Von Msgr. Dr. Marian Eleganti*
Am 25. Januar 1986 kündigte Papst Johannes Paul II. das erste multireligiöse Weltgebetstreffen für den Frieden an, das im gleichen Jahr dann am 27. Oktober stattgefunden hat. Es nahmen 150 Vertreter verschiedener religiöser Gruppierungen daran teil, darunter der Dalai Lama Tenzin Gyatso, Vertreter des tibetischen Buddhismus, Hinduismus und Sikhismus, Inamullah Khan vom islamischen Weltkongress und der römische Grossrabbiner Elio Toaff, um nur einige zu nennen.
Weitere Treffen folgten mit unterschiedlichen Akzenten: 1993; 2002; 2011 und 2016.
Was die interreligiösen Treffen in Assisi betrifft, gab es Bedenken von Kurienbeamten und Bischöfen von allem Anfang an. Sie fragten sich, ob dieses Treffen nichtkatholischer und nichtchristlicher Religionsführer «der Häresie des Synkretismus» nicht gefährlich nahe käme.1 Vor allem: Stellten diese Treffen nicht ipso facto alle religiösen Traditionen auf die gleiche Stufe? «Wie konnte der Papst mit Männern und Frauen beten, die einen anderen Gott oder viele Götter verehrten?»2 In der Tat war dieses Treffen die Idee von Johannes Paul II. Wie Kardinal Etchegaray erklärte, war der Papst davon überzeugt, dass die religiösen Traditionen der Welt ein Friedenspotential für den Umgang mit internationalen Konflikten besassen.3 Schon an diesem Punkt erhebt sich gleich die Frage, ob nicht auch das Gegenteil der Fall ist. Denken wir heute an das Ausmass der Christenverfolgung vor allem in muslimischen Ländern, aber auch von Seiten eines nationalistischen Hinduismus, um nur auf zwei Beispiele hinzuweisen. Man war bemüht, dass jeder Vertreter seiner Religion auf seine eigene Weise und an einem eigenen Ort beten sollte, um erst danach zusammen zu kommen, denn «Johannes Paul war klar, dass das kein universales gemeinsames Gebet bedeuten konnte, denn das wäre wirklich Synkretismus gewesen und war daher unmöglich – nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere»4. Dabei sollte auch gefastet werden, und Papst Johannes Paul wählte als Ort Assisi, um sich dorthin in der Weise eines Pilgers begeben zu können. Im Hinblick auf das 4. Assisi-Treffen der Weltreligionen nahm Papst Benedikt in einem Brief vom 4. März 2011 an den lutheranischen Pastor Peter Beyerhaus Stellung: «Jedenfalls werde ich alles tun, damit eine synkretistische oder relativistische Auslegung des Vorgangs unmöglich wird und klar bleibt, dass ich weiterhin das glaube und bekenne, was ich als Schreiben ‚Dominus Jesus‘ der Kirche in Erinnerung gerufen hatte.„5
Das dürften exakt auch die Befürchtungen des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation gewesen sein, die er schon beim ersten Treffen hegte und die sich offenbar im Lauf der Jahre nicht verflüchtigt haben. Dabei durfte auch die Macht der Bilder nicht unterschätzt werden, welche weniger differenziert daherkamen als die theologischen Klarstellungen Ratzingers. Der damalige Präfekt der apostolischen Signatur Kardinal Raymond Leo Burke, schrieb 2011 zur Macht der Bilder:
„There are a number of dangers that such an encounter could bring in terms of the mass media communication of the event, of which – as it is clear – the pontiff is well aware. The means of mass media communication will say, even with the images alone, that all religions have come together to ask God for peace. A poorly formed Christian could draw from this the gravely mistaken conclusion that one religion is as good as another, and that Jesus Christ is one of the many mediators of salvation.“ 6
Wie beim Vatikanum II bot mutatis mutandis der sogenannte «Geist von Assisi» (vgl. Enzo Bianchi; Andrea Riccardi; Kard. Etchegaray; der Patriarch von Konstantinopel) eine viel beschworene, aber äusserst schwammige und undifferenzierte mögliche Legitimation relativistischer Tendenzen in der Kirche, denen schliesslich Dominus Jesus endgültig entgegenzutreten versuchte. Kardinal Ratzinger nahm jedenfalls am ersten Treffen nicht teil und seine Vorbehalte haben sich im Lauf der Jahre eher verstärkt als abgeschwächt. Für ihn sind Religionen nicht austauschbare Symbole des einen unsichtbaren Gottes hinter allem, den wir im Grunde alle meinen, und wir sind nicht alle Kinder Gottes, nur deshalb, weil wir von Natur zum Menschengeschlecht gehören. Diesbezüglich ist Franziskus inzwischen sehr viel weiter gegangen als seine Vorgänger. Darauf werden wir noch im Detail zu sprechen kommen. Eines ist sicher:
Der Auftrag des Herrn, allen Völkern das Evangelium zu verkünden und sie zu seinen Jüngern zu machen (Mt 28,18–20; Mk 16,15f; Lk 24,46f; Joh 20,21; Apg 1,8) bleibt vielerorts ausgeblendet und dies seit Jahrzehnten. Viele Menschen anerkennen die Berechtigung von Entwicklungshilfe, nicht aber die Notwendigkeit christlicher Mission, die sie dezidiert ablehnen. Religiöser Individualismus und multikultureller Pluralismus, die ipso facto relativistisch sind, haben eine gesellschaftliche Atmosphäre geschaffen, die sich durch eine grosse Allergie und Animosität gegenüber Wahrheitsansprüchen auszeichnet. Die Überzeugung, dass alle Religionen nur verschiedene Wege zum gleichen Ziel sind, ist weit verbreitet. Es soll keine Religion mehr geben, die von sich behauptet, im Besitz der (angeblich »gepachteten«) Wahrheit zu sein.

Leider gehen die Aussagen von Papst Franziskus am katholischen Junior College in Singapur am 13. September 2024 in diese Richtung und sind, bei allem Respekt für den Papst, objektiv skandalös. Ich zitiere: «Eines der Dinge, die mir an euch jungen Leuten, an euch hier, am meisten aufgefallen sind, ist die Fähigkeit zum interreligiösen Dialog. Und das ist sehr wichtig, denn wenn ihr anfängt zu argumentieren: ‚Meine Religion ist wichtiger als eure…‘, ‚Meine ist die wahre, eure ist nicht wahr…‘. Wohin führt das alles? Wohin, antwortet jemand, wohin? [Jemand antwortet: ‚Zerstörung‘]. So ist es. Alle Religionen sind ein Weg zu Gott. Sie sind – ich stelle einen Vergleich an – wie verschiedene Sprachen, verschiedene Redewendungen, um dorthin zu gelangen. Aber Gott ist Gott für alle. Und weil Gott Gott für alle ist, sind wir alle Gottes Kinder. ‚Aber mein Gott ist wichtiger als deiner!‘ Ist das wahr? Es gibt nur einen Gott und wir, unsere Religionen sind Sprachen, Wege zu Gott. Manche sind Sikhs, manche Muslime, manche Hindus, manche Christen, aber es sind unterschiedliche Wege. Verstanden?»7 Das ist eine Ansicht, wie ich sie schon in den Neunziger Jahren in einem Seminar über die pluralistische Religionstheologie in Salzburg bekämpft habe.
Der religiöse Pluralismus widersetzt sich jeder »Ideologie«, die als die »allein gültige« oder »allein selig machende« allen Menschen – wieder eine Unterstellung – »aufgezwungen« werden soll. Akzeptiert wird eine Haltung, die den Menschen helfen, aber sie nicht »bekehren« will. „Mission“ erscheint hier als eine Form der Anmassung und des Stolzes. Eine der führenden Vordenkerinnen feministischer Theologie, Rosemary R. Ruether stufte die universalistische Konzeption des Christentums, die »Mission« erfordere, um die »frohe Botschaft« zu verbreiten, als reinen »Imperialismus« ein. Auch christliche Theologen stellen Christus mit anderen Heilsmittlern wieder in eine Reihe (vgl. die »Christologie« des amerikanischen Presbyters J. Hick). Der Absolutheitsanspruch Jesu ist für ihre Theologie „ein zentrales Problem“8 und bedarf nach ihrer Ansicht im Kontext der anderen Visionen göttlicher Wirklichkeit, sogenannter Gottesahnungen, einer neuen Bewertung. Ein Vertreter dieser Konzeption ist auch Perry Schmidt-Leukel9,
Der dem Sendungsbefehl bzw. Missionsgedanken zugrunde liegende Absolutheitsanspruch Jesu wird also wieder zum grossen Ärgernis: „Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ (1 Kor 1,23) Deshalb sollte in den letzten Jahrzehnten der Missionsbegriff durch die mit weniger »Negativ‑Frachten« beladene Idee der Partnerschaft und des Dialogs (der Religionen) bzw. durch «intercultural learning» ersetzt werden. Es zeigt sich, dass wir heute Toleranz als Verzicht auf Überzeugungen und Wahrheitsansprüche missverstehen. In der Folge kann dann «Mission» alles Mögliche (Einsatz für das Klima oder für eine schranken- und grenzenlose Migration) bedeuten, nur nicht jemanden von der Wahrheit – in unserem Kontext von Jesus Christus – zu überzeugen. Das scheint auch die Ansicht von Papst Franziskus gewesen zu sein.
»Dialog« aber als Inbegriff eines relativistischen Credo’s, das von vornherein und prinzipiell keinem Mitredenden die Möglichkeit einer tieferen Einsicht in die Wahrheit zugesteht als dem anderen, macht genau diesen Dialog überflüssig und sinnlos. Sokrates meint im Phaidon (91, a‑c): „Es ist nur schön, von etwas überzeugt zu sein, wenn es auch wahr ist!“.10 Ja, es stellt sich die Frage: Kann man überhaupt einer Religion anhangen, von deren Wahrheit (ja Vor-züglichkeit), man nicht wirklich überzeugt ist (denn sonst müsste man sie ja ehrlicherweise aufgeben oder wechseln)? Dialog und Verkündigung sind selbstverständlich aufeinander bezogen und in diesem Sinne gar keine echten Alternativen (vgl. Dokument des päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog vom 19. Mai 1991). Der Dialog schliesst das Glaubenszeugnis ein, die Verkündigung setzt den Dialog voraus. Das Werk der Überzeugung aber wirkt Gott allein. Von ihm stammt der Erweis von Geist und Kraft, der keiner Überredungskünste bedarf. „Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte, sondern auf die Kraft Gottes.“(1 Kor 2,4).
„Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter; er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle, ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit, als dessen Verkünder und Apostel ich eingesetzt wurde – ich sage die Wahrheit und lüge nicht -, als Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit.“ (1Tim 2,3–7)
Von hier aus stellte sich für mich die Frage, was Franziskus unter Proselytismus verstand, den er immer wieder dezidiert ablehnte, eine Polemik, die bei ihm meiner Meinung nach einer Ablehnung von Mission gleichkam. Verstand er unter Mission die Propagierung eines multikulturellen, toleranten und dialogischen Friedensreiches der Koexistenz aller Gegensätze und Widersprüche mit offenen Grenzen und wünschenswerten gerechten sozialen Verhältnissen? Eine Art innerweltliches Reich Gottes universaler Brüderlichkeit ohne störende Wahrheitsfrage und deshalb ohne die explizite Mittlerschaft Jesu Christi, höchstens noch als moralisches Vorbild?
