
(Rom) Papst Franziskus besuchte vom 19. – 21. Januar Peru. Dieser Teil seiner vierten Südamerika-Reise ging in der Medienberichterstattung, im Vergleich zum direkt vorausgehenden Besuch in Chile, etwas unter. Dabei waren auch diese drei Tage von zahlreichen Gesten geprägt, die in dem lateinamerikanischen Land für Aufmerksamkeit und Diskussionen sorgten.
Zu den Gesten gehörte zum Beispiel die Taufe eines Mädchens mit Cerebralparese. In Peru wurde Papst Franziskus von jenen katholischen Massen empfangen, die in Chile abwesend waren. Im Gegensatz zur nicht getauften, sozialistischen Staatspräsidentin Chiles, Michelle Bachelet, wollte Perus liberaler, aber katholischer Staatspräsident Pedro Pablo Kuszynski (der Vater war Jude, die Mutter Calvinistin) den Fischerring des Papstes küssen, was Franziskus durch Entzug der Hand verhinderte.
Gutierrez der „Vater der Befreiungstheologie“
Andere Momente des Papst-Besuches blieben weitgehend unbeachtet. Bei manchen lagen die Gründe auf der Hand, bei anderen weniger. Zu letzteren gehört ein Empfang, den Papst Franziskus am letzten Tag seines Peru-Aufenthaltes in der Apostolischen Nuntiatur in Lima gab. Empfangen wurde von ihm neben anderen auch Gustavo Gutierrez, der „Vater der Befreiungstheologie“.

Der Peruaner Gutierrez, der in Löwen und Lyon studierte, war 1959 für das Erzbistum Lima zum Priester geweiht worden. Sein Denken wurde vor allem von Edward Schillebeeckx, Karl Rahner, Johann Baptist Metz und Hans Küng geprägt. 1968 prägte er den Begriff „Befreiungstheologie“, der zum Synonym für den Versuch einer Symbiose zwischen dem Christentum und dem atheistischen Marxismus wurde. 1971 gab er ein gleichnamiges Buch heraus. „Befreiungstheologie“ wurde zum Sammelbegriff für eine Strömung unterschiedlicher Vertreter und Richtungen. Ausgangspunkt waren zwei Aspekte: die verbreitete Armut in der Bevölkerung einerseits und als Lösung die faszinierende, scheinbar unaufhaltsam voranschreitende Ausbreitung des realen Sozialismus. Gutierrez selbst bediente sich der marxistischen Gesellschaftsanalyse.
Der Vatikan reagierte unter Papst Johannes Paul II. und dem Glaubenspräfekten Joseph Kardinal Ratzinger mit einer klärenden Verurteilung der marxistischen Elemente in der Befreiungstheologie durch die Instruktionen Libertatis nuntius (1984) und Libertatis coscientia (1986). Zugleich wurde eine Vereinnahmung der vereinbaren Aspekte versucht.
Im Gegensatz zu anderen Priestern und Theologen, die ihr Priestertum aufgaben, sich dem bewaffneten Kampf anschlossen oder sogar die Kirche verließen, suchte Gutierrez nach 1984 den Dialog, auch mit Rom. Er bemühte sich, wie es unter Apologeten heißt, um eine „Selbstreinigung“ seiner Thesen und vermied jede eklatante Nähe zum Marxismus, die andere Befreiungstheologen hingegen suchten und zu Beratern oder sogar Ministern revolutionärer Regierungen wurden.
2001 trat er in den Dominikanerorden ein, was auch mit der Ernennung von Kardinal Cipriani Thorne vom Opus Dei, einem strikten Gegner der Befreiungstheologie, zum neuen Erzbischof von Lima zu tun gehabt haben soll.
Unter Beobachtung der Glaubenskongregation
Viele Jahre stand Gutierrez unter Beobachtung durch die Glaubenskongregation. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft setzte ab 1989/1991 eine Entspannung ein, weil revolutionäre, marxistische Bewegungen Lateinamerikas aus dem Ostblock keine Unterstützung mehr erhielten. Mit dem Ende der Sowjetunion fiel auch die intensive, publizistische Phase von Gutierrez zusammen, der anschließend nur mehr wenig veröffentlichte und keine diese Veröffentlichungen zu seinen Hauptwerken gezählt wird.

Die Beobachtung wurde aber faktisch erst mit dem Ausscheiden von Kardinal Ratzinger als Glaubenspräfekt eingestellt. Oder genauer gesagt, mit der Veröffentlichung des gemeinsamen Buches „An der Seite der Armen: Theologie der Befreiung“ im Jahr 2004 durch den damaligen Bischof von Regensburg, Gerhard Ludwig Müller, und Gutierrez. Zu einer offiziellen Verurteilung von Gutierrez-Schriften kam es nicht.
