Nur „ein Stück weit Verantwortung“ für das ungeborene Kind?

Unter Berufung auf die Menschenwürde, die aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet wird, ist das moralische Gewissen der Verfassung zu artikulieren


Das ungeborene Kind, ein schutzbedürftiger, wehrloser Mensch. An ihnen tobt sich der menschenfeindliche Mob aus. Wie grausam.
Das ungeborene Kind, ein schutzbedürftiger, wehrloser Mensch. An ihnen tobt sich der menschenfeindliche Mob aus. Wie grausam.

Von Hubert Hecker

Anzei­ge

Mit der Ver­zichts­er­klä­rung von Frau­ke Bro­si­us-Gers­dorf ist zwar aus­ge­schlos­sen, dass die links-libe­ra­le Juri­stin für zwölf Jah­re den Kurs des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts mit­be­stimmt, was „mit unab­seh­ba­ren Fol­gen für die Aus­le­gung der Grund­rech­te“ (Dani­el Deckers) ver­bun­den wäre. Aber die Gefahr bleibt, dass die grund­ge­setz­li­chen Däm­me für den Lebens­schutz wei­ter­hin durch­lö­chert wer­den durch ein gro­ßes Zitier-Kar­tell um Bro­si­us-Gers­dorf. Daher ist eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit ihrer Argu­men­ta­ti­on für die Lebens­rechts­be­we­gung stra­te­gisch notwendig.

Die fol­gen­den Aus­füh­run­gen bezie­hen sich auf den „Kom­mis­si­ons­be­richt zur repro­duk­ti­ven Selbst­be­stim­mung“ vom Früh­jahr 2024, eine Auf­trags­ar­beit der dama­li­gen Ampel­ko­ali­ti­on mit dem Plan der weit­ge­hen­den Lega­li­sie­rung von Abtrei­bung. In ihrem ver­fas­sungs­recht­li­chen Bei­trag woll­te und will die Juri­stin für ihre Ziel­ori­en­tie­rung zwei hohe grund­ge­setz­li­che Hür­den über­win­den bzw. Schutz­schir­me für das Unge­bo­re­ne bei­sei­te­räu­men: erstens den Anspruch von jedem Men­schen auf Men­schen­wür­de (Art. 1.1/1 GG) und zwei­tens das bedin­gungs­lo­se Lebens­recht für alle (Art. 2.2/1).

I. Versuchte Aussetzung der Menschenwürde für ungeborene Menschen

    Die Argu­men­ta­ti­on von Bro­si­us-Gers­dorf zum ersten Punkt lautet:

    • Da die Men­schen­wür­de des Unge­bo­re­nen nicht abwä­gungs­fä­hig sei mit den Grund­rech­ten der Frau, kön­ne auch bei Lebens­ge­fahr für die Frau eine Abtrei­bung recht­mä­ßig nicht mög­lich sein. Dar­in bestün­de ein „nicht lös­ba­res Dilem­ma“. Die ver­fas­sungs­recht­li­che Lösung des Dilem­mas kön­ne „denk­lo­gisch“ nur sein, „dass ent­we­der die Men­schen­wür­de abwä­gungs­fä­hig ist oder für das unge­bo­re­ne Leben nicht gilt“.

    Bei die­ser Aus­sa­ge fällt ein logi­scher Wider­spruch ins Auge, nach dem für ein „unlös­ba­res“ Pro­blem „denk­lo­gisch“ eine „Lösung“ prä­sen­tiert wird.

    Dem Logik-Feh­ler der Jura-Pro­fes­so­rin liegt ein Sach­feh­ler zugrun­de mit ihrer The­se vom nicht-lös­ba­ren Dilem­ma: Die Kon­stel­la­ti­on von kol­li­die­ren­den Rechts­gü­tern, in die­sem Fall Men­schen­wür­de und Lebens­recht für das Unge­bo­re­ne wie für die Schwan­ge­re, stellt im Grenz­fall etwa bei Lebens­ge­fahr einen ver­fas­sungs­recht­li­chen Kon­flikt­fall dar. Es gibt aber dafür ratio­na­le Lösun­gen, ohne die Men­schen­wür­de anta­sten oder gar abspre­chen zu müssen.

    Die Rechts­wis­sen­schaft kann bei die­sem Dilem­ma auf den gül­ti­gen Rechts­satz des über­ge­setz­li­chen Not­stands zurück­grei­fen: Bei Lebens­ge­fahr für die schwan­ge­re Frau ist auch das unge­bo­re­ne Kind bedroht. Da das Leben des Unge­bo­ren aber bis zur exter­nen Lebens­fä­hig­keit in der 22. Woche nicht allein geret­tet wer­den kann, wohl aber das der Schwan­ge­ren, so ist das Leben der Frau zu ret­ten und nicht durch Untä­tig­keit bei­de zugrun­de gehen zu las­sen (nach Knut Wiebe).

    Im Dis­kurs der Ethik bzw. Moral­theo­lo­gie wird eben­falls eine Lösung ange­bo­ten: Nach Tho­mas Söding stell­te Papst Pius XII. in einer Lehr­ent­schei­dung von 1951 im Rah­men der Ver­ant­wor­tungs­ethik fest: Wenn das Leben der schwan­ge­ren Mut­ter in Gefahr ist, darf der Arzt das Leben der Mut­ter ret­ten (Inten­ti­on der Hand­lung) und dadurch die „unver­meid­li­che Neben­fol­ge“ vom Tod des Unge­bo­re­nen in Kauf neh­men als nicht-inten­dier­te Wir­kung der Handlung.

    Mit dem Auf­weis von einem juri­sti­schen und einer ethi­schen Argu­men­ta­ti­on ist nach­ge­wie­sen, dass bei dem oben beschrie­be­nen Dilem­ma von kol­li­die­ren­den Rechts­gü­tern im Aus­nah­me­fall von Lebens­ge­fahr eine ver­fas­sungs­kon­for­me Lösung mög­lich und ange­zeigt ist, ohne die Men­schen­wür­de des Unge­bo­re­nen auszusetzen.

    Auch zur ver­fas­sungs­recht­li­chen Kon­flikt­la­ge zwi­schen Erwach­se­nen bei Lebens­ge­fahr gibt es Lösungs­an­sät­ze, ohne die Men­schen­wür­de aus­zu­set­zen. In der Rechts­wis­sen­schaft sind kon­sen­sua­le Lösun­gen für Auf­he­bung des Lebens­rechts in drei Aus­nah­me­