Von Roberto de Mattei*
Zu den Jahrestagen des Jahres 2018 gehört einer, der unbeachtet blieb: der 60. Todestag des ehrwürdigen Dieners Gottes Pius XII., der am 9. Oktober 1958 nach 19 Regierungsjahren in Castel Gandolfo gestorben ist. Die Erinnerung an ihn ist heute aber noch lebendig, vor allem, wie die Historikerin Cristina Siccardi bemerkte, wegen seiner sakralen Gestalt, würdig eines Stellvertreters Christi, und wegen des Umfangs seines Lehramtes vor dem Hintergrund tragischer Ereignisse wie des Zweiten Weltkrieges, der sechs Monate nach seiner Wahl zum Papst, die am 20. März 1939 erfolgte, ausgesprochen ist.
Der Tod von Pius XII. beendete eine Epoche, die heute mit Verachtung „vorkonziliar“ oder „konstantinisch“ genannt wird. Mit der Wahl von Johannes XXIII. (am 28. Oktober 1958) und der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde eine neue Ära in der Kirchengeschichte eingeleitet, die am 14. Oktober ihren Triumph erlebte mit der Heiligsprechung von Paul VI., nachdem jene von Papst Roncalli bereits erfolgt ist.
Die Unmoral breitet sich im ganzen Körper der Kirche aus, einschließlich der Führungsebenen. Papst Franziskus weigert sich, die Realität des tragischen Szenarios anzuerkennen, das von Erzbischof Carlo Maria Viganò ans Licht gebracht wurde. Die Verwirrung in der Glaubenslehre ist so enorm, daß Kardinal Willem Jacobus Eijk, der Erzbischof von Utrecht, öffentlich erklärte, daß
„die Bischöfe und vor allem der Nachfolger des Petrus es daran fehlen lassen, das Glaubensgut zu bewahren und getreu und in Einheit weiterzugeben, und ich denke an die Endprüfung, durch die die Kirche hindurch muß“.
Dieses Drama hat seine Wurzeln im Zweiten Vatikanischen Konzil und in der Nachkonzilszeit, und es hat seine Hauptverantwortlichen in den Päpsten, die die Kirche in den vergangenen 60 Jahren geleitet haben.
Ihre Heiligsprechung proklamiert ihren heroischen Tugendgrad in der Leitung der Kirche.
Das Konzil und die Nachkonzilszeit haben die Doktrin im Namen der Pastoral geleugnet, und im Namen dieses Pastoralismus haben sie sich geweigert, die Wahrheit zu definieren und den Irrtum zu verurteilen. Die einzige Wahrheit, die heute feierlich verkündet wird, ist die Makellosigkeit der Konzilspäpste, und nur dieser. Mehr noch als diese Männer heiligzusprechen, scheint es dabei Absicht zu sein, ihre politischen und pastoralen Entscheidungen für unfehlbar zu erklären.
Welchen Glauben sollen wir aber diesen Heiligsprechungen schenken? Wenn auch der Großteil der Theologen den Standpunkt vertritt, daß Heiligsprechungen ein unfehlbarer Akt der Kirche sind, haben wir es hier nicht mit einem Glaubensdogma zu tun.
Der letzte, große Vertreter der Römischen Schule der Theologie, Msgr. Brunero Gherardini (1925 – 2017), äußerte in der Zeitschrift Divinitas Zweifel an der Unfehlbarkeit der Heiligsprechungen. Für den römischen Theologen ist das Heiligsprechungsurteil an sich nicht unfehlbar, weil die Voraussetzungen der Unfehlbarkeit fehlen, allein schon deshalb, weil keine Wahrheit des Glaubens oder der Moral, die Teil der Offenbarung ist, direktes oder explizites Objekt der Kanonisierung ist, sondern diese lediglich indirekt mit dem Dogma verbunden ist, ohne im eigentlichen Sinn eine „dogmatische Tatsache“ zu sein. Im übrigen: Weder der Codex des Kirchenrechtes von 1917 oder 1983 noch der Katechismus der Katholischen Kirche, ob alt oder neu, entfalten eine Lehre der Kirche über die Heiligsprechungen.
Ein anderer bedeutender, zeitgenössischer Theologe, Abbé Gleize, von der Priesterbruderschaft St. Pius X., vertritt zwar die Unfehlbarkeit der Heiligsprechungen, aber nicht jener, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erfolgt sind, und zwar aus folgenden Gründen: Die nach dem Konzil erfolgten Reformen führten sichere Verfahrensmängel und eine neue kollegiale Intention ein. Zwei Konsequenzen, die unvereinbar sind mit der Sicherheit der Seligsprechungen und der Unfehlbarkeit der Heiligsprechungen.
