Das lateinische Vaterunser und die Devotio moderna

Subjektive Spiritualität versus gemeinschaftliches, liturgisches Glaubensleben


Ein junger Mann beim Gebet von Hans Memling, 1470
Ein junger Mann beim Gebet von Hans Memling, 1470

Von Cami­nan­te Wanderer*

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Vor eini­gen Wochen ver­öf­fent­lich­te ich auf mei­nem X‑Account einen kur­zen Kom­men­tar zu einem Video, das katho­li­sche Influen­cer – dar­un­ter auch eine Ordens­schwe­ster – bei einer Mes­se im Peters­dom in Rom zeig­te. Wäh­rend der Chor das Vater­un­ser auf Latein sang, wuß­ten die Anwe­sen­den offen­bar nicht, wie sie sich ver­hal­ten soll­ten: Sie hoben ledig­lich die Hän­de – sie kann­ten das zen­tra­le Gebet der Chri­sten­heit nicht auf Latein.

Natür­lich löste die­ser Kom­men­tar eine Wel­le von Reak­tio­nen aus, von denen die mei­sten ver­such­ten, die ver­meint­li­che Nutz­lo­sig­keit des Lateins mit den alt­be­kann­ten Argu­men­ten zu unter­mau­ern: „Jesus sprach kein Latein“, „Latein ist eine tote Spra­che“, „Latein war die Spra­che derer, die Jesus getö­tet haben“ usw. – Argu­men­te, die in Wahr­heit nur eines zei­gen: eine tie­fe Unkennt­nis des­sen, was es heißt, katho­lisch zu sein. Oder bes­ser gesagt: Sie zei­gen die Art von Spi­ri­tua­li­tät, die die­se Men­schen pfle­gen. Und genau auf die­sen Punkt möch­te ich näher eingehen.

Einer der Kom­men­ta­re lau­te­te sinn­ge­mäß:
„Ich bin seit mei­ner Geburt katho­lisch. Ich kann kein Latein, habe immer auf spa­nisch gebe­tet und sehe kei­nen Grund, das in einer ande­ren Spra­che zu tun. Ich habe mein christ­li­ches Leben gelebt, ohne das Vater­un­ser auf Latein zu kön­nen, geschwei­ge denn zu sin­gen – und das macht mich nicht weni­ger katho­lisch. Gott liebt mich trotz­dem, egal ob ich auf Latein bete oder nicht.“

Die schnel­le Ant­wort dar­auf wäre ein­fach gewe­sen:
„Guter Mann, ein beson­ders vor­bild­li­cher Katho­lik sind Sie wohl kaum, denn Sie miß­ach­ten eine gül­ti­ge Anord­nung der Kir­che. In der aktu­el­len All­ge­mei­nen Ein­füh­rung in das Römi­sche Meß­buch heißt es in Nr. 41: ‚Da es immer häu­fi­ger vor­kommt, daß Gläu­bi­ge unter­schied­li­cher Natio­nen zusam­men­kom­men, ist es wün­schens­wert, daß die­se Gläu­bi­gen zumin­dest eini­ge Tei­le des Ordi­na­ri­ums der Mes­se in latei­ni­scher Spra­che gemein­sam sin­gen kön­nen, beson­ders das Glau­bens­be­kennt­nis und das Vater­un­ser, unter Ver­wen­dung der ein­fach­sten Melo­dien.‘ Sie han­deln also gegen den Wil­len der Kirche.“

Doch das wäre eine all­zu ein­fa­che Ant­wort – und offen gesagt, selbst vie­le Prie­ster und Bischö­fe kön­nen das Vater­un­ser auf Latein nicht. Das eigent­li­che Pro­blem bei die­sem Kom­men­ta­tor – und bei vie­len ande­ren wie ihm – liegt mei­nes Erach­tens tie­fer und betrifft die Spi­ri­tua­li­tät, mit der sie ihren christ­li­chen Glau­ben leben. Es ist eine bestimm­te Art von Spi­ri­tua­li­tät, die als aus­ge­reif­te Frucht der Devo­tio moder­na gese­hen wer­den kann – ein The­ma, das wir hier im Blog bereits mehr­fach behan­delt haben.

Wie bekannt ist, war die Devo­tio moder­na eine geist­li­che Bewe­gung, die im 14. Jahr­hun­dert in den Nie­der­lan­den ent­stand, als Erneue­rung katho­li­scher Fröm­mig­keit. Zwei ihrer Merk­ma­le sind für unser The­ma beson­ders rele­vant: Erstens, die Prio­ri­sie­rung der inne­ren und per­sön­li­chen Fröm­mig­keit – also das Innen­le­ben, häu­fi­ge Medi­ta­ti­on und die indi­vi­du­el­le Ver­bin­dung mit Gott durch metho­di­sche Gebets- und Betrach­tungs­übun­gen, etwa durch gedank­li­che Ver­sen­kung in bibli­sche Sze­nen oder gefühls­be­ton­te Kon­tem­pla­ti­on. Zwei­tens, die star­ke Abkehr vom spe­ku­la­ti­ven Den­ken, zugun­sten von affek­ti­ven und prak­ti­schen Aspek­ten, gegen­über intel­lek­tu­el­lem oder theo­re­ti­schem Zugang.

Zunächst erschei­nen die­se Merk­ma­le mit­nich­ten nega­tiv – im Gegen­teil: Man könn­te sie als gesun­de Reak­ti­on auf einen gewis­sen pha­ri­säi­schen For­ma­lis­mus deu­ten. Wenn wir das auf unse­re Zeit über­tra­gen: Wer kennt nicht Men­schen, die sonn­tags pünkt­lich die tra­di­tio­nel­le Mes­se besu­chen, aber unter der Woche ihre Kun­den betrü­gen, ihren Frau­en untreu sind, sie schlecht behan­deln und ein zutiefst welt­li­ches Leben füh­ren? Doch sie ruhen sich see­len­ru­hig auf ihrer „Tra­di­ti­ons­ka­tho­li­zi­tät“ aus. In sol­chen Fäl­len wäre ein inner­li­cher Schock – eine tie­fe, per­sön­li­che Fröm­mig­keit – zwei­fel­los not­wen­dig, um wirk­lich christ­lich zu leben.

Das Pro­blem der Devo­tio moder­na liegt jedoch dar­in, daß die­se Prin­zi­pi­en mit der Zeit abso­lut gesetzt und zum allei­ni­gen Maß­stab katho­li­scher Spi­ri­tua­li­tät wur­den. In über­stei­ger­ter Form fand das sei­nen Aus­druck im Quie­tis­mus und spä­ter auch im Pro­te­stan­tis­mus. In gemä­ßig­te­rer Form aber durch­drang die­se Spi­ri­tua­li­tät durch das Wir­ken des Jesui­ten­or­dens – vor allem durch des­sen berühm­te Exer­zi­ti­en – die gesam­te Kir­che in der Zeit der Gegen­re­for­ma­ti­on. Wer die igna­tia­ni­sche Spi­ri­tua­li­tät kennt, wird zahl­rei­che Par­al­le­len zur Devo­tio moder­na erkennen.

Doch was genau ist pro­ble­ma­tisch an die­ser Art der Fröm­mig­keit?
Erstens: ein über­trie­be­ner Sub­jek­ti­vis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus. Das per­sön­li­che Gefühl, das inne­re Erle­ben und die eige­ne Inten­ti­on wer­den über äuße­re Wer­ke, Ritua­le, die Lit­ur­gie und die gemein­schaft­li­chen Sakra­men­te gestellt. (Erin­nern wir uns: Der Jesui­ten­or­den war die erste Gemein­schaft in der Kir­chen­ge­schich­te, die das gemein­sa­me Stun­den­ge­bet abschaff­te und der Lit­ur­gie wenig Bedeu­tung bei­maß.) Das führt zwangs­läu­fig zu einer Ver­nach­läs­si­gung des kirch­li­chen Gemein­schafts­le­bens und för­dert eine iso­lier­te, pri­va­te Spiritualität.

Zwei­tens: Die star­ke Beto­nung der per­sön­li­chen Bezie­hung zu Gott bringt oft ein man­geln­des Ver­ständ­nis für kirch­li­che Hier­ar­chie und Leh­re mit sich. Kirch­li­che Vor­ga­ben wer­den als etwas Frem­des, Fer­nes abge­lehnt – im Gegen­satz zur tra­di­tio­nel­len Sicht­wei­se, die die insti­tu­tio­nel­le Gehor­sam­keit hoch­schätzt. Wür­de man heu­ti­gen Influen­cern, dar­un­ter Prie­stern und Ordens­leu­ten, sagen, daß die Kir­che ver­langt, das Ordi­na­ri­um der Mes­se – zumin­dest das Cre­do und das Vater­un­ser – auf Latein sin­gen zu kön­nen, wür­den sie einen wohl aus­la­chen: „Die­se Regeln gel­ten nicht für uns – Gott liebt uns doch, ganz gleich, in wel­cher Spra­che wir beten.“

Drit­tens: Eine klar anti-intel­lek­tu­el­le Hal­tung. Alles Theo­re­ti­sche, Spe­ku­la­ti­ve wird abge­lehnt, wäh­rend das „Prak­ti­sche“ über­höht wird. Damit geht die rei­che intel­lek­tu­el­le Tra­di­ti­on der katho­li­schen Theo­lo­gie ver­lo­ren. Mit sol­chen Men­schen – Erben der Devo­tio moder­na – ist es kaum mög­lich, theo­lo­gisch zu argu­men­tie­ren; selbst ein­fach­ste Syl­lo­gis­men wer­den abge­tan mit dem Hin­weis: „Das sind nur Theo­rien – wich­tig ist, den Näch­sten zu lie­ben und den Armen zu hel­fen.“ Man den­ke etwa an die bekann­ten Aus­sa­gen von Papst Fran­zis­kus (Jesu­it) über Theo­lo­gen und die Theologie.

Und schließ­lich vier­tens: eine Abwer­tung äuße­rer For­men und lit­ur­gi­scher Zei­chen. Für die­se Spi­ri­tua­li­tät sind fei­er­li­che Pro­zes­sio­nen, fest­li­che lit­ur­gi­sche Akte, schö­ne Gewän­der oder päpst­li­che Insi­gni­en über­flüs­si­ge Äußer­lich­kei­ten – denn „wich­tig ist doch nur das Inne­re“. Die­se Hal­tung steht im direk­ten Gegen­satz zur tra­di­tio­nel­len Spi­ri­tua­li­tät, die die äuße­re Aus­drucks­form des Glau­bens hoch­schätzt – sowohl zur Stär­kung der Gemein­schaft als auch zur Bewah­rung der Glaubenslehre.

Zusam­men­fas­send läßt sich sagen: Die Devo­tio moder­na, die ursprüng­lich ein wert­vol­ler geist­li­cher Impuls war (man den­ke an die Nach­fol­ge Chri­sti, das wohl berühm­te­ste Werk die­ser Bewe­gung, das unzäh­li­ge See­len berei­chert hat), wur­de in Ansät­zen schnell, in ein­zel­nen Bewe­gun­gen im Lau­fe der Zeit ein­sei­tig über­höht – und heu­te erle­ben wir ihre Spät­fol­gen. Katho­li­sche Influen­cer – und ver­mut­lich der Groß­teil der Katho­li­ken ver­schie­den­ster Cou­leur – stel­len nicht nur die per­sön­li­che Fröm­mig­keit in den Vor­der­grund, son­dern erset­zen das gemein­schaft­li­che, lit­ur­gi­sche Glau­bens­le­ben durch eine sub­jek­ti­ve Spi­ri­tua­li­tät. So sehr auch Groß­ver­an­stal­tun­gen wie der Welt­ju­gend­tag den Ein­druck einer kirch­li­chen Gemein­schaft ver­mit­teln wol­len – letzt­lich zählt für vie­le nur das per­sön­li­che Gefühl, nicht die kirch­li­che Ord­nung, nicht die Theo­lo­gie, nicht die Tra­di­ti­on. All das wird abge­tan als „Äußer­lich­kei­ten“, wäh­rend nur das „Inne­re“ als wich­tig gel­ten soll – ein Zugang, der dem pro­te­stan­ti­schen Geist viel näher steht als der katho­li­schen Tradition.

[Zu die­sem The­ma, ins­be­son­de­re zur Rol­le, die der Jesui­ten­or­den bei der Ver­zer­rung der tra­di­tio­nel­len katho­li­schen Spi­ri­tua­li­tät gespielt hat, ver­öf­fent­lich­te ich 2018 einen Bei­trag, der nach wie vor lesens­wert ist.]

*Cami­nan­te Wan­de­rer, argen­ti­ni­scher Phi­lo­soph und Blogger.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL

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