Papst Franziskus empfing einen alten Bekannten aus Argentinien in Audienz, Rabbi Sergio Bergman, den Vorsitzenden der World Union for Progressive Judaism (WUPJ). Diese Vereinigung des fortschrittlichen oder liberalen Judentums, auch als Reformjudentum bekannt, zählt laut eigenen Angaben rund 1,8 Millionen Mitglieder von weltweit etwa 17 Millionen Juden. Bergman führte eine Delegation der WUPJ an, der auch Vertreter der liberalen jüdischen Gemeinde von Rom angehörten.
Über den Inhalt ist direkt nur bekannt, was die Weltunion des fortschrittlichen Judentums auf Facebook veröffentlichte:
„Heute erhielt die Führung der World Union for Progressive Judaism in Zusammenarbeit mit der Führung von Beth Hillel Rom die seltene Ehre einer Privataudienz mit Seiner Heiligkeit, Papst Franziskus, dem Oberhaupt der katholischen Kirche. Diese exklusive Audienz, ein Beweis für die Bedeutung des interreligiösen Dialogs, fand im Vatikan mit einer hochrangigen Delegation von 25 Mitgliedern der WUPJ und mehreren hochrangigen Mitgliedern des vatikanischen Sekretariats für den interreligiösen Dialog statt.
Der Präsident der WUPJ, Rabbi Sergio Bergman, eröffnete die Audienz mit herzlichen persönlichen Grüßen an seinen lieben Freund, Papst Franziskus, den er seit mehr als 25 Jahren kennt. Er gab einen umfassenden Überblick über die laufenden Aufgaben der WUPJ, insbesondere über die Feierlichkeiten zum 10jährigen Bestehen von Beth Hillel, der progressiven jüdischen Gemeinde in Rom. Rabbi Bergman teilte dem Papst auch seine Gedanken zur aktuellen Situation in Israel mit und äußerte die Hoffnung der Weltunion auf gemeinsame Anstrengungen zur sofortigen Freilassung aller Geiseln sowie auch seine Überlegungen zum Krieg in der Ukraine.
Der Papst wies darauf hin, wie wichtig es ist, sich mit Gruppen aller Glaubensrichtungen im Namen der Brüderlichkeit zu treffen. Er fügte hinzu, wie dankbar er sei, einen alten Freund hier in Rom zu treffen, und daß er auf bessere Tage hoffe, wenn wir gemeinsam für Einheit und Frieden arbeiten.
Papst Franziskus begrüßte jedes Mitglied der Delegation persönlich und überreichte ihnen ein Geschenk des Vatikans. Die Weltunion überreichte dem Papst ein gelbes Band und die Hundemarke zur Unterstützung der Geiseln und schließlich eine Mesusa der Weltunion als Symbol unserer jüdisch-progressiven und zionistischen Identität in der ganzen Welt.“
Als der Psychologe und Motivationstrainer Silvio Noé, zu dessen Buch Papst Franziskus ein Vorwort geschrieben hatte, dem Papst 2017 das soeben erschienene Werk überreichte, schenkte er ihm auch eine Tafel mit der Aufschrift: „Klagen verboten“. Diese Plakette ließ Franziskus an der Tür seines Arbeitszimmers in Santa Marta anbringen. Die Botschaft ist eindeutig: Wer sich beschwert, kann gleich draußen bleiben.
Das ungewöhnliche Accessoire hatte zur Folge, daß der ehemalige Haus- und Hofjournalist und heutige Hauptchefredakteur aller Vatikanmedien, Andrea Tornielli, ausrücken mußte, um das Ganze zu erklären:
„Übertreter sind Subjekte eines Opfersyndroms, was zu einer Verschlechterung der Stimmung und der Problemlösungsfähigkeit führt. Die Strafe wird verdoppelt, wenn der Verstoß in Anwesenheit von Kindern begangen wird. Um das Beste aus sich selbst zu machen, muß man sich auf die eigenen Möglichkeiten und nicht auf die eigenen Grenzen konzentrieren, also: Hören Sie auf, sich zu beschweren, und handeln Sie, um Ihr Leben besser zu machen.“
Franziskus setzte die Zusammenarbeit mit Silvio Noé jedenfalls fort und veröffentlichte mit ihm zusammen 2023 sogar ein Gesprächsbuch.
Es kann also sein, daß demnächst am Eingang von Santa Marta oder zu den privaten Zimmern des Papstes eine koschere Mesusa hängt. Das ist ein länglicher Behälter, der am Eingang von Synagogen und vor allem an den Türpfosten jüdischer Haushalte hängt und u. a. anzeigt, daß in diesem Raum gegessen werden kann. In einem jüdischen Haushalt gibt es also mehrere Mesusot, eine Mesusa für jeden Raum. Das Material, aus denen sie gefertigt sind, ist nicht von Bedeutung. Im Behältnis befindet sich ein Pergamentstreifen mit der Aufschrift „Hüter der Pfosten Israels“. Die Mesusa, so das jüdische Verständnis, schützt das Haus vor Katastrophen, weshalb auch von einem magischen Usus die Rede ist.