Religionen meinen nicht alle das Gleiche, wo sie von Gott reden oder ihn zu erfahren glauben! Und ich glaube auch nicht, dass sie dabei alle in die gleiche Richtung gehen. Auch bin ich nicht davon überzeugt, dass die grossen Religionen der Welt nur verschiedene Spielarten der Selbstmitteilung Gottes sind. Mit den Samenkörnern der Wahrheit, die es auch bei den Heiden gibt, meinten die Väter nicht in erster Linie ihre Religionen, sondern vor allem ihre weit entwickelte (griechische) Philosophie. Denken wir an antike Philosophen wie Platon und Aristoteles oder an asiatische Weisheitslehrer wie etwa Konfuzius. Die heidnischen Religionen aber hielten die Väter für dämonisch inspiriert. Ihre diesbezügliche Ansicht gründet in der Hl. Schrift: 1 Kor 10,20: „Was die Heiden opfern, das opfern sie den Dämonen und nicht Gott.“ 1 Kor 10,20. „Alle Götter der Heiden sind Dämonen.“ Ps 95(96),5. Daraus leiteten viele Väter ab, dass hinter den Götzenkulten nicht bloss menschlicher Irrtum, sondern eine geistige Macht stehe, die den wahren Gott verdunkelt. Thomas von Aquin (13. Jh.) lehrt, dass es in den heidnischen Religionen Spuren von Wahrheit gebe (z. B. natürliche Gotteserkenntnis), die aber durch dämonische Einflüsse und menschliche Irrtümer verdorben oder pervertiert wurden. Summa Theologiae II-II, q.94, a.4: „Die Dämonen bewirkten, dass die Menschen den Geschöpfen göttliche Verehrung erwiesen.“
Die in der pluralistischen Religionstheologie vorangetriebene Relativierung der Person Jesu Christi und die darauf aufbauende Neukonzeption einer Theologie der Religionen gründet im apriorischen Ausschluss der Möglichkeit Gottes, sich auf eine einzigartige, unwiederholbare und bleibende Weise geschichtlich zu inkarnieren und damit sich allgemein verbindlich und verständlich offenbaren zu können. »Offenbarung« im theologischen Sinn darf deshalb nicht in universalreligiöse vage »Mystik« aufgelöst werden. Daraus folgt, dass die diesbezüglichen Äusserungen des religiösen Bewusstseins im interreligiösen Kontext nicht unterschiedslos dem allgegenwärtigen Wirken des Geistes Gottes zugeschrieben werden können. Es kann nicht sein, dass in Jesus Christus der gleiche Gott seinen vielgeliebten Sohn bezeugt hat (vgl. Mt 3,17.17,5; Mk 1,11.9,7.12,6; Lk 3,22; 2 Petr 1,17) und ein paar Jahrhunderte später durch Mohammed, angeblich das Siegel der Propheten, verkünden lässt: Gott hat keinen Sohn (!) wie es die antichristliche und antitrinitarische Polemik des Koran haben will.
Interkulturell gesehen ist das Evangelium Salz der Erde und Licht der Welt. Es zeigt etwas, das sonst nicht gesehen werden kann. Es ist in diesem Sinn auch Religionskritik. Wie das Gespräch Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen zeigt, können Geltungsansprüche ohne Abstriche («Das Heil kommt von den Juden»; «der wahre Tempel steht in Jerusalem» vgl. Joh. 4,22f) mit Dialogfähigkeit und Respekt gegenüber dem anderen Denken zusammen bestehen. Dieses Gespräch zeigt bei aller Behutsamkeit, das Gegenüber zu einer tieferen Einsicht zu bewegen, dass es nicht einerlei ist, mit wem oder mit welchem Glauben man es in der Auseinandersetzung mit einem religiösen Anspruch zu tun hat: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ (Joh 4,10) Im Vergleich mit dieser Erkenntnis hat Paulus dann auch alles dahingegeben: „Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen.“ (Phil 3,8) Man denkt unweigerlich an das Gleichnis Jesu: „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker.“ Mt 13,44. Das Johannesevangelium sieht in der Erkenntnis Christi das ewige Leben schlechthin: „Das ist das ewige Leben: Dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast.“ Joh 17,3. Wie aber soll man Ihn erkennen, wenn ihn niemand verkündet, die rhetorische Frage des Apostels (vgl. Röm 10,14)?