Drittens: Das Urteil im Heiligsprechungsverfahren läßt ein zumindest mißverständliches und damit zweifelhaftes Verständnis der Heiligkeit und des heroischen Tugendgrades zu. Die Unfehlbarkeit gründet auf dem Vorhandensein einer umfassenden Gesamtheit von Untersuchungen und Erhebungen. Es besteht kein Zweifel, daß nach der von Johannes Paul II. 1983 gewollten Reform des Verfahrens dieser Wahrheitsfindungsprozeß viel schwächer wurde, und auch eine Veränderung des Verständnisses von Heiligkeit stattfand.
Jüngst wurden andere wichtige Beiträge auf dieser Linie veröffentlicht. Peter Kwasniewski bemerkte bei OnePeterFive, daß die schlechteste Änderung im Kanonisierungsverfahren die verlangte Zahl der Wunder ist.
„Im alten System waren sowohl für die Seligsprechung als auch für die Heiligsprechung zwei Wunder notwendig – insgesamt also vier geprüfte und bestätigte Wunder. Der Grund für diese Notwendigkeit besteht darin, der Kirche die nötige moralische Sicherheit für die Anerkennung des vorgeschlagenen Seligen oder Heiligen durch Gott zu geben. Zudem mußten traditionell die Wunder in ihrer Klarheit außergewöhnlich sein, durften also keine natürliche oder wissenschaftlich mögliche Erklärung zulassen. Das neue System halbiert die Zahl der Wunder, was, wie man sagten könnte, auch die moralische Gewißheit halbiert. Zudem scheinen, wie viele angemerkt haben, die vorgebrachten Wunder häufig fragil und hinterlassen nicht geringe Zweifel: Handelte sich wirklich um ein Wunder, oder war es nur ein extrem unwahrscheinliches Ereignis?“
Christopher Ferrara bemerkte in einem gründlichen Artikel in The Remnant, nachdem er die entscheidende Rolle, die das Zeugnis der Wunder bei Kanonisierungen spielt, herausstellte, daß keines der Wunder, die Paul VI. und Erzbischof Romero zugeschrieben werden, die traditionellen Kriterien für die Feststellung der Göttlichkeit eines Wunders erfüllt:
„Diese Kriterien sind: (1) eine Heiligung, die (2) schnell, (3) vollständig, (4) ohne Nachwirkungen und (5) wissenschaftlich unerklärlich ist, also nicht das Ergebnis von Behandlungen oder natürlichen Heilungsprozessen ist, sondern ein Ereignis, das außerhalb der natürlichen Ordnung steht.“
John Lamont, der bei Rorate Cæli eine umfassende und überzeugende Studie zur Frage der Autorität von Kanonisierungen veröffentlichte, schließt seine Untersuchungen mit den Worten:
„Man kann nicht behaupten, daß die Kanonisierungen von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. unfehlbar sind, weil die notwendigen Voraussetzungen für eine solche Unfehlbarkeit nicht gegeben waren. Ihre Kanonisierungen sind mit keiner Glaubenslehre verbunden, sie sind nicht das Ergebnis einer Verehrung, die im Leben der Kirche zentral ist, und sie waren nicht das Ergebnis einer sorgsamen und strengen Prüfung. Deshalb sind aber nicht alle Kanonisierungen vom Charisma der Unfehlbarkeit auszuschließen. Man kann vielmehr die Position vertreten, daß die Kanonisierungen, die aufgrund der strengen Prozedur der vergangenen Jahrhunderte erfolgen, dieses Charisma genießen.“
Da die Kanonisierung kein Glaubensdogma ist, gibt es für die Katholiken keine positive Verpflichtung, ihnen zuzustimmen. Der Gebrauch der Vernunft zeigt mit aller Offensichtlichkeit, daß die Konzilspontifikate von keinem Nutzen für die Kirche waren. Der Glaube übersteigt die Vernunft und erhebt sie, aber er widerspricht ihr nicht, weil Gott – die Wahrheit in Person – nicht widersprüchlich ist. Wir können also guten Gewissens unsere Vorbehalte zu diesen Kanonisierungen haben.
Die verheerendste Handlung im Pontifikat von Paul VI. war die Zerstörung des überlieferten Römischen Ritus. Die Historiker wissen, daß der Novus Ordo Missae nicht eine Reform von Msgr. Bugnini, sondern eine von Papst Montini vorbereitete, gewollte und umgesetzte Reform war, die – wie Peter Kwasniewski schreibt – einen explosiven, inneren Bruch verursachte:
„Sie war das Äquivalent zum Abwurf einer Atombombe auf das Volk Gottes, die durch ihre Strahlungen, den Glauben zerstörte oder Krebsgeschwüre verursachte.“
Das größte Verdienst des Pontifikats von Pius XII. war die Seligsprechung (1951) und dann die Heiligsprechung (1954) des heiligen Pius X. nach einem langen und strengen kanonischen Verfahren und vier unwiderlegbaren Wundern. Es ist Pius XII. zu danken, daß der Name des heiligen Pius X. am Kirchenhimmel leuchtet und eine sichere Orientierung in der Verwirrung unserer Zeit bietet.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana