretariats waltet seit November 2019 der Jesuit Juan Antonio Guerrero Alves seines Amtes, während im Kardinalsrat kein Vertreter Ozeaniens mehr sitzt. Am 8. Juni vollendet der Kardinal sein 78. Lebensjahr. Er war 72 Jahre alt, als die Denunziation gegen ihn begann. 2013 galt er noch als „Papabile“. Eine Rückkehr in ein Amt steht in Rom trotz Freispruch nicht zur Debatte, nicht einmal eine Audienz. Ob und wann Franziskus bereit sein wird, den Australier zu empfangen, vielleicht zumindest indirekt und halb versteckt wie soeben Kardinal Barbarin, muß sich erst zeigen. Kardinal Pell hatte sich in der Vergangenheit kritischer zum Pontifikat von Franziskus geäußert als Kardinal Barbarin. Selbst aus dem Gefängnis heraus warnte er die Kirche vor einigen Zielsetzungen, die im Arbeitspapier der Amazonassynode enthalten waren.
Santa Marta behandelt die Freisprüche wie Angelegenheiten, die zwar zwei Kirchenvertreter betreffen, aber persönlicher Natur seien. Angelegenheiten von zwei Kirchenvertretern, die bereits abgeschrieben wurden. Nur weil es sich um Purpurträger handelt, sind gewisse Rücksichtnahmen unumgänglich. In Wirklichkeit saß durch das Vorgehen bestimmter kirchenfeindlicher Kreise mit ihnen die katholische Kirche auf der Anklagebank. Dieser weit öffentlichkeitsmächtigere Aspekt der beiden Mißbrauchsprozesse wird vom Vatikan, aus welchem Grund auch immer, ignoriert.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Catholic Register/MiL/Vatican.va (Screenshot)
Ein Empfang für Kardinal Pell wäre unpassend da in der Causa ja noch ein Verfahren vor der Glaubenskongregation läuft