
Von Caminante Wanderer*
Das Jahr 1907 war vielleicht der Höhepunkt der Modernismus-Kontroverse, denn in diesem Jahr veröffentlichte Papst Pius X. seine bahnbrechende Enzyklika Pascendi dominici gregis, in der er die Irrtümer der Modernisten verurteilte.
Die Veröffentlichung der Enzyklika kam zur rechten Zeit für die Anhänger des verstorbenen John Henry Newman. Newman war zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast zwei Jahrzehnten tot, doch seine Schriften sorgten weiterhin für Aufsehen. Einige modernistische Denker hatten Newmans Namen mit ihren eigenen Ideen in Verbindung gebracht, um ihren Häresien den Anschein der Rechtgläubigkeit zu verleihen. Andere wiederum, die im Eifer gegen die Modernisten standen und mißtrauisch wurden, weil Newmans Name in diesen Kreisen immer wieder auftauchte, begannen zu vermuten, Newman selbst könnte ein früher Vorläufer des Modernismus gewesen sein. Zur Verwirrung trug außerdem bei, daß Zitate aus Newmans anglikanischer Zeit kursierten und es plötzlich als unklar galt, inwieweit er seine früheren Ansichten später noch aufrechterhielt.
Einer von Newmans Verteidigern in diesen Auseinandersetzungen war Edwin Thomas O’Dwyer, Bischof von Limerick in Irland. Nach der Veröffentlichung von Pascendi verfaßte O’Dwyer einen Aufsatz, in dem er Newmans Denken mit der Lehre der Enzyklika verglich – mit dem Ziel, ihn vom Vorwurf des Modernismus freizusprechen. Bischof O’Dwyer hielt es für klug, diesen Aufsatz Papst Pius X. selbst zur Prüfung vorzulegen. Pius X. las den Text und antwortete im Jahr 1908 mit einem Schreiben, in dem er O’Dwyers Arbeit mit Nachdruck gutheißt und John Henry Newman ausdrücklich von jedem Makel der Häresie freispricht. Nachfolgend einige zentrale Auszüge aus dem Brief von Papst Pius X.:
„Die Schriften von Kardinal Newman stehen keineswegs im Widerspruch zu Unserer Enzyklika Pascendi, sondern sind in hohem Maße mit ihr im Einklang… Was die zahlreichen und bedeutenden Bücher betrifft, die er als Katholik verfaßt hat, so ist es kaum nötig, diese von jeder Verbindung mit der gegenwärtigen Häresie freizusprechen… Wir beglückwünschen Sie daher, daß Sie durch Ihre Kenntnis all seiner Schriften das Andenken dieses in höchstem Maße rechtschaffenen und weisen Mannes so glänzend gegen das Unrecht verteidigt haben…
Diejenigen, die daran gewöhnt waren, seinen Namen zu mißbrauchen und die Unwissenden zu täuschen, sollten damit nun aufhören. Wären sie doch bereit, dem Autor Newman treu zu folgen, indem sie seine Werke studieren… Mögen sie seine reinen und vollständigen Grundsätze, seine Lehren und die Inspiration, die sie enthalten, verstehen. Sie werden von einem solchen großen Lehrer viele ausgezeichnete Dinge lernen…“
Wer wäre geeigneter zu beurteilen, ob Newmans Lehre modernistisch war, als Papst Pius X. selbst? Wer könnte besser erkennen, ob Newmans Werk Häresien enthält, als der heilige Autor von Pascendi? Werden diejenigen, die sich auf die Tradition berufen, um Newmans Lehren abzulehnen, sich auch gegen das Urteil jenes Papstes stellen, dessen Name untrennbar mit der Bewahrung der Tradition verbunden ist?
Nachfolgend finden Sie den vollständigen Wortlaut des Schreibens von Pius X. über John Henry Newman sowie einen Link zum lateinischen Originaltext in den Acta Sanctae Sedis, am Ende dieses Artikels.
An den ehrwürdigen Bruder Edward Thomas, Bischof von Limerick
Ehrwürdiger Bruder, Gruß und Unser apostolischer Segen.
Wir teilen Ihnen hiermit mit, daß Ihr Aufsatz, in dem Sie zeigen, daß die Schriften von Kardinal Newman keineswegs im Widerspruch zu Unserer Enzyklika Pascendi stehen, sondern vielmehr in hohem Maße mit ihr übereinstimmen, von Uns mit Nachdruck gebilligt worden ist. Denn Sie hätten der Wahrheit und der Würde des Menschen nicht besser dienen können.
Es ist offensichtlich, daß jene Personen, deren Irrtümer Wir in jenem Dokument verurteilt haben, beschlossen hatten, etwas Eigenes zu erfinden, um damit die Anerkennung einer angesehenen Persönlichkeit zu erlangen. So behaupten sie allerorts mit großer Zuversicht, sie hätten ihre Lehren direkt aus jener höchsten und zuverlässigsten Autorität geschöpft, weshalb Wir sie nicht verurteilen könnten, ohne zugleich – ja sogar vorab – das zu mißbilligen, was ein so großer und geachteter Autor gelehrt habe. So unglaublich es auch erscheinen mag – und obwohl es nicht immer offen geschieht – gibt es doch solche, die von Hochmut derart verblendet sind, daß es den Verstand übersteigt: Sie halten sich für Katholiken und geben sich als solche aus, doch in Fragen der inneren Ordnung der Religion stellen sie das Ansehen ihrer eigenen privaten Meinungen über die höchste Autorität des Lehramtes des Apostolischen Stuhls.
Sie haben nicht nur deren Verstocktheit in vollem Maße dargestellt, sondern auch ihre Täuschungsmanöver klar entlarvt. Wenn man in jenen Schriften Newmans, die er vor seinem Übertritt zur katholischen Kirche verfaßt hat, mit Recht gewisse Ähnlichkeiten zu einzelnen Formeln der Modernisten erkennt, so haben Sie mit Recht festgestellt, daß dies für seine späteren Werke nicht von Belang ist. Zudem hat er sich – was diesen Punkt betrifft – in Wort und Schrift vielfach ganz anders geäußert, und der Autor selbst hat bei seinem Übertritt zur katholischen Kirche alle seine Schriften der Autorität eben dieser Kirche unterstellt, damit gegebenenfalls Korrekturen vorgenommen werden könnten.
Was die zahlreichen bedeutenden und einflußreichen Werke betrifft, die er als Katholik verfaßt hat, so ist es kaum nötig, diese von jeglicher Verbindung mit der gegenwärtigen Häresie freizusprechen. Es ist im englischen Sprachraum allgemein bekannt, daß Henry Newman in seiner umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit die katholische Lehre so überzeugend vertreten hat, daß sein Werk den Mitbürgern äußerst nützlich war und von Unseren Vorgängern sehr geschätzt wurde. So wurde er – mit vollem Recht – für ein Amt als würdig erachtet, und Leo XIII., zweifellos ein scharfsinniger Kenner von Menschen und Dingen, ernannte ihn zum Kardinal. Er schätzte ihn sehr und zwar auf jeder Etappe seines Lebens – und das zu Recht.
Tatsächlich ist an der Fülle seiner Werke und seiner oft bis tief in die Nacht andauernden Studien etwas zu erkennen, das dem üblichen Weg der Theologen fremd erscheint – und doch ist darin nichts zu finden, das Zweifel an seinem Glauben aufkommen ließe. Sie haben zutreffend festgestellt, daß er – da keine neuen Anzeichen von Häresie erkennbar sind – sich an mancher Stelle vielleicht in unbedachter Weise einer unbekümmerten Ausdrucksweise bedient haben mag, die einigen Anlaß zu Mißverständnissen geben konnte, daß aber die Modernisten gerade diese Worte aus dem Gesamtzusammenhang reißen und listig verdrehen, um ihnen ihre eigenen Bedeutungen zu unterlegen.
Wir beglückwünschen Sie daher, daß Sie durch Ihre umfassende Kenntnis seiner Schriften das Andenken dieses in höchstem Maße rechtschaffenen und weisen Mannes glänzend gegen das Unrecht verteidigt haben – und daß Sie sich auch unter Ihren Landsleuten, besonders im englischen Volk, bemüht haben, darauf hinzuwirken, daß jene, die es gewohnt waren, seinen Namen zu mißbrauchen und die Unwissenden zu täuschen, dies künftig unterlassen.
Mögen sie dem wahren Newman treu folgen, indem sie seine Bücher studieren – ohne jedoch sich dabei von eigenen Vorurteilen leiten zu lassen –, und sich hüten, mit böser List etwas herauszulesen oder ihre eigenen Ansichten als durch sie bestätigt auszugeben. Vielmehr sollen sie seine reinen und vollständigen Grundsätze, seine Lehren und die in ihnen enthaltene geistliche Anregung verstehen. Von einem solch großen Lehrer werden sie viele ausgezeichnete Dinge lernen: vor allem, das Lehramt der Kirche als heilig zu achten, die von den Vätern überlieferte Lehre unversehrt zu bewahren und – was zum Schutz der katholischen Wahrheit das Allerwichtigste ist – dem Nachfolger des heiligen Petrus mit größtem Glauben zu folgen und zu gehorchen.
Ihnen daher, ehrwürdiger Bruder, sowie Ihrem Klerus und Ihrem Volk sprechen Wir Unseren aufrichtigen Dank aus, daß Sie Uns in Unserer schwierigen Lage unterstützt haben. Um Ihnen allen – und Ihnen persönlich an erster Stelle – die Gaben der göttlichen Güte zu erlangen, und als Zeichen Unseres Wohlwollens, erteilen Wir Ihnen mit väterlicher Liebe Unseren Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom, im Vatikan, am 10. März 1908, im fünften Jahr Unseres Pontifikats.
Pius PP. X
Der Brief von Pius X. an Bischof O’Dwyer ist in den Acta Sanctae Sedis, Bd. 41, 1908, auf Seite 200 zu finden. Die obige englische Übersetzung stammt von Michael Davies und ist enthalten in dessen Werk „Lead Kindly Light: The Life of John Henry Newman“, Neumann Press, 2001.
*Caminante Wanderer, argentinischer Philosoph und Blogger
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Caminante Wanderer