Grosse Kritik hervorgerufen hat die Stelle in der Erklärung von Abu Dhabi, wo von einer gottgewollten Pluralität der Religionen die Rede ist. Es heisst dort: «Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat.» Wendet man diesen Satz auf den Islam an, wird einem gleich klar, wie falsch er ist. Denn der Islam ist erklärtermassen eine antichristliche Religion. Christentum und Islam können nicht nur wahrheitstheoretisch, sondern auch praktisch nicht zusammen bestehen. Das zeigt sich auch darin, dass der Islam das Christentum überall, wo er herrscht, zum Verschwinden bringt und immer verfolgt und unterdrückt hat. Die meisten christlichen Märtyrer sterben heute durch muslimische Hand. Weiter heisst es: «Weiters erklären wir – mit Entschiedenheit –, dass die Religionen nie zum Krieg anstiften und weder zu Gefühlen des Hasses, der Feindschaft, des Extremismus noch zur Gewalt oder zum Blutvergiessen aufrufen. Diese Katastrophen sind das Ergebnis der Abirrung von den religiösen Lehren, der politischen Benutzung der Religionen.» Das ist nichts anderes als Geschichtsklitterung und Realitätsblindheit, wenn nicht bewusste Täuschung. Lehren etwa alle Religionen in gleicher Weise Gewaltlosigkeit wie das Evangelium? Liegt nicht gerade in seinem Verhältnis zur Gewalt das wahre Problem des Islam im interreligiösen Kontext? Die Behauptung, dass „die Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergiessen auffordern“ ist eine eklatant falsche Behauptung. Sie widerspricht insbesondere den Gründungsdokumenten und der Geschichte des Islam (Koran und Hadithe), die explizit zu Gewalt auffordern und immer Gewalt angewandt haben. Auf jeden Fall ist die Vorstellung dem Islam völlig fremd, in jedem Menschen, also auch in Christen, Juden und Ungläubigen (Kuffãr) einen Bruder zu sehen. Wie die Abu-Dhabi-Erklärung das Selbstverständnis des Islam, welcher die Welt in ein Haus des Friedens (Dãr al-Islãm), wo der Islam herrscht, und in ein Haus des Krieges (Dãr al Harb), wo dies nicht der Fall ist, einteilt, umdeuten könnte, darf bezweifelt werden. Christen haben im Gegensatz dazu das Gleichnis vom barmherzigen Samariter verinnerlicht, aufgrund dessen sie in jedem Fremden ihren Nächsten sehen. Dies ist für sie absolut normativ und geboten, auch ein Grund, weshalb das Christentum wie keine andere Religion zur Humanisierung der Welt beigetragen hat. Christus selbst hat sich in den Gleichnissen vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25–37) und vom Gericht des Menschensohnes über die Völker (Mt 25,31–46) mit jedem Menschen solidarisiert, der prinzipiell und immer zu meinem Nächsten werden kann. Jesus ist für alle Menschen gestorben. Das begründet für Christen eine qualitativ andere Beziehung als der Islam sie hat zu allen Menschen, unabhängig von deren Glauben und Weltanschauung. Die christliche Nächstenliebe geht sogar so weit, auch die Feinde zu umfassen (Inklusion). Eine solche Vorstellung, z. B. auch die sog. «Feinde» bzw. «Gegner» des Islam zu lieben, erscheint dem Islam als völlig unvernünftig und nicht nachvollziehbar. Was kann daran eine Erklärung ändern von einer Autorität, die gar nicht für alle Muslime und für den Islam insgesamt normativ ist? Warum wird die Lehre Jesu, alle Menschen zu lieben, die implizit als die eigentliche Quelle der Vorstellung universaler Mitmenschlichkeit (Brüderlichkeit) zwischen allen Menschen zu gelten hat, in der Abu-Dhabi-Erklärung nicht namentlich genannt? Immerhin gilt Jesus auch im Islam als Prophet, ohne paradoxerweise seine Lehre und sein Selbstverständnis wirklich zu übernehmen.
Nur Muslime sind dem gläubigen Muslim echte (Glaubens-) Brüder. Sie bilden die Umma (Glaubensgemeinschaft). Die Andersgläubigen und die Ungläubigen sind im Islam per se Bürger (Menschen) zweiter Klasse, denn der Mensch wurde in der Vorstellungswelt des Islam schöpfungsmässig als Muslim geboren (der Islam als Urreligion Adams bzw. Abrahams), und Juden wie Christen haben nach muslimischer Überzeugung den wahren Glauben im Laufe der Geschichte verfälscht. Sonst wären sie Muslime (geblieben). Das begründet eine fundamentale Ungleichheit zwischen ihnen und gläubigen Muslimen, welche das Abu-Dhabi-Dokument nicht aus der Welt schaffen wird, und ich denke auch nicht «Fratelli tutti» (2020).
