(Rom) Am 4. März 2019 ordnete Papst Franziskus die Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs für die Zeit des Zweiten Weltkrieges an. Die Akten betreffen das Pontifikat von Papst Pius XII., „wie es die Juden seit Jahrzehnten fordern“, so Reuters damals.
Im Raum steht der Vorwurf, der heute „einigen Juden“ (Reuters) zugeschrieben wird, Pius XII. habe als Oberhaupt der katholischen Kirche nicht energisch genug den damals stattfindenden Holocaust durch das nationalsozialistische Regime angeklagt. Pius XII. war 1939 zum Papst gewählt worden und regierte bis 1958. Zuvor war er Kardinalstaatssekretär.
In Wirklichkeit geht der Angriff auf kommunistische Propaganda zurück, die erst in den 60er Jahren aufkam und durch das Theaterstück „Der Stellvertreter“ des protestantischen deutschen Dramatikers Rolf Hochhuth besondere Wirkung entfaltete. Dessen Stück entstand zwischen 1959 und 1961. Veröffentlicht und uraufgeführt wurde es 1963.
2007 enthüllte Ion Mihai Pacepa, ehemaliger General des berüchtigten rumänischen Geheimdienstes Securitate (1948–1990), daß Hochhuth für sein Stück vom sowjetischen Geheimdienst KGB mit gefälschtem Material gespeist wurde. Pacepa, der von 1957–1960 die Residentur (Niederlassung) des Auslandsgeheimdienstes Direcției de Informații Externe (DIE) in der Bundesrepublik Deutschland leitete, war 1960 persönlich an der Aktion beteiligt. Später brachte er es bis zum stellvertretenden DIE-Leiter und Staatssekretär im Innenministerium. 1978 lief er in den Westen über. Hochhuth wies die Vorwürfe entschieden zurück. Der Verdacht einer geheimdienstlichen Steuerung durch den kommunistischen Ostblock steht seither aber im Raum.
1965 veröffentlichte der Vatikan als Reaktion auf die Polemiken eine umfangreiche Dokumentenedition in zwölf Bänden für die Zeit des Zweiten Weltkrieges (1939–1945). Sie enthält auch Dokumente aus dem Geheimarchiv. Doch die öffentliche Stimmung konnte der Heilige Stuhl damit nicht mehr umdrehen, denn die veröffentlichte Meinung wurde von Kräften kontrolliert, denen mehr am Anschwärzen der Kirche als an der historischen Wahrheit lag, und die wissend und noch mehr unwissend das Geschäft der Sowjets betrieben.
Der Nerv der Zeit
Die erzeugte Schwarze Legende verbreitete sich schnell, weil sie den Nerv der Zeit traf. Sie bot für die damals rebellierende Jugend eine Gelegenheit, sich gegen die Kirche und ihre Morallehre empören zu können. Innerkirchlich erleichterte sie die angestrebte Distanzierung von einer „vorkonziliaren Kirche“, als deren letzter Vertreter Pius XII. galt. Mit dem verstärkten Holocaust-Gedenken seit Ende der 70er Jahre verfestigte sich nachträglich das von Hochhuth in die Welt gesetzte Negativbild von Pius XII.
Der Vatikan betonte, Pius XII. habe sich öffentlich mit Kritik am NS-Regime zurückgehalten, um mehr Juden retten zu können. Daß es großangelegte Rettungsaktionen gab, die der Papst direkt in Auftrag gab, ist hinreichend belegt. Aus diesem Grund kam die Kritik an ihm in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch nicht von jüdischer Seite, ganz im Gegenteil. Man bedankte sich für seinen Einsatz. Der ehemalige Oberrabbiner von Rom, Italo Zolli (Israel Anton Zoller), der die Israelitische Kultusgemeinde während des Krieges führte, konvertierte sogar zum katholischen Glauben und nahm zum Dank den Taufnamen Eugenio Maria an, der auch der Taufname des Papstes war.
Erst als gelungen war, dem kollektiven Gedächtnis das verzerrte Bild von Pius XII. einzupflanzen, und eine jüngere Generation an die Spitze der führenden jüdischen Organisationen trat, machten sich diese die Anklage zu eigen und blockieren seit vielen Jahren das Seligsprechungsverfahren dieses Papstes.
Während die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus heute noch hellwach ist, werden die Schrecken des Kommunismus weitgehend ausgeblendet. Pius XII. aber hatte sich nicht nur des Nationalsozialismus zu erwehren, sondern auch des Kommunismus. Er sah sich Pest und Cholera gegenüber. Die Allianz mit der Cholera, die damals von den westlichen Staaten besiegelt wurde, um die Pest zu besiegen, ließ ihn sorgenvoll in die Zukunft schauen. Der Preis, den Europa und die Welt für diese Allianz bezahlen mußten, war enorm.