Bei den Mesusot handelt es sich nicht um eine religiöse Vorschrift des Alten Testaments. Die Mesusa ist nachchristlicher Herkunft und stammt laut talmudischer Überlieferung aus der Zeit von Kaiser Hadrian, der von 117 bis 138 n. Chr. regierte. Die jüdisch-orthodoxe Erzählung zur Mesusa besagt, daß Onkelos, ein Neffe Hadrians, zum Judentum konvertiert sei, worauf der Kaiser eine Legion schickte, ihn zum römischen Staatskult zurückzuholen. Diese Legion bekehrte sich jedoch durch den Neffen ebenfalls zum Judentum. Der Kaiser schickte eine zweite Legion, doch auch diese bekehrte sich zum Judentum.
Die jüdische Gruppierung der Chabad Lubawitscher erzählt die Geschichte etwas anders. Demnach sei Onkelos nicht ein Neffe Hadrians, sondern von Kaiser Titus gewesen, der bereits von 79 bis 81 n. Chr. regierte. Auch habe es sich nicht um Legionen, sondern um Kompanien gehandelt. Da die Chabad Lubawitscher erst vor 250 Jahren entstanden sind, spielen sie für die Überlieferung allerdings keine Rolle.
Von einer Bekehrung römischer Legionen zum Judentum ist jedoch nichts überliefert. Unter Hadrian fand vielmehr der jüdische Bar-Kochba-Aufstand statt. Der Brauch der Mesusa scheint also um einiges jünger und nachträglich ausgeschmückt worden zu sein.
Werden Besucher, die in Santa Marta gerne gesehen sind und dort ein und aus gehen, etwa linke Politiker aus aller Welt, insbesondere Lateinamerika, demnächst berichten, daß die Mesusa an einem Türpfosten von Santa Marta angebracht wurde?
Rabbi Sergio Bergman trat mit der Wahl von Papst Franziskus in das größere Rampenlicht, als nicht nur Medienvertreter frenetisch nach Informationen und Bildmaterial über den neuen, aber völlig unbekannten Papst aus Argentinien suchten. Damals fielen Bilder auf, die Kardinal Jorge Mario Bergoglio am 12. Dezember 2012 zusammen mit Rabbi Sergio Bergman und Rabbi Alejandro Avruj beim Chanukka-Fest in Buenos Aires zeigen und die guten Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft Argentiniens belegen – zumindest zu ihrem progressiven Teil. In Argentinien lebt mit gut 200.000 Angehörigen die größte jüdische Gemeinschaft in Lateinamerika, fast alle von ihnen wohnen im Großraum Buenos Aires.
Die Verbindungen von Kardinal Bergoglio zur jüdischen Gemeinde waren so eng, daß er dort „Rabbi Bergoglio“ genannt wurde und das argentinische Nachrichtenportal Radio Sudamericana wenige Tage nach der Wahl Bergoglios wohlwollend titelte: „Für die jüdische Gemeinschaft ist der neue Papst ein Jude mehr“.
Die Chanukka-Feier, bei der Kardinal Bergoglio die fünfte Kerze entzündete, fand in der Synagoge der in den 70er Jahren entstandenen progressiven jüdischen Gemeinde NCI-Emanu El in Buenos Aires statt. Es war eine Art Gegenbesuch, nachdem Franziskus jüdische Vertreter im November 2012 zu einer – sehr umstrittenen – interreligiösen Feier in die Kathedrale von Buenos Aires eingeladen hatte. Die damalige Veranstaltung war, um genau zu sein, von der jüdischen Freimaurerloge B’nai B’rith ausgerichtet worden, um der Shoah zu gedenken. An ihr nahmen neben Kardinal Bergoglio auch die erwähnten Vertreter des progressiven Judentums und Vertreter des Islams teil. Der damalige Primas von Argentinien und heutige Papst hatte den B’nai B’rith seine Bischofskirche überlassen.
Seit der Papstwahl, wenige Monate später, gibt es das Gerücht, laut dem die progressive Synagoge auch als Freimaurerloge genützt werde, möglicherweise der B’nai B’rith, vielleicht auch anderer Obödienzen. Das steht natürlich in keinem Zusammenhang mit dem Besuch des damaligen Kardinals Bergoglio in dem Tempel. Allerdings warfen manche ein, es zeige, mit wem sich der seinerzeitige Kardinal und heute Papst umgibt. Dieses Gerücht ist mit Vorbehalt zu sehen, da eine Klärung nur vor Ort möglich wäre und die Synagogen und Logentempel der argentinischen Hauptstadt sich in ihrem Grundriß und ihrer Innengestaltung verblüffend ähneln.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/VaticanMedia/Facebook (Screenshot)