Ob es in Gutierrez bisher zu einem wirklichen Umdenkprozeß gekommen ist, und in welcher Form genau, gilt als umstritten. Zumindest eine gewisse Uminterpretation kann kaum bestritten werden, wenngleich seine Anhänger darauf beharren, daß er den Grundthesen der Befreiungstheologie treugeblieben sei. Die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. erkannten seine Dialogbereitschaft an, hielten ihn aber auf Distanz. Sie vermieden jede Geste, die eine Anerkennung der Befreiungstheologie signalisieren hätte können. Noch im Juli 2013 schrieb der Online-Dienst des ORF über die Befreiungstheologie: „Inzwischen führt sie ein mediales Schattendasein“. Unter Papst Franziskus änderte sich das.
Gutierrez in Rom, Befreiungstheologie salonfähig

Dabei hieß es zunächst, Bergoglio hege – wegen einer Unfreundlichkeit gegenüber einem Bekannten – keine Sympathien für Gutierrez. Es war der inzwischen zum Glaubenspräfekt aufgestiegene Regensburger Bischof Gerhard Müller, der Gutierrez im Vatikan salonfähig machte. Über den dadurch vermittelten Eindruck der Janusköpfigkeit Müllers wurde viel spekuliert.
Inzwischen pflegt Franziskus die Kontakte zu Gutierrez selbst, während er Kardinal Müller vor die Tür setzte. Genau ein halbes Jahr nach seiner Wahl zum Papst tat Franziskus, was seine Vorgänger mit Bedacht vermieden hatten: Gustavo Gutierrez, den Kardinal Müller zur Vorstellung einer Übersetzung des Buches „An der Seite der Armen. Theologie der Befreiung“ nach Rom eingeladen hatte, wurde von Franziskus in Privataudienz empfangen. Die Rede war von einer Geste der „Versöhnung“ und dem Versuch, eine vom Marxismus gereinigte Befreiungstheologie in die Kirche zu integrieren.
Der Osservatore Romano strich bereits Tage zu zuvor, am 4. September 2013, das Buch über zwei Seiten heraus. Der Titel war dabei Programm:
„Theologie der Befreiung, Theologie der Kirche“.
Nebeneinander wurden Textauszüge von Gutierrez und von Müller veröffentlicht. Die „Tageszeitung des Papstes“ schrieb dazu mit einem wenig verklausulierten Seitenhieb gegen die beiden vorhergehenden Pontifikate:
Franziskus habe die Befreiungstheologie „aus dem Schatten herausführt, in den sie seit einigen Jahren verbannt war“.
„Müller ist ein bißchen naiv“
Katholisches.info schrieb damals zu diesen römischen Ereignissen:
„Soll die Befreiungstheologie nur historisiert werden? Hält man sie inzwischen für ausreichend harmlos? Oder ist es ein später Sieg der kirchlichen 68er, die der zahnlos gewordenen revolutionären Theologie zumindest einen symbolischen Sieg sichern wollen? Gutierrez als Säulenheiliger und Brückenbauer wie Che Guevara zwischen der kirchlichen und außerkirchlichen Linken?
Gutierrez gilt als Vater oder Gründer der Befreiungstheologie, doch läßt sich kein direkter Zusammenhang mit dem Marxismus feststellen, den hingegen die meisten seiner Anhänger herstellten. Gutierrez gelang es daher, eine ambivalente Position einzunehmen, die eine offene Verurteilung durch Rom verhinderte und ihn dennoch gleichzeitig eine Symbolgestalt der marxistischen Befreiungstheologie sein ließ.
Müller wurde 2013 von linker Seite vorgeworfen, eine Historisierung der Befreiungstheologie zu betreiben: Die Befreiungstheologie als eine von zahlreichen ideologischen und häretischen Verirrungen im Laufe der Kirchengeschichte, die abgehakt in die Museumsvitrine gestellt und in ihrer geläuterten Form integriert wird. Das sei eine ‚naive‘, sozialromantische europäische Sicht der Dinge, konterte noch im September 2013 Erzbischof Luis Kardinal Cipriani Thorne von Lima in Peru.“
Kardinal Cipriani läßt keinen Zweifel daran, daß die Befreiungstheologie der Kirche „großen Schaden zugefügt“ habe.