Anfang März 2019 kündigte Papst Franziskus in einer Ansprache an die Verantwortlichen und Mitarbeiter des Vatikanischen Geheimarchivs an, daß „die Kirche die Geschichte nicht fürchtet“, weshalb die genannten Bestände des persönlichen Archivs von Pius XII. am 2. März 2020 öffentlich zugänglich gemacht werden. Der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses (WJC), Ronald Lauder, bedankte sich im Namen seiner Organisation bei Franziskus. Es gehe ein langjähriger Wunsch des WJC in Erfüllung.
43.284 Seiten Bestandsübersicht
Heute fand im Vatikan eine Pressekonferenz statt, die kurioserweise „Meeting Point“ genannt wurde, um die unmittelbar bevorstehende Öffnung des betreffenden Teils des Geheimarchivs vorzustellen.
Die Pressekonferenz wurde von Kardinal José Tolentino Calaça de Mendonça angeführt, den Franziskus im Juni 2018 zum Archivar des Vatikanischen Apostolischen Archivs und Bibliothekar der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek ernannte und zugleich zum Titularerzbischof erhob. Am 5. Oktober 2019 kreierte er ihn zum Kardinal. Anwesend waren auch Kurienbischof Sergio Pagano, Präfekt des Vatikanischen Apostolischen Archivs, und sein Vize, der Kirchenhistoriker und Leiter der Handschriftenabteilung der Bibliothek, Paolo Vian. Er ist der Bruder des früheren Chefredakteurs des Osservatore Romano Giovanni Maria Vian und Sohn des ehemaligen Sekretärs der Bibliothek, Nello Vian. Dazu noch mehrere Archivmitarbeiter.
Der Archivar der Kirche, Tolentino, sagte im Vorjahr nach der Ankündigung des Papstes:
„Die Geschichte, die man in den Dokumenten lesen wird können, wird die Gestalt von Pius XII. in ihrem ganzen Licht zum Vorschein bringen.“
Die Entscheidung von Papst Franziskus, die Archive vorzeitig zugänglich zu machen, sei ein „Zeichen der Liebe“ gegenüber der Geschichte und erfolge aus „Liebe zur Wahrheit“, so der nunmehrige Kardinal.
Ab dem 2. März werden den Historikern 16 Millionen Dokumente zur Verfügung stehen, die Regale in der Länge von mehreren Kilometern füllen. Sie stammen nicht nur aus dem Geheimarchiv, sondern auch aus den Archiven anderer vatikanischer Dikasterien. Sie wurden seit 2006 zusammengetragen. Allein die Findbücher, die in den vergangenen Jahren erstellt wurden, umfassen 43.284 Seiten.
85 Forscher haben sich bereits angemeldet, darunter Vertreter des United States Holocaust Memorial Museum, Historiker aus Israel, Deutschland und anderen Ländern.
Alejandro Cifres Gimenez, der die Archivbestände der Glaubenskongregation zu Pius XII. sichtete, sagte:
„Nun wird die Dokumentation geduldig und beharrlich Licht in dieses Pontifikat bringen, und viele Dinge werden geklärt werden können.“
Cifres ist überzeugt:
„Die Gestalt von Pius XII. wird durch die Dokumentation an Größe gewinnen. Nun müssen Ideologie und Vorurteile zurücktreten, denn nun geht es um die wirkliche Geschichte. Es ist an der Zeit, daß Historiker Schlußfolgerungen ziehen.“
Kommunismus und Fatima?
Das öffentliche Interesse an der Archivöffnung konzentriert sich zur Gänze auf die Schwarze Legende zu Pius XII., deren Entkräftung allgemein erwartet wird. In die Zeit dieses Pontifikats, das von 1939–1958 dauerte, fallen aber noch andere bedeutsame Ereignisse. Zwei davon sind: die Haltung der Kirche unter Pius XII. zum Kommunismus, die ihm die Feindschaft der UdSSR und ihrer Satelliten einbrachte, und Fatima, die verschiedenen Weihen, die Pius XII. durchführte oder proklamierte, die Übermittlung des Dritten Geheimnisses nach Rom bzw. die genauen Umstände der Übermittlung und alle damit zusammenhängenden Fragen.
Von den Historikern, die nun die geöffneten Bestände des Geheimarchivs studieren werden, dürfte niemand zu den beiden Themenkreisen forschen. Forschungsaufenthalte wollen finanziert sein, weshalb Stipendien von Organisationen und Stiftungen und vor allem staatliche Förderungen für Institute und Lehrstühle notwendig sind. Für die Holocaustforschung fließen diese üppig, für die Erforschung der kommunistischen Schrecken weit weniger, für die Fatimaforschung gar nicht.
Bleibt also zu hoffen, daß dennoch Historiker die Archivöffnung nützen werden, um zu diesen und weiteren Themen im Zusammenhang mit dem Pontifikat von Pius XII. zu forschen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Faro di Roma/Vatican.va (Screenshots)