
Von Roberto de Mattei*
Im Monat August jährt sich zum 40. Mal der Tod von Giovanni Battista Montini, der unter dem Namen Paul VI. von 1963 bis 1978 Papst war. Sein Pontifikat veränderte das Leben der Kirche im 20. Jahrhundert.
Liberal und jansenistisch geprägtes Umfeld
Giovanni Battista Montini wurde am 26. September 1897 in Concesio in der italienischen Provinz Brescia geboren. Sein familiäres Umfeld war stark vom Liberalismus und von einer jansenistischen Ader geprägt, die im liturgischen Bereich zum Ausdruck kam. Auf seine Formung wirkte sich zudem in seiner Jugend der modernistenfreundliche Liturgismus des Oratorianerpaters Giulio Bevilacqua aus, der sein Seelenhirte war, und den er 1965 zum Kardinal erhob.
Am 19. Mai 1920 empfing der junge Montini im Alter von erst 22 Jahren die Priesterweihe, ohne aufgrund seiner schwachen Gesundheit das Theologiestudium im Priesterseminar absolviert zu haben. Nach Rom gekommen, wurde er an das vatikanische Staatssekretariat berufen und zum geistlichen Assistenten des Katholischen Italienischen Hochschulbundes (FUCI, Federazione Universitaria Cattolici Italiani) ernannt, eine Aufgabe, die ihn intensiv forderte, von der er aber wegen seiner „innovativen“ liturgischen Ansichten und einer starken Neigung zur „Politisierung“ der Jugend wieder abgezogen wurde.
Sein Vater, Giorgio Montini, war Parlamentsabgeordneter der Italienischen Volkspartei (PPI, Partito Popolare Italiano), weshalb die Politik zusammen mit der Liturgie immer eine seiner größten Leidenschaften blieb.
Die „Wegbeförderung“ zum Erzbischof von Mailand
Im Dezember 1937 wurde Msgr. Montini als Nachfolger von Msgr. Amleto Tardini zum Substituten des Staatssekretärs befördert. Er verfügte – außer wenigen Monaten, die er an der Nuntiatur in Warschau verbracht hatte – über keine diplomatische Erfahrung, arbeitete aber fast ununterbrochen im Staatssekretariat, bis ihn Pius XII. 1954 zum Erzbischof von Mailand ernannte, ohne ihm den Kardinalshut zu verleihen. Die Beförderung war in Wirklichkeit eine „Wegbeförderung“, deren Gründe nach wie vor nicht geklärt sind.
Laut Kardinal Siri wurde er nach einem negativen Urteil einer Geheimkommission nach Mailand geschickt, die von Pius XII. eingesetzt worden war, der das Vertrauen in seinen Substituten verloren hatte, nachdem dieser den Vorsitzenden der Jugendorganisation der Katholischen Aktion, Mario Rossi, protegiert hatte, der sich für eine Öffnung der Kirche in Richtung Sozialismus und Kommunismus stark gemacht hatte. Kardinal Casaroli vertraute dem Vatikanisten Andrea Tornielli an, daß sich das Verhältnis des Papstes zu seinem Mitarbeiter zerrüttete, weil Montini ohne Wissen von Pius XII. Kontakte zu Kreisen der politischen Linken Italiens unterhalten hatte.
Aus dem Briefwechsel von Msgr. Montini mit Don Giuseppe De Luca kann man schließen, daß der Substitut über den römischen Priester Kontakte mit den Katho-Kommunisten und einigen Teilen der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) unterhielt. Der Historiker Andrea Riccardi erinnerte daran, daß einige Bischofsernennungen in Litauen Anlaß für Stimmen gaben, die eine Treulosigkeit Montinis in den Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Sowjetunion behaupteten. Diese Stimmen gehen auf einen „Geheimbericht“ des französischen Oberst Claude Arnould zurück, der gebeten worden war, wegen der Weitergabe vertraulicher Informationen des Staatssekretariats an kommunistische Regierung des Ostens zu ermitteln. Arnould hatte in Msgr. Montini und seiner Entourage die Verantwortlichen für die undichte Stelle ausfindig gemacht, und damit den Vatikan beunruhigt.