Aus christlicher Sicht wird die einzigartige und universale Mittlerschaft Jesu Christi in der Erklärung von Abu Dhabi aufgrund der doppelten Unterschrift ausgeblendet. Das erstaunt aus christlicher Sicht. Wie immer geht die neue Brüderlichkeit auf Kosten der universalen Mittlerschaft Jesu Christi: Sein Wahrheitsanspruch und Seine Mittlerschaft müssen in den Hintergrund treten. Das bildet die Voraussetzung der Erklärung. Sonst hätte wohl der Gross-Imam die Erklärung von Abu Dhabi nicht unterschrieben. Es wäre ehrlicher, von Nächstenliebe zu reden statt von Brüderlichkeit, die im Christentum durch den Glauben an Christus, die Taufe bzw. Wiedergeburt aus Geist und Wasser, nicht aus dem Willen des Mannes, d. h. nicht natürlich begründet wird.
Die Abu-Dhabi-Erklärung propagiert eine Art säkularer «Reich Gottes»-Vorstellung, die nicht den christlichen Glauben (die Wiedergeburt aus Geist und Wasser) zur Voraussetzung hat, sondern eine dem Islam wesensfremde, aber aus christlichen Wurzeln genährte Brüderlichkeit. Besser würde man gegenüber den Muslimen die Menschenrechte anmahnen, die für sie immer noch unter Scharia-Vorbehalt stehen, d. h. auf diese Weise nicht universalisierbar sind. Der Grossimam hätte besser vorbehaltlos die universalen Menschenrechte unterschrieben. Die Brüderlichkeit der Abu-Dhabi-Erklärung wird vorgestellt als ein naturalistisches, allgemein menschliches und politisches Reich gegenseitiger Toleranz. Solche humanitären, im Grunde genommen, rein politischen Friedenskonzeptionen wurden im Lauf der Geschichte immer wieder ausgerufen und oft auch revolutionär, d. h. gewalttätig, umgesetzt. Sie werden in Wirklichkeit aus Versatzstücken des christlichen Glaubens bzw. Evangeliums gebildet. Diese Versuche sind bis jetzt alle gescheitert und hielten nicht, was sie versprochen und angestrebt haben. Das ist deshalb so, weil sie das Herz des Menschen nicht zur Wahrheit über Gott und den Menschen bzw. zu Jesus Christus bekehrt haben, sondern menschlichen Theorien folgten, die durch ihre eigene, revolutionäre Geschichte falsifiziert wurden um den Preis von Gewalttaten ungekannten Ausmasses und von Millionen von Toten (vgl. das Schwarzbuch des Kommunismus).
Der einzige, der Gott ist und das Menschenherz wirklich von innen zu erneuern vermag, ist Jesus Christus und sein Evangelium.
Pikanterweise verspricht der allversöhnende Antichrist in Solowjew’s gleichnamiger Erzählung ein solches egalitäres, relativistisches, ökumenisches Friedensreich, in welchem keiner der Diskursteilnehmer der absoluten Wahrheit das geringste in den eigenen Ansichten zu opfern braucht, vielmehr vom Antichristen genau das zu hören bekommt, was er gerne hört, und woran er bereits glaubt.
Die Abu-Dhabi-Erklärung erklärt alle Menschen als Kinder Gottes, weil sie zur Menschheit gehören, während das Johannes-Evangelium die Gotteskindschaft an den Glauben an Christus und an die Taufe knüpft (Wiedergeburt aus Geist und Wasser; nicht durch den Willen des Mannes). Das gilt auch für das Konzept der universalen Brüderlichkeit (Fratelli tutti, 3. Okt. 2020). Kardinal Américo Aguiar, der als Weihbischof von Lissabon den jüngsten Weltjugendtag (2023) koordinierte, erregte Aufsehen mit seiner Aussage11: «Wir wollen die jungen Leute nicht zu Christus oder zur Katholischen Kirche oder ähnlichem bekehren». Er meinte, die «Hauptbotschaft» dieses Ereignisses sei: «Ich denke anders, ich fühle anders, ich organisiere mein Leben anders, aber wir sind Brüder und Schwestern, und wir werden die Zukunft gemeinsam aufbauen.» Aguiar verbindet diese Ansicht nicht zu Unrecht mit der programmatischen Sozialenzyklika von Papst Franziskus «Fratelli Tutti» (2020). Um der unumgänglichen Mittlerschaft Jesu Christi willen sollten wir nicht von universaler Brüderlichkeit, sondern von Nächstenliebe sprechen im Sinne des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter. «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater ausser durch mich!». Joh 14,6.
