
Von Roberto de Mattei*
Jeder Mensch hat seine besondere Berufung. Was Gott von jeder Seele wünscht, stellt ihre Berufung dar. Sie ist die besondere Form, in der die Vorsehung will, daß jeder wirkt und sich entfaltet. Jeder Mensch hat eine besondere Berufung, weil er von Gott verschieden gewollt und von ihm geliebt ist. Es existieren im Lauf der Geschichte keine zwei Geschöpfe, die identisch sind. Ebensowenig gibt es absolut identische Berufungen, weil der Wille Gottes für jedes Geschöpf anders ist, und jedes Geschöpf, das von Ihm aus dem Nichts in die Zeit gerufen wurde, einzigartig ist.
Pater Frederick William Faber widmet diesem Thema einen seiner geistlichen Vorträge: „Jeder Mensch hat eine besondere Berufung“ (Spirtual Conferences, Burn & Oates, London 1906, S. 375–396). Jeder Mensch hat eine besondere Berufung, verschieden von der eines jeden anderen Menschen, weil Gott jeden von uns mit einer besonderen Liebe liebt.
Worin besteht diese besondere Liebe Gottes für mich? Gott hat mich vor allem erschaffen, indem er meinem Körper und meiner Seele die Wesensmerkmale und Qualitäten nach seinem Gefallen gegeben hat. Gott hat mich nicht nur erschaffen, sondern hält mich auch am Leben, indem er mir das Sein schenkt, weshalb ich lebe. Würde Gott für einen Augenblick aufhören, mir das Sein zu gewähren, würde ich in jenes Nichts fallen, aus dem Er mich erschaffen hat. Gott überläßt uns, nachdem er uns erschaffen hat, nicht der Willkür der Ereignisse.
„Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt“ (Mt 10,30) „und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden“ (Lk 21,18).
Wenn die Anzahl und der Ausfall meiner Haare gezählt sind, was sollte dann in meinem Leben nicht gezählt sein?
Mit einem Wort, Gott hat die Gesetzmäßigkeiten unserer physischen, moralischen und intellektuellen Entwicklung und auch unseres übernatürlichen Wachstums abgesteckt. Wie hat Er das gemacht? Durch einige Instrumente. Diese Instrumente sind die Geschöpfe, denen wir in unserem Leben begegnen. Der Kartäusermönch Dom François de Sales Pollien lädt uns in seinem berühmten Buch „Vive Dieu“ ein, bekannt auch unter dem Titel „Gelebtes Christentum“ (in Italien 2017 in einer Neuausgabe bei Edizioni Fiducia, Rom, erschienen), die Zahl aller Geschöpfe zu berechnen, die in unsere Existenz hineingewirkt haben.

Die physischen Einflüsse der Zeit, der Jahreszeiten, des Klimas; die moralischen Einflüsse von Verwandten, Lehrern, Freunden und Feinden, denen wir begegnet sind; alle Bücher, die wir gelesen haben, alle Worte, die wir gehört haben, und die Dinge, die wir gesehen haben, sowie die Situationen, in denen wir uns befunden haben: Nichts ist dem Zufall geschuldet, weil es den Zufall nicht gibt. Alles hat eine Bedeutung.
Diese Einflüsse, diese Bewegungen sind die Arbeit, die Gott an uns wirkt. Alle diese Geschöpfe, erklärt Dom Pollien, sind durch Gott bewegt und wirken an uns das, was Er will, daß sie an uns wirken. Alles geschieht im bestimmten Augenblick, handelt im richtigen Moment, bringt die nötige Bewegung hervor und übt einen physischen, moralischen oder intellektuellen Einfluß auf uns aus.
Dieser Einfluß ist die aktuelle Gnade. Die aktuelle Gnade ist jene übernatürliche Aktion, die Gott jeden Augenblick an uns ausübt durch die Geschöpfe. Die Geschöpfe sind das Instrument Gottes für einen einzigen Zweck: die Formung der Heiligen. Alles, was geschieht, alles, was getan wird, sagt der heilige Paulus, ausnahmslos alles, ist Teil desselben Werkes, und dieses Werk ist das Wohl derer, die der Wille Gottes zur Heiligkeit berufen hat (Röm 8,28).
Nichts scheitert für diesen Zweck, alles strebt auf dieses Ergebnis zu. Die aktuelle Gnade ist überall und verbindet auf innige Weise das Natürliche mit dem Übernatürlichen. Und Gott gewichtet die Qualität seiner Gnaden nach den Notwendigkeiten unseres Lebens gemäß den Plänen seiner Barmherzigkeit gegenüber uns und gemäß der Entsprechung, mit der wir auf Sein Handeln antworten.
Wie können wir diesem ununterbrochenen Wirken der Gnade auf unsere Seele entsprechen? Ein Ordensmann, der dem heiligen Johannes Bosco sehr nahestand, wurde gefragt, ob Don Bosco inmitten seiner zahlreichen Werke und seines manchmal stürmisch verlaufenden Lebens nie in Sorge war. Der Ordensmann antwortete so:
„Don Bosco dachte nie eine Minute vorher an das, was er in einer Minute tun würde.“
Don Bosco verstand das Wirken der Gnade. Er versuchte immer den Willen Gottes im gegenwärtigen Moment zu tun. Indem er diesem Weg folgte, verwirklichte er seine Berufung.