Bewunderer der Nouvelle Théologie
Sicher ist, daß der Erzbischof von Mailand ein Progressist und Bewunderer der Nouvelle Théologie und des „integralen Humanismus“ von Jacques Maritain war. Nach dem Tod von Papst Pacelli am 15. Dezember 1958 erhob ihn der neue Papst, Johannes XXIII., in den Kardinalsrang und ermöglichte ihm damit die Teilnahme am nächsten Konklave. Als 1962 das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet wurde, rechneten Journalisten den Namen des Erzbischofs von Mailand zu den Herolden des Progressismus wie die Kardinäle König, Erzbischof von Wien, Frings, Erzbischof von Köln, Döpfner, Erzbischof von München, Alfrink, Erzbischof von Utrecht, und Suenens, Erzbischof von Brüssel. Msgr. Helder Camara berichtet im Buch „Briefe aus dem Konzil. Nachtwachen im Kampf um das Zweite Vatikanum“ (deutsche Ausgabe: Edition Exodus, Luzern 2016) von seiner Begegnung mit Kardinal Suenens, bei der sie sich auf den Namen Montinis als geeignetsten Nachfolger für Johannes XXIII. einigten.
Nach dem Tod von Papst Roncalli, am 3. Juni 1963, kam es im Konklave zu einer harten Konfrontation. Trotz der starken Opposition von Kardinal Ottaviani wurde am 21. Juni Kardinal Montini mit dem Namen Paul VI. auf den Stuhl des Petrus gewählt. Am 22. Juni wandte sich der neue Papst mit seiner ersten Radiobotschaft an „die gesamte Menschheitsfamilie“ und kündigte an, daß die Fortsetzung des Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils vorrangiger Teil seines Pontifikats sein werde. Am folgenden Tag rief er beim Angelus auf dem Petersplatz Kardinal Suenens am Fenster des Apostolischen Palastes an seine Seite, den er mit der führenden Rolle bei der Leitung der Konzilsarbeiten beauftragte.
Die Linksöffnung
Der Papst unterstützte von Anfang an die „Linksöffnung“ der Christdemokraten (DC, Democrazia Cristiana), die am 23. November 1963 unter der Führung von Aldo Moro erstmals eine Regierung mit den Sozialisten bildete. Mindestens zweimal stützte Papst Montini in den Jahren 1963 und 1964 mit einigen Artikeln im Osservatore Romano das politische Handeln Moros.
Paul VI. war es, der auf dem Konzil 1965 persönlich die Initiative von fast 500 Konzilsvätern blockierte, die eine Verurteilung des Kommunismus verlangten. Auf internationaler Ebene unterstützte der Papst wie schon sein Vorgänger die sogenannte Ostpolitik, die den kommunistischen Regimen in Osteuropa die Hand reichte.
Eines der namhaftesten Opfer dieser Politik wurde Kardinal József Mindszenty, der nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes von 1956 sich in die amerikanische Botschaft in Budapest geflüchtet hatte und jedes Abkommen mit den kommunistischen Regierungen entschieden ablehnte. Als Paul VI. seinen Verzicht auf den Titel des Erzbischofs von Esztergom und des Primas von Ungarn wünschte, erteilte ihm der Kardinal eine respektvolle, aber eindeutige Absage. Paul VI. übernahm dann selbst die Verantwortung, den Stuhl des Erzbischof-Primas für vakant zu erklären und Kardinal Mindszenty am 18. November 1973 seine Absetzung als Erzbischof mitzuteilen. Das war ein Skandal, der Epoche machte.
Hauptarbeitsfeld Liturgie
In seiner Rede zur Eröffnung der zweiten Sitzungsperiode des Konzils, am 29. September 1963, benannte Paul VI. die Liturgie als ein Hauptarbeitsfeld für die Konzilsväter. Man hat versucht, Msgr. Annibale Bugnini zum „Urheber“ der Liturgiereform zu machen, als habe er dabei gegen den Willen von Paul VI. gehandelt. In Wirklichkeit, wie Bugnini selbst bezeugte, entstand die neue Liturgie in enger Zusammenarbeit zwischen dem Lazaristen und Paul VI.