Wären die Vorstellungen der Befreiungstheologen, auch jener, die heute harmlos auftreten, in den 70er und 80er Jahren Wirklichkeit geworden, hätten sie direkt in realsozialistische, also kommunistische Regime geführt. Lediglich der Servitenpater und ehemalige Befreiungstheologe Clodovis Boff, der Bruder von Leonardo Boff, zeigte wirkliche Einsicht und distanzierte sich von der Befreiungstheologie:
„In den 70er Jahren entzog mir Kardinal Eugenio Sales die Lehrerlaubnis für Theologie an der Katholischen Universität von Rio. Sales erklärte mir auf liebenswürdige Art: ‚Clodovis, ich denke, Du irrst Dich. Gutes tun genügt nicht, um Christ zu sein. Das Zentrale ist, den Glauben zu bekennen…‘ Er hatte recht. Tatsächlich wurde die Kirche für uns irrelevant. Und nicht nur sie, auch Christus selbst.“
Gutierrez kamen bisher keine solchen Worten über die Lippen. Er begnügte sich, lediglich Korrekturen in der Präsentation seiner Thesen vorzunehmen, ansonsten aber beharrlich deren Richtigkeit zu rechtfertigen. Dazu gehört sein Interview mit Radio Vatikan von 2015, in dem er beharrlich betonte, die Befreiungstheologie sei nie von der Kirche verurteilt worden. So verkürzt kann man die Wirklichkeit auch darstellen.
Zur Gänze noch nicht aufgearbeitet ist die Kollaboration von Befreiungstheologen und Linkskatholiken mit kommunistischen Regimen und deren Christenverfolgung.
Dritter Empfang für Gutierrez

2015 empfing Papst Franziskus Gutierrez ein zweites Mal. Dieses Mal durfte der „Vater der Befreiungstheologie“ öffentlich bei einer Pressekonferenz an der Seite von „Vizepapst“ Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga, damals scheidender Präsident der Caritas Internationalis auftreten.
Am vergangenen 21. Januar kam es in der Nuntiatur in Lima zu einer dritten Begegnung zwischen dem Papst und dem inzwischen 89jährigen Gutierrez. Erstaunlicherweise blieb das Ereignis aber völlig unbeachtet. Die Gründe dafür, ob beabsichtigt oder zufällig, sind nicht bekannt.
Lediglich das Pressezentrum OSEVOZ, einer Einrichtung der Jesuitenuniversität Antonio Ruiz de Montoya von Lima und des von Gutierrez gegründeten Instituto Bartolomé de Las Casas, berichtete das Ereignis:
„Am Sonntag, dem letzten Tag seines Besuchs in Peru, hatte Papst Franziskus ein Treffen mit Pater Gutiérrez, der zusammen mit anderen Persönlichkeiten und Mitgliedern apostolischer Bewegungen in den frühen Morgenstunden in die Apostolische Nuntiatur eingeladen wurde. In diesem kurzen Treffen erinnerte der Papst Pater Gutiérrez an das letzte Mal, als sie in Santa Marta in Rom zusammen waren.
Pater Gustavo Gutiérrez, Priester, Theologe und Mitglied des Dominikanerordens, kann auf eine lange und wichtige Karriere verweisen, sowohl wegen seines Beitrages zum theologischen Denken als auch wegen seiner pastoralen Arbeit. Seine dauerhafte und beharrliche Mahnung, dass die bevorzugte Option für die Armen im Mittelpunkt der Botschaft des Evangeliums und der Nachfolge Jesu steht, hat das zeitgenössische theologische Denken weltweit maßgeblich geprägt.
Dieses kurze Treffen zwischen Papst Franziskus und P. Gutierrez drückt den Weg der Kirche aus, die seit dem II. Vatikanischen Konzil und der Bischofskonferenz von Medellin zur authentischsten Botschaft des Evangeliums zurückzukehren versucht: dem Angesicht Christi in der liebenden Praxis gegenüber den Unbedeutendsten begegnen.“
Die dritte Audienz für Gutierrez ist auch unter dem Blickwinkel zu betrachten, daß Franziskus zugleich hohen und höchsten Kirchenvertretern Audienz und Antwort verweigert.
Tatsache ist, daß Papst Franziskus durch die mehrfachen Gesten bestimmten Linkskreisen in- und außerhalb der Kirche, die bis 2013 Rom sehr distanziert gegenüberstanden, Signale sandte, die dort durchaus wohlwollend aufgenommen wurden, ohne daß er sich in Richtung Marxismus angreifbar kompromittiert hätte. Die ambivalente Gestalt von Gutierrez erlaubt diesen Spagat.
Ist die Befreiungstheologie aber wirklich harmlos geworden, weil sich die äußeren politischen Rahmenbedingungen geändert haben?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: /CorreoDigital/IBC (Screenshots)
Es ist erschreckend, mit wem der Papst spricht und wem er das Gespräch verweigert.