In Rom, nahe dem Hauptbahnhof, steht die Herz-Jesu-Basilika, die von Don Bosco unter größten Opfern kurz vor seinem Tod errichtet wurde. Die Basilika wurde durch den Kardinalvikar am 14. Mai 1887 in Anwesenheit zahlreicher weltlicher und kirchlicher Würdenträger feierlich geweiht.
Am 16. Mai 1887 zelebrierte Don Bosco selbst am Maria-Hilf-Altar der Kirche die Heilige Messe. Es sollte seine einzige Zelebration in der Herz-Jesu-Basilika sein, und wie eine Gedenktafel zum 100. Jahrestag des Ereignisses erinnert, wurde sie fünfzehn Mal von Seufzern des alten Priesters unterbrochen, der die Bedeutung seines berühmten „Traumes der neun Jahre“ verstand. Gott hatte ihm ein Panorama seines Lebens gezeigt und ihm enthüllt, wie es seit der frühesten Kindheit von Gott bereitet und gelenkt wurde, um seine irdische Mission zu erfüllen.
Jede Seele hat ihre Berufung, weil sie eine unterschiedliche Aufgabe im Leib der Kirche hat. Wer die Berufung zur Ehe hat, hat sie nicht für sich, sondern für die Kirche. Wer die Ordensberufung hat, hat sie nicht für sich, sondern für die Kirche.
Es gibt die Berufungen der einzelnen, und es gibt die Berufungen der Familien, womit nicht nur die natürlichen Familien gemeint sind, sondern auch die geistlichen Familien mit ihren Charismen. Es gibt die Berufungen der Völker, von denen Prof. Plinio Corrêa de Oliveira so oft sprach. Jede Nation hat eine besondere Berufung, die in der Rolle besteht, die ihr die Vorsehung in der Geschichte anvertraut. Wir werden aber nicht nur in eine Familie und in ein Volk hineingeboren.

Wir leben auch in einer geschichtlichen Epoche. Da auch die Geschichte eine Schöpfung Gottes ist, verlangt Gott von jeder historischen Epoche etwas anderes. Jede historische Epoche hat ihre Berufung. Die vorherrschende Berufung der ersten Jahrhundert der Kirche war die Bereitschaft zum Martyrium. Gibt es auch eine Berufung des 21. Jahrhunderts, in der wir unsere jeweilige Berufung finden können?
Die Berufung unserer Epoche ist jene, dem Wunsch des Himmels zu entsprechen, den die Gottesmutter selbst in Fatima kundgetan hat: Am Ende wird mein unbeflecktes Herz triumphieren. Es ist die Berufung jener, die in einem Kreuzgang, auf öffentlichen Plätzen, mit dem Gebet, durch Buße, mit dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort oder durch Aktionen für die Verwirklichung dieses Wunsches kämpfen.
Der Triumph des Unbefleckten Herzens Mariens ist auch ein Triumph der Kirche, weil das Unbefleckte Herz Mariens das Herz der Kirche selbst ist. Der Triumph setzt voraus, daß ihm eine große Schlacht vorausgeht. Und da dieser Triumph gesellschaftlicher, öffentlicher und feierlicher Natur sein wird, wird auch die Schlacht gesellschaftlich, öffentlich und feierlich sein. Heiligsein bedeutet heute, diese Schlacht zu kämpfen, die vor allem dadurch gekämpft wird, indem wir das Schwert der Wahrheit ergreifen. Allein auf der Wahrheit kann das Leben der Menschen und der Völker errichtet werden. Ohne die Wahrheit zersetzt sich eine Gesellschaft und stirbt.
Heute muß die christliche Gesellschaft neu errichtet werden; und die erste Notwendigkeit, um sie neu zu errichten, besteht darin, die Wahrheit zu bekennen und zu leben – mit kämpferischem Geist. Wenn ein Christ mit der Hilfe der Gnade sein eigenes Leben nach den Grundsätzen des Evangeliums gestaltet und für die Verteidigung der Wahrheit kämpft, kann ihn kein Hindernis aufhalten.
In seiner Rede vom 21. Januar 1945 an die Marianischen Kongregationen von Rom, sagte Pius XII.:
„Die heutige Zeit verlangt furchtlose Katholiken, für die es eine ganz natürliche Sache ist, ihren Glauben offen zu bekennen mit den Worten und mit den Taten wann immer das Gesetz Gottes und die Gefühle der christlichen Ehre es verlangen. Echte Menschen, integre Menschen, entschlossen und furchtlos! Jene, die nur zur Hälfte solche sind, werden heute selbst von der Welt weggeworfen, abgelehnt und getreten.“
Dom Pollien schreibt:
„Gott und die Kirche verlangen nach Verteidigern, aber echten Verteidigern, solchen, die nie einen Schritt zurückweichen; solche, die dem Auftrag treu sind bis zum Tod; solche, die sich für alle Härten der Disziplin vorbereiten, um zu jedem Heldentum des Kampfes bereit zu sein“ (S. 162).
Die Jugend des 21. Jahrhunderts kann nicht angezogen werden durch Aufforderungen zu Kompromissen mit der Welt. Sie verlangt von der Kirche einen Appell zum Heldentum. Im Mittelalter wirkten am Bau einer Kathedrale Architekten, Maurer, Zimmerleute, Tischler, Bischöfe, Fürsten, berühmte und unbekannte Gestalten mit. Sie einte derselbe Wunsch: Gott die höchste Ehre zu erweisen durch die Steine, die sie zum Himmel erhoben.
Auch wir haben Anteil an einem großen Projekt. Jeder von uns ist heute gerufen, auf den Ruinen der modernen Welt die immense Kathedrale zu errichten, die dem Unbefleckten Herzen Mariens gewidmet ist, die nichts anderes als ihr Reich in den Seelen und der Gesellschaft ist. Unsere Herzen sind die Steine und unsere Stimmen verkünden der Welt den Traum, der sich verwirklichen wird.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/Corrispondenza Romana