„Wie viele Abendstunden“, erinnerte sich Msgr. Bugnini, „habe ich mit ihm verbracht, indem wir gemeinsam die zahlreichen, oft umfangreichen Dossiers studierten, die sich auf seinem Schreibtisch türmten! Er las und bedachte Zeile für Zeile, Wort für Wort, indem er zu allem schwarz, rot oder blau seine Anmerkungen hinzufügte und gegebenenfalls auch mit der für ihn typischen Dialektik kritisierte, die imstande war, zum selben Punkt zehn Fragen zu formulieren.“
Diese echte Revolution gelangte in die Kirche über die Ausarbeitung des neuen Ordo Missae, den Paul VI. am 3. April 1969 promulgierte. Bereits im September 1969 legten die Kardinäle Ottaviani und Bacci dem Papst eine Kurze kritische Untersuchung des neuen „Ordo Missae“ vor, die von einer internationalen Gruppe von Theologen erstellt worden war. Darin wurde bekräftigt, daß „der Novus Ordo Missae […] sowohl im Ganzen wie in den Einzelheiten ein auffallendes Abrücken von der katholischen Theologie der heiligen Messe dar(stellt), wie sie in der XXII. Sitzung des Konzils von Trient formuliert wurde“.
„Gekommen ist ein Tag des Sturms und der Finsternis“
Paul VI. entging nicht, was in jenen dramatischen Jahren geschah. Am 18. Januar 1967 überreichte ihm Kardinal Journet die Empfehlungen Maritains für ein neues „Glaubensbekenntnis“, das die Grundwahrheiten des Christentums wiederherstellen sollte, die durch die Jahre nach dem Konzil untergraben worden waren. Bei dieser Gelegenheit bat Paul VI. den Schweizer Kardinal um seine Beurteilung der Lage der Kirche. „Tragisch“, lautete die lapidare Antwort Journets. Am 7. Dezember 1968 fand Paul VI. in einer Ansprache im Lombardischen Seminar beeindruckende Worte:
„Die Kirche macht heute einen Moment der Unruhe durch. Manche üben sich in Selbstkritik, die man fast Selbstzerstörung nennen könnte. Es ist wie ein innerer Umbruch, den sich niemand nach dem Konzil erwartet hätte.“
Drei Jahre später, am 29. Juni 1972, stellte Paul VI. mit Blick auf den Zustand der Kirche mit ebensolcher Klarheit fest:
„[…] den Eindruck zu haben, daß durch irgendeinen Spalt der Rauch Satans, in den Tempel Gottes eingedrungen sei. […] Man glaubte, daß nach dem Konzil ein Sonnentag für die Geschichte der Kirche kommen würde. Gekommen ist stattdessen ein Wolkentag, ein Tag des Sturms, der Finsternis, der Suche und der Unsicherheit.“
Um die Krise zu überwinden, verfolgte der Papst die politische Strategie, die „gegensätzlichen Extreme“ zu verurteilen, die aus einer wohlwollenden Nachsichtigkeit gegenüber den Progressisten und aus strengen Sanktionen gegen jene bestand, die wie der französische Erzbischof Marcel Lefebvre der Tradition der Kirche treu bleiben wollten.
Zwei Ereignisse erschütterten das Leben von Paul VI. zutiefst
Zwei Ereignisse erschütterten das Leben von Paul VI. zutiefst: Der Widerspruch, den er im Sommer 1968 erlebte, und der Tod von Aldo Moro zehn Jahr später.
Paul VI. teilte die Position von Kardinal Suenens nicht, der darauf drängte, die Verhütungspille zu erlauben. Und obwohl die von ihm ernannten „Experten“, die das Problem studieren sollten, gegenteiliger Meinung waren, bekräftigte er am 25. Juli 1968 die Verurteilung der künstlichen Verhütung mit der Enzyklika Humanae vitae. Auf dieses Dokument, mit dem er gegen den Strom schwamm, folgten wilde Proteste, die von Theologen, Bischöfen und ganzen Bischofskonferenzen angeführt wurden, darunter der belgischen, die von Kardinal Suenens geleitet wurde. Paul VI. fühlte sich von den Konzilsvätern verraten, die ihm am nächsten standen. Diese ihrerseits betrachteten ihn als „Verräter“ und setzten ihm die Utopie des „guten Papstes“ Johannes XXIII. entgegen. Die Erschütterung war so groß, daß Paul VI. in den letzten zehn Jahren seines Pontifikats keine Enzyklika mehr veröffentlichte. Der Papst verfolgte aber weiterhin mit großer Aufmerksamkeit die italienische Politik und ermutigte den Versuch seines Jugendfreundes Aldo Moro, nach der Linksöffnung zu den Sozialisten auch noch den „historischen Kompromiß“ mit den Kommunisten zu verwirklichen.