Entsprechend dem Missionsbefehl Jesu sollen wir alle Menschen zu Seinen Jüngern machen. Eine katholische Kirche, die darauf verzichtet, ist nicht mehr katholisch. Noch einmal: Als Menschen sind wir nicht von Geburt Kinder Gottes, sondern seine Geschöpfe. Die Kindschaft müssen wir zuerst annehmen und bejahen. Sie wird uns in Christus angeboten. Unser Glaube ist die adäquate Antwort auf das Angebot und die Zulassungsbedingung zu dieser Kindschaft in Jesus Christus. Christus gibt uns die Macht, Kinder Gottes zu werden: wenn wir an Ihn glauben und uns taufen lassen! Wer alle einschliessen und niemanden ausschliessen will um den Preis, Christus als Sohn Gottes und universale Wahrheit, als Heil der Völker, als Mittler und exklusive Tür zu Gott in den Hintergrund zu rücken oder mit anderen Optionen in eine Reihe zu stellen, verdient nicht den Namen «Christ».
Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, / kam in die Welt. Er war in der Welt / und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, / aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, / gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, / allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, / nicht aus dem Willen des Fleisches, / nicht aus dem Willen des Mannes, / sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort ist Fleisch geworden / und hat unter uns gewohnt / und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, / die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, / voll Gnade und Wahrheit ( Joh 1,9–14).
Dies allein begründet unsere Brüderlichkeit, nichts anderes.
*Msgr. Marian Eleganti OSB, promovierter Theologe, war von 1999 bis 2009 Abt der Benediktinerabtei St. Otmarsberg im Kanton Sankt Gallen, dann von 2009 bis 2021 Weihbischof der Diözese Chur. Bischof Eleganti betreibt einen eigenen Blog.
Der vorliegende Text wurde von Msgr. Eleganti bei der Gustav-Siewerth-Akademie und am 4. Dezember 2025 beim Rome Life Forum vorgetragen.
Bild: Wikicommons/Youtube (Screenshot)
1 Weigel, George: Zeuge der Hoffnung, 534.
2 Weigel, Zeuge, 534.
3 Vgl. Weigel, Zeuge, 534.
4 Weigel, Zeuge, 534.
5 Zit. von Sandro Magister in: http://chiesa.espresso.repubblica.it/articolo/1349995bdc4.html?eng=y Deutsche Übersetzung: „Eine solche Begegnung birgt eine Reihe von Gefahren in Bezug auf ihre Vermittlung durch die Massenmedien – deren sich der Papst, wie offensichtlich ist, sehr wohl bewusst ist. Die Massenmedien werden, selbst schon durch die Bilder, den Eindruck vermitteln, dass alle Religionen zusammengekommen seien, um Gott um Frieden zu bitten. Ein schlecht gebildeter Christ könnte daraus den schwerwiegenden Irrtum ziehen, dass eine Religion so gut sei wie die andere und dass Jesus Christus lediglich einer unter vielen Mittlern des Heils sei.“
6 http://chiesa.espresso.repubblica.it/articolo/1349995bdc4.html?eng=y)
7 Zit. In: https://beiboot-petri.blogspot.com/2024/09/wenn-der-papst-interreligiose.html.
8 Berhardt, Reinhold: Horizontüberschreitung. Die pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 1991, 231.
9 Schmidt-Leukel, Perry: Was will die pluralistische Religionstheologie? in: MThZ 49 (1998) 307–334; Ders., Das Pluralistische Modell in der Theologie der Religionen. Ein Literaturbericht, in: Theologische Revue 89 (1993) 353–364.
10 Vgl. Guardini, Romano: Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon (5. Auflage; Erstveröffentlichung: 1943), Mainz-Paderborn 1987, 220 [zit. Sokrates (1987)].
11 Interview am 6. Juli 2023 bei RTP Notícias.

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