Leo XIV. und das jüdische Tikkun olam

Begriffe und Mißverständnisse


Verschiedene Darstellungen des "Baums des Lebens" mit den Sephitoth der Kabbala einer hochmittelalterlichen Richtung der jüdischen Mystik
Verschiedene Darstellungen des "Baums des Lebens" mit den Sephitoth der Kabbala einer hochmittelalterlichen Richtung der jüdischen Mystik

Eine Video­bot­schaft von Leo XIV. vom 20. Sep­tem­ber 2025 anläß­lich der ALS Walk for Life – Chi­ca­go blieb weit­ge­hend unbe­ach­tet. Es han­del­te sich um eine Bene­fiz-Ver­an­stal­tung das von Amy­o­tro­phen Late­ral­skle­ro­se Betrof­fe­ne und ihre Fami­li­en zusam­men­bringt mit Betei­li­gung aus dem Bereich der Kran­ken­pfle­ge – ein auf natür­li­cher Ebe­ne zwei­fel­los lobens­wer­tes Unter­fan­gen. Dabei han­delt es sich um eine schwe­re neu­ro­de­ge­nera­ti­ve Erkran­kung, bei der moto­ri­sche Ner­ven­zel­len abster­ben und die Mus­kel­kon­trol­le zuneh­mend ver­lo­ren geht. Es gibt bis­lang kei­ne Hei­lung. Die Ver­an­stal­tung ist ein gro­ßes jähr­li­ches Gemein­schafts­event mit Spen­den­samm­lung, um die For­schung zur Hei­lung die­ser Krank­heit zu fördern.

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Ange­sichts des gewal­ti­gen Leids, das die­se Krank­heit ver­ur­sacht, wähl­te Leo – unter ande­rem – zwei Hin­wei­se, die nach­denk­lich stimmen:

„Wie unse­re mus­li­mi­schen Freun­de berich­ten, heißt es im Hadith, daß 70.000 Engel anwe­send sind, wenn die Pfle­ger am Mor­gen ein­tref­fen. Wei­te­re 70.000 Engel kom­men am Abend. Ich glau­be, auch ihr seid Engel.“

„Unse­re jüdi­schen Brü­der und Schwe­stern sagen uns, daß eines der gro­ßen Vor­ha­ben, die Gott der Mensch­heits­fa­mi­lie anver­traut hat, dar­in besteht, die wun­der­ba­re Schöp­fung, die er uns gege­ben hat, zu voll­enden und zu ver­voll­komm­nen – tik­kun olam.“

Nun – selbst wenn man ange­sichts des Kreu­zes kör­per­li­cher und see­li­scher Lei­den die über­rei­che Fül­le an hei­li­gen Bei­spie­len aus­blen­den woll­te, die sich in jenem gewal­ti­gen Kata­log der Näch­sten­lie­be fin­det, wel­cher die zwei­tau­send­jäh­ri­ge Geschich­te der auf Gol­ga­tha gegrün­de­ten Kir­che prägt –, so blie­be doch die Fra­ge, war­um man nach Wor­ten im Hau­se der „mus­li­mi­schen Freun­de“ und der „jüdi­schen Brü­der und Schwe­stern“ suchen muß.

Bis zu die­sem Punkt bewe­gen wir uns im bekann­ten und längst ver­trau­ten Muster, das sich seit der Revo­lu­ti­on des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils her­aus­ge­bil­det hat. Doch es gibt ein wei­te­res Ele­ment, das der beson­de­ren Beach­tung bedarf: näm­lich das Kon­zept des „Tik­kun olam“.

Es han­delt sich dabei nicht ledig­lich um einen Aus­druck, der all­ge­mein dem Juden­tum zuge­ord­net wer­den kann. Tik­kun olam bedeu­tet „die Welt repa­rie­ren“, „die Welt in Ord­nung brin­gen“ und hat neben ande­ren Deu­tun­gen – es läßt sich schon in der Misch­na als strikt recht­li­ches Kon­zept nach­wei­sen – erst im Rah­men der luria­ni­schen Kab­ba­la der jüdi­schen Mystik eine spe­zi­fi­sche Bedeu­tung erlangt.

Die Vor­stel­lung des Tik­kun olam wird in der Ency­clopæ­dia Bri­tan­ni­ca wie folgt zusam­men­ge­faßt. Dort heißt es, daß der Begriff im Zoh­ar des 13. Jahr­hun­derts, dem grund­le­gen­den Text der Kab­ba­la, eine tie­fe­re reli­giö­se Dimen­si­on erhielt:

Aus­schnitt der Video­bot­schaft von Papst Leo XIV. an die Bene­fiz­ver­an­stal­tung von ALS Walk for Life – Chi­ca­go am 20. Sep­tem­ber 2025

„Im Zoh­ar wer­den zehn Sephi­r­ot genannt – gött­li­che Emana­tio­nen, von denen die unter­ste die Shek­hi­nah (oder Malkhut) ist, die Gegen­wart Got­tes in der mate­ri­el­len Welt. Mensch­li­che Hand­lun­gen – wie Gebet, Mitz­vot (gute Taten) und Fest­ta­ge – bewir­ken, daß das gött­li­che Licht durch die Sephi­r­ot her­ab­steigt, die irdi­sche mit der himm­li­schen Welt ver­eint und eine Wie­der­her­stel­lung (tik­kun) des Selbst, der Erde und des Him­mels bewirkt, wäh­rend die gött­li­che Gegen­wart alles durch­dringt. Nicht nur die sozia­le Welt wird in die­sem Pro­zeß geheilt, son­dern das gesam­te Uni­ver­sum wird „repa­riert“ und mit gött­li­chem Licht erfüllt.“