Am 16. März 1978, dem Tag, an dem im Parlament einer von Giulio Andreotti (DC) geführten Regierung mit den Stimmen der Kommunisten das Vertrauen ausgesprochen werden sollte, wurde Moro von den Roten Brigaden entführt und seine fünfköpfige Eskorte in einem Hinterhalt getötet. Paul VI. war erschüttert. Am folgenden Tag ließ er mit einer Erklärung des Staatssekretariats wissen, daß er bereit war, seine ganze moralische und materielle Unterstützung zu geben, um das Leben des christdemokratischen Parteivorsitzenden zu retten. Am 22. April schrieb der Papst einen offenen Brief „an die Menschen der Roten Brigaden“, wie er die Terroristen nannte, und bat sie auf den Knien, Aldo Moro bedingungslos freizulassen, „nicht so sehr wegen meiner demütigen und liebevollen Fürsprache, sondern kraft seiner Würde als Bruder in der Menschlichkeit“. Der Appell wurde nicht erhört. Am 9. Mai wurde der leblose Körper des DC-Vorsitzenden im Kofferraum eines Renaults in der römischen Via Caetani gefunden, nur wenige Meter von den Parteisitzen der KPI und der DC entfernt. Das war, wie der Sekretär von Paul VI., Msgr. Macchi, erinnert,
„ein tödlicher Schlag, für seine bereits von der Krankheit und dem fortgeschrittenen Alter gezeichneten Person“.
Der Tod Pauls VI. „Deo gratias“ und das Beileid der Freimaurer
Am 13. Mai nahm der Papst in der Lateranbasilika an der von Kardinalvikar Ugo Poletti zelebrierten Totenfeier teil und hielt eine Ansprache, die fast wie ein Vorwurf gegen Gott klang, weil Er die Bitte um Rettung Aldo Moros nicht erhört hatte. Das tragische Ereignis beschleunigte das Schwinden seiner Kräfte. Mitte Juli verließ Paul VI. Rom, um sich in die Sommerresidenz Castel Gandolfo zu begeben, wo er am 6. August 1978 um 21.40 Uhr verstorben ist.
Die Beileidsschreiben zum Tod von Paul VI. waren zahllos. Unter ihnen fielen vor allem die Worte des ehemaligen Großmeisters des Großorient von Italien, Giordano Gamberini, auf:
„Es ist das erste Mal in der Geschichte der modernen Freimaurerei, daß das Oberhaupt der größten, westlichen Religion nicht in Feindschaft mit den Freimaurern stirbt. Und zum ersten Mal in der Geschichte können die Freimaurer dem Grab eines Papstes ohne Zweideutigkeit und Widersprüche die Ehre erweisen“.
Als mich die Nachricht vom Tod Pauls VI. erreichte, befand ich mich zusammen mit Giovanni Cantoni und Agostino Sanfratello in Savigliano (Piemont) in der Villa des Philosophen Augusto Del Noce (1910–1989). Einem der Anwesenden entschlüpfte ein Deo gratias! Augusto Del Noce war im privaten Kreis ein strenger Kritiker des Montini-Pontifikats. In uns war die Hoffnung lebendig, daß mit dem Tod von Paul VI. auch der Rauch Satans, der in den Tempel Gottes eingedrungen war, wieder verschwinden würde. In den folgenden Pontifikaten wurden die Fenster, durch die der Rauch eindrang, aber nur zur Hälfte geschlossen – und jetzt sind sie wieder ganz offen. Der Rauch Satans hat sich in einen Brand verwandelt, der die Kirche verwüstet wie die Feuer, die in diesem heißen Sommer in Griechenland und Kalifornien wüten. Der Papst, der vor 40 Jahren starb, und von dem die erstaunliche Heiligsprechung angekündigt wird, war einer der Hauptverantwortlichen für den Flächenbrand, der heute um sich greift.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: Vicario di Cristo. Il primato di Pietro tra normalità ed eccezione (Stellvertreter Christi. Der Primat des Petrus zwischen Normalität und Ausnahme), Verona 2013; in deutscher Übersetzung zuletzt: Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte, Ruppichteroth 2011.
Übersetzunng: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana