Seit der Wahl von Leo XIV. zum neuen Papst geistern, wenn nicht laut, so doch unterschwellig Vorwürfe im Zusammenhang mit sexuellen Mißbrauchsfällen herum. Sie sind ein Nachwehen von im Vorfeld lancierten Anschuldigungen, sodaß einige Beobachter davon ausgegangen waren, daß Kardinal Prevost als Papabile ausscheide, da dieses Thema in unserer Zeit zu sehr aufgeladen sei, als daß das Kardinalskollegium ein Risiko eingehen würde. Doch Kardinal Prevost wurde gewählt und ist der nunmehrige Papst Leo XIV. Versuchen wir daher einen Blick auf die Anschuldigungen zu werfen.
Unter Franziskus machte Robert Francis Prevost in den vergangenen zwei Jahren gigantische Karrieresprünge, indem er ihn aus einer unscheinbaren peruanischen Diözese an die Römische Kurie holte, zum Präfekten des Bischofsdikasteriums ernannte und zum Kardinal kreierte. Diese Beförderungen sollten ausreichend Garant sein, daß alle Vorwürfe geprüft und für substanzlos befunden wurden, die Angelegenheit also geklärt ist. Doch Franziskus war kein verläßlicher Garant in dieser Hinsicht, im Gegenteil. Er bevorzugte es sogar, sich mit Personen zu umgeben, über die sich etwas im Giftschrank finden oder ablegen ließ. Der Schatten Bergoglios wird dem neuen Papst in seinem Pontifikat noch oft begegnen – nicht persönlich, aber im Zusammenhang mit Entscheidungen, gerade auch Personalentscheidungen, und es wird ein belastender Schatten sein.
Die Anschuldigungen gegen Prevost betreffen Peru und Chicago. Wenden wir uns dem Anden-Umfeld zu. Dort zeigt sich sehr schnell ein entlastendes Bild, denn sowohl die Opfer als auch investigative Journalisten, die sich seit längerem mit diesem Thema befassen, weisen Vorwürfe gegen den neuen Papst zurück. Die Konstellation erinnert ein wenig an kurzzeitige, dann schnell verstummte Vorwürfe gegen Franziskus am Beginn seines Pontifikats, er habe als Provinzial der argentinischen Jesuitenprovinz zwei Mitbrüder der damaligen Militärdiktatur ausgeliefert. Offenbar hatte sich eine schwarze Legende gebildet, wohl im Zusammenhang mit den ordensinternen Konflikten, die zur Verbannung Bergoglios in die argentinische Provinz führten, und unter der Hand über Jahrzehnte gehalten. Es war eine bestimmte Richtung atheistischer linksradikaler Intellektueller, die diese schwarze Legende gegen Bergoglio einsetzten. Mit der Wahl zum Papst rückten die Vorwürfe in ein größeres Interesse und wurden schnell aufgeklärt. Einer der beiden Mitbrüder war bereits verstorben und der andere bestritt mit Nachdruck, seinen damaligen Provinzial für seine Verhaftung verantwortlich zu machen. Die Angelegenheit war damit in der öffentlichen Debatte vom Tisch, zumal sich herausstellte, daß Bergoglio damals sogar atheistischen Kommunisten geholfen hatte. Und von diesen sich leider auch in mancher Hinsicht beeinflussen hatte lassen, aber das steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Ähnlich schnell zerplatzen die Vorwürfe gegen Bischof Prevost, dem nunmehrigen Leo XIV., an der peruanischen Front. Opfer und Investigativjournalisten sind sich dort einig in der Einschätzung des Wirkens von Prevost und verteidigen ihn, indem sie an seinen konkreten Einsatz zugunsten der Opfer erinnern.
Was wurde Prevost vorgeworfen? Der heutige Papst und frühere Generalprior des Augustinerordens war von 2014 bis 2021 als Apostolischer Administrator und einige Jahre auch als Diözesanbischof nacheinander verantwortlich für zwei peruanische Diözesen. Von November 2014 bis April 2020 war er zunächst Administrator, dann Bischof von Chiclayo und von April 2020 bis Mai 2021 Administrator von Callao. In beiden Diözesen unterstanden ihm mehr als eine Million Katholiken und jeweils über einhundert Priester. In dieser Zeit habe er, so der Vorwurf, versagt bei der Behandlung von Mißbrauchsfällen.
Was bisher bekannt ist
Vorab ist festzustellen, daß es seinerzeit keine Schuldbeweise gegen den Bischof gab, weshalb die peruanische Justiz den Fall archivierte.
Die spanische Tageszeitung El Pais schrieb, daß die Vertuschungsvorwürfe kurz vor Beginn des Konklaves aus unzuverlässigen Internet-Kanälen auftauchten, als Prevosts Name konkret als Papstkandidat zu kursieren begann.
Die Tageszeitung Avvenire bestätigte diesen Zusammenhang unter Berufung auf vatikanische Quellen. Demnach soll es sich um ein gezieltes Störfeuer gehandelt haben, um die Kandidatur von Kardinal Prevost zu torpedieren.
Nun aber konkret zu den Vorwürfen in der peruanischen Diözese Chiclayo, für die Prevost von 2014 bis 2020 verantwortlich war.
Mißbrauchsopfer: „Ich bin Prevost dankbar“
Bevor der Blick auf das gehen soll, was Journalisten sagen, die sich seit langem mit sexuellen Mißbrauchsfällen befassen, soll der Aussage eines peruanischen Opferanwalts Raum geboten werden:
Es handelt sich um José Enrique Escardó Steck, Gründer des Peruanischen Opfer‑Netzwerks, einer Organisation, die peruanische Opfer sexuellen Mißbrauchs zusammenbringt. Escardó Steck war der erste, der die Mißbräuche öffentlich anprangerte, die in der Diözese Chiclayo stattfanden. Die Folgen wirken nach. Heute sagt er noch sich, weder katholisch noch gläubig zu sein, sondern sich als Skeptiker und säkularen Humanisten zu verstehen.
Nach der Wahl von Leo XIV. und dem Aufkommen des eingangs erwähnten Gerüchte-Raunens reagierte Escardó Steck auf die Anschuldigungen und interpretierte diese als Versuch, die Wahl Prevosts zum Papst zu verhindern: „Anfangs haben uns die Vorwürfe überrascht, aber nach und nach haben wir verstanden, woher sie kamen“. Er sieht darin eine Retourkutsche für die Aufhebung des Sodalicio de Vida Cristiana (Sodalitiums Christianae Vitae) durch Papst Franziskus, als Prevost bereits Präfekt des Bischofsdikasteriums war. Dieser Interpretation eines innerkirchlichen und auch speziell innerperuanischen Konflikts kann und soll an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. In der Vergangenheit wurde bereits gesondert über den tiefen Graben in der peruanischen Kirche berichtet. An dieser Stelle interessiert lediglich, daß Escardó Steck das Wirken von Bischof Prevost verteidigt und Anschuldigungen gegen ihn zurückweist.
José Enrique Escardó Steck war eigens nach Rom gereist, um mit Franziskus über tatsächliche oder vermeintliche Mißstände in der genannten Laiengemeinschaft zu sprechen und wurde bei dieser Gelegenheit auch vom heutigen Papst Leo XIV. empfangen. Hier ist sein Bericht über das Treffen:
„Als ich im Januar 2025 Papst Franziskus traf, sprach ich am Ende des Treffens mit Kardinal Prevost, den ich seit mehreren Jahren hier in Peru kenne. Er war voll und ganz bereit, die Arbeit fortzusetzen; er teilte die Arbeit, die ich in der Mißbrauchsfrage in der Kirche geleistet hatte, voll und ganz und auch mit den Opfern.“
Escardó Steck veröffentlichte nun auch eine Botschaft auf seinem X‑Kanal:
„Ich kenne den neuen Papst seit 2019. Er brachte seine volle Zustimmung und Unterstützung für meinen Kampf gegen physische, psychische, spirituelle und sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche zum Ausdruck. In den letzten Jahren hat Papst Leo XIV. maßgeblich dazu beigetragen, das Sodalicio zu zerschlagen, und dafür bin ich ihm dankbar“.
Soziologe Nuñez: „Prevost? Er hat alles getan, was er konnte“.
Zu den ersten maßgeblichen Fachleuten, die sich zu den Vorwürfen gegen Prevost äußerten, gehörte Rodolfo Soriano Nuñez, ein Soziologe aus Mexiko-Stadt, der sich seit langem mit dem Umgang der katholischen Kirche mit sexuellem Mißbrauch durch Kleriker beschäftigt. Der Akademiker ist nicht katholisch und gilt als äußerst kritisch gegenüber den örtlichen katholischen Behörden.
Auf Nachfrage von CNN sagte er, daß Prevost einer der wenigen Bischöfe in Peru war, die ernsthaft versuchten, das Problem des sexuellen Mißbrauchs durch Priester anzugehen, und eine Kommission einrichteten, die sich mit solchen Fällen befaßt:
„Ich denke, Prevost war der beste Bischof in Peru, als er sich mit den Mißbrauchsfällen in seiner Diözese befaßte. Und davon gab es viele. Er ging mit ihnen um, so gut er konnte, er schlug nicht auf die Opfer ein, er manipulierte sie nicht und er machte keine Faxen“.
Journalist Salinas: „Falsche Anschuldigungen, wir haben ermittelt
Ein weiterer sehr glaubwürdiger Zeuge, der nach der Wahl Leos XIV. aufgetaucht ist, ist der peruanische Enthüllungsjournalist Pedro Salinas, der als einer der ersten die Mißbräuche des Sodalitiums aufgedeckt hatte. Er ist der Autor einer detaillierten Untersuchung, die 2015 veröffentlicht wurde.
Im Gespräch mit der spanischen Zeitung El Pais berichtet Salinas, daß er in Prevost stets einen starken Verbündeten fand, der sich eindeutig auf die Seite der Opfer des Sodalicio stellte und eine entscheidende Rolle dabei spielte, ihnen den direkten Zugang zu Papst Franziskus im Vatikan zu ermöglichen. Kontakte, die zur Untersuchung und Auflösung der Organisation führten:
„Es gibt keine dokumentarischen Beweise oder solide Zeugenaussagen gegen Prevost.“
Salinas gab auch der Website „Religion Digital“ ein längeres Interview, in dem er folgendes sagte:
„Die Anschuldigungen kamen aus dem Inneren des Sodalicio, mit dem Ziel, ihn in den Augen der öffentlichen Meinung zu diskreditieren und zu delegitimieren, als Folge dessen, was sich bereits im Fall Sodalitium abzeichnete. Die ‚Anschuldigungen‘ gegen Robert Prevost sind absolut falsch. Es wurde überprüft, bestätigt, bekräftigt und bewiesen, daß sie keine Grundlage in der Realität hatten. Das wissen wir Journalisten, die den Sodalitium-Fall untersucht haben. Robert Prevost hat immer die Opfer in den Vordergrund gestellt und war einer derjenigen, die die Opfer verteidigt haben. Die Tatsache, daß die Anschuldigungen gegen Prevost zu diesem Zeitpunkt aufgegriffen werden (obwohl es sich um Anschuldigungen handelt, die, wie wir in Lima sagen, ‚recycelt‘ sind und nie eine reale Grundlage hatten, ist auf den Kontext zurückzuführen, in dem wir leben, ein Konklave, ein Moment der Wahl des nächsten Papstes. Und daher ein Moment, in dem bestimmte Sektoren der katholischen Kirche über ihre Satellitenmedien und ihre Gefolgsleute aktiv sind, um potentielle Papstkandidaten zu diskreditieren, die der Linie von Papst Franziskus folgen könnten. Einer dieser Fälle ist eindeutig der von Robert Prevost“.
Álvarez Pedrosa: „Anschuldigungen sind aus Hintergedanken entstanden“.
Auch Juan Antonio Álvarez Pedrosa, ehemaliger Direktor des Instituts für Religionswissenschaften an der Universität Complutense in Madrid (UCM), gab eine kurze Erklärung ab. Unter Bezugnahme auf die Vorwürfe der Verheimlichung sexuellen Mißbrauchs erklärte er, daß diese in den letzten Tagen „aus dem konservativen Sektor wieder aufgetaucht sind, um Prevost zu diskreditieren“, nachdem sie bereits von der Diözese Chiclayo, einem Gericht und Franziskus erhoben worden waren.
Paola Ugaz: „Es ist eine Lüge, von einer Vertuschung zu sprechen“.
Paola Ugaz, peruanische Enthüllungsjournalistin und Mitarbeiterin von Pedro Salinas bei der Untersuchung des Sodalicio, äußerte sich ebenfalls gegenüber der römischen Tageszeitung Il Messaggero zu Prevost:
„Prevost zögerte nicht, die Mißbräuche innerhalb der Kirche anzuprangern, er traf sich mit den Opfern und forderte sie auf, alles der Justizbehörde zu melden. Er sagte: ‚Wir werden eingreifen, und wir werden gut eingreifen‘. Nein, man kann nicht sagen, daß er diese Vorfälle vertuscht hat. Das wäre eine Lüge“.
Zusammen mit Salinas traf sich Ugaz im Oktober 2024 mit Kardinal Prevost und erzählte ihnen von den Drohungen, denen sie wegen ihrer Ermittlungen ausgesetzt waren. Die Journalistin erinnert sich an dieses Treffen wie folgt:
„Er war sehr einfühlsam. Eines der Opfer war während des Treffens bei uns und begann zu weinen. Der zukünftige Papst wandte sich an uns und sagte: ‚Wir werden es richtig machen, keine Sorge‘. Er tat alles, was er sagte. Diese Organisation schwor ihm den Krieg und führte eine Desinformationskampagne gegen ihn. Leider wurde aber alles wegen Verjährung eingestellt. Aber das war sicher nicht die Schuld von Prevost, der sich gegen die Übergriffe wehrte.“
In Summe zeigt sich, daß eine bestimmte kirchenferne, linke Richtung, die in dem innerperuanischen Kampf an der Zerschlagung des Sodalicio beteiligt war, den nunmehrigen Papst verteidigt. Das hat einen gewissen Beigeschmack, da es bei dem Kampf gegen das Sodalitium einige Bedenken gibt, worauf an dieser Stelle aber nicht eingegangen werden soll. Fakt ist, daß es nach heutigem Stand der Dinge keine verläßlichen Anklagen und Beweise gegen Leo XIV. in seiner Zeit als Bischof in Peru gibt, daß er sich im Zusammenhang mit sexuellen Mißbrauchsfällen ein persönliches Fehlverhalten zuschulden kommen hat lassen.
Neben Peru gibt es noch die Front in Chicago, auch dort machte sich die zweifelhafte Opfer-Organisation SNAP (Survivors Network of those Abused by Priests) mit ominösen Vorwürfen wichtig. Diese sind jedoch so vage, daß keine Überprüfung möglich ist. Insgesamt ist SNAP eine mit großer Vorsicht zu genießende Quelle.
Es deutet alles darauf hin, daß die Anschuldigungen gegen Leo XIV. ein Strohfeuer sind wie jenes, daß 2013 von einigen gegen Franziskus entfacht wurde.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Facebook (Sceenshot)