Die Sephi­r­ot sind in einem Baum („Baum des Lebens“) in drei Säu­len und zehn Stu­fen ange­ord­net. Sie reprä­sen­tie­ren sowohl kos­mi­sche Prin­zi­pi­en als auch inne­re See­len­kräf­te des Men­schen. Die Kab­ba­la kommt aus dem Juden­tum her­aus, wird aber inner­halb des Juden­tums von den ver­schie­de­nen Strö­mun­gen sehr unter­schied­lich bewer­tet. Der Kab­ba­la nei­gen chas­si­di­sche und auch nicht-chas­si­di­sche ortho­do­xe Grup­pen zu.

Wäh­rend die Sephi­r­ot in den nie­de­ren Gra­den der Frei­mau­re­rei kei­ne Rol­le spie­len, tau­chen sie in den Hoch­gra­den aller Obö­di­en­zen häu­fig auf. Ins­ge­samt ist der west­li­che Okkul­tis­mus stark davon durchdrungen. 

Isaak ben Solo­mon Luria (1534–1572), der namens­ge­ben­de Begrün­der der luria­ni­schen kab­ba­li­sti­schen Schu­le, ver­lieh dem Tik­kun olam eine mysti­sche Tie­fe. Luria lehr­te, daß beim Schöp­fungs­akt das gött­li­che Licht eini­ge Gefä­ße (iden­ti­fi­ziert mit den Sephi­r­ot) zer­bre­chen ließ. Das Licht wur­de in die mate­ri­el­le Welt ver­streut, wo es in Kli­pot (Hül­len) ein­ge­schlos­sen blieb und sich mit dem Bösen ver­misch­te.
Durch Mitz­vot, Gebet und kon­tem­pla­ti­ve Betrach­tung könn­ten die Men­schen die­se Fun­ken wie­der zum Gött­li­chen empor­he­ben. Mit einer hin­rei­chen­den Zahl sol­cher erhö­hen­der Taten, so Luria, wür­de die Welt geheilt – und der Mes­si­as könn­te kom­men.

Der zen­tra­le Gedan­ke besteht also dar­in, daß gemäß die­ser Leh­re die ursprüng­lich frei­ge­setz­ten gött­li­chen Fun­ken gesam­melt und in einem uni­ver­sa­len Wie­der­her­stel­lungs­pro­zeß zurück­ge­führt wer­den müssen.

Wer auch nur eine ober­fläch­li­che Kennt­nis der mit Gno­sis und Kab­ba­la ver­bun­de­nen Gedan­ken­gän­ge besitzt, wird die Trag­wei­te die­ser Vor­stel­lung rasch erken­nen. Doch auch ohne sich auf kab­ba­li­sti­sche Spe­ku­la­tio­nen ein­zu­las­sen, bleibt fest­zu­hal­ten, daß jene erwähn­te „Ver­voll­komm­nung und Voll­endung“ ohne Chri­stus gedacht ist.

Mit ande­ren Wor­ten: eine „Repa­ra­tur“ ohne den eigent­li­chen Repa­rie­rer, ohne den Erlö­ser, der am Kreuz starb – auf Geheiß jener Hohen­prie­ster, die im zwei­ten jüdi­schen Tem­pel herrsch­ten, der mit dem Ende des Alten Bun­des zer­stört wurde.

Die­ser Sach­ver­halt soll­te mit Blick auf sei­ne mög­li­chen Impli­ka­tio­nen gese­hen wer­den – näm­lich nicht nur eine Erlö­sung ohne den wah­ren Erlö­ser, son­dern ein Mes­sia­nis­mus ohne den wah­ren Mes­si­as. Eine nach­christ­li­che jüdi­sche Vor­stel­lung, die der christ­li­chen zuwi­der­läuft.

Aus der kur­zen Bemer­kung geht weder her­vor, wor­auf Leo XIV. kon­kret anspiel­te, noch läßt sich sei­ne Absicht mit Sicher­heit beur­tei­len – wobei eine wohl­wol­len­de vor­aus­ge­setzt wer­den soll­te. Neu­er­dings wird Tik­kun olam vom libe­ra­len Juden­tum all­ge­mein für „sozia­les Enga­ge­ment“ (für sozia­le Gerech­tig­keit, Men­schen­rech­te, Umwelt­schutz) ver­wen­det. Es gibt also ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten, was aber auch Miß­ver­ständ­nis­se her­vor­ru­fen kann.

Wün­schens­wert und rat­sam wäre es daher wohl, wenn hohe kirch­li­che Wür­den­trä­ger, ein­schließ­lich des Pap­stes, bestimm­te nicht-christ­li­che Begrif­fe und Kon­zep­te viel­leicht mit grö­ße­rer Sorg­falt behan­deln – oder, bes­ser noch, ganz dar­auf ver­zich­ten würden.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wiki­com­mons

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