(Rom) Der Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. lastet weiterhin auf der Kirche und auf nicht wenigen Gläubigen, die sich Fragen stellen. Es geht um die zahlreichen offenen Fragen, weil der Amtsverzicht angesichts dessen, was nach ihm kam, ein immer größeres Rätsel zu werden scheint.
Der Vatikanist Marco Tosatti veröffentlichte dazu Gedanken seiner fiktiven Figur Romana Vulneratus Curiae, kurz RVC, die in Auszügen wiedergegeben werden.
Es geht, so RVC, „um das Thema, das ich als das wichtigste Thema des Wandels unserer Zivilisation bezeichnen möchte: das Ende der moralischen Autorität in einer Welt des Nihilismus. Vielmehr: Die Umwandlung dieser moralischen Autorität in eine verwirrende Autorität, die nicht einmal tröstet. Die Kirche ist, noch bevor sie Trösterin ist, vor allem Lehrmeisterin. Ist sie das? Worin?“
Ratzinger habe von dieser modernen, technologischen und wissenschaftlichen Welt nicht geduldet werden können, da sie moralische Überlegungen ablehnt (er fragt sich: welche Moral?) und jede Religion bekämpft, besonders die dogmatische.
„Eine Welt, in deren ‚Verfassung‘ (die NWO, Neue Weltordnung) geschrieben steht, daß es notwendig sei, eine Einheitlichkeit der Kulturen und der Moral zu schaffen, und die dieses Ziel mit einem utopischen Globalisierungsprozeß erreichen will, der die Relativierung der Religionen auch dank erzwungener und regelmäßiger Migrationsprozesse vorsieht.“
„Kehren wir jedoch zu Ratzinger zurück, der von dieser nihilistischen Welt als ‚Obskurantist der Reconquista‘ definiert wurde, der evangelisieren und restaurieren und ein Anti-Vaticanum II umsetzen wollte.“
Vor allem aber sei Benedikt XVI. ein Papst gewesen:
- „der die liberale und sozialistische Nachaufklärung herausforderte;
- ein Papst, der befürchtete, daß der technologisch-wissenschaftliche Prozeß moralische Autonomie erlangt;
- ein Papst der die Moderne an allen Fronten angriff, indem er die Rückkehr zu den christlichen Wurzeln der westlichen Zivilisation anstrebte;
- ein Papst, der gegen die WHO-Bioethik auftrat, die vor allem ein Recht auf Abtreibung vorsieht;
- ein anti-malthusianischer, anti-ökologistischer Papst, der sich einer Vergötzung der Natur widersetzte, deren Ziel es ist, die Schöpfungshierarchie auf den Kopf zu stellen, und die sich gegen die Menschenwürde richtet;
- ein Papst, der die Familie und die Tradition verteidigt;
- ein Papst …“
„Ruft man sich in Erinnerung, wer Benedikt XVI. ist, wird auch klar, warum ihn ‚diese Welt‘ aus dem Weg haben wollte. Ich will mich dazu nicht äußern, solange mein geliebter Benedikt XVI. noch lebt, aber genau das ist geschehen.“
Der Amtsverzicht sei ein „Mittel nicht ein Zweck“ gewesen für eine logisch und vernünftig denkende Person wie Benedikt XVI.
„Als er sich entschloß, aufzugeben, tat er das mit der Absicht, eine Nachfolge zu ermöglichen, die besser als er imstande sein sollte, die strategischen Entscheidungen seines Pontifikats zu bekräftigen. Gekommen ist das genaue Gegenteil. Die offenen Fragen, die seither die Phantasie beflügeln, sind daher zahlreich:
- Wer hat ihn verraten?
- Warum ist er als emeritierter Papst im Vatikan geblieben?
- Warum hat er, ohne den Verdacht zu nähren, ein Schisma provozieren zu wollen, in den vergangenen sechs Jahren nicht eingegriffen gegen diese Zerstörung der Wahrheit?
Leo XIII. hörte in seiner berühmten Vision den Fürsten der gefallenen Engel um weitere „hundert Jahre“ bitten, um seine Macht zu beweisen, und sie wurden ihm gewährt:
„Spadaro [1] und Konsorten können von uns fordern, daß wir der Repubblica und dem Avvenire [2] glauben sollen und nicht den Marienerscheinungen in Fatima und anderswo. Spadaro und Konsorten können von uns fordern, daß wir nicht mehr an die Schauungen und Eingebungen der Heiligen glauben sollen. Fordern können sie das, aber müssen wir Spadaro und Konsorten gehorchen?“
Nein, heute müssen wir vor allem handeln. Beten und handeln. Das ist die Zeit, um zu zeigen, was der katholische Glaube ist, der aus der offenen Seite Christi am Kreuz geboren wurde. Die Kirche sollte das menschliche Herz verändern (damit es die ganze Welt verändern kann) durch Gebet, Lehramt und Sakramente (Lumen Fidei).
Wenn die Kirche einige Probleme der Welt ändern will, ohne sie zuerst zu konvertieren, habe ich einige Zweifel, daß sie auf dem richtigen Weg ist …
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
[1] Pater Antonio Spadaro SJ, Schriftleiter der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica, in der jeder Artikel nur nach vorheriger Druckerlaubnis des Vatikans erscheint, und einer der engsten Vertrauten von Papst Franziskus.
[2] La Repubblica ist die führende linke Tageszeitung Italiens. Gegründet wurde sie von Eugenio Scalfari, einem Atheisten aus freimaurerischem Haus, der Papst Franziskus seinen Freund nennt. Durch wiederholte persönliche Gespräche und Telefonate erlaubte ihm Papst Franziskus, ein eigenes „Scalfari-Lehramt“ im Namen des Papstes zu entfalten.
Avvenire ist die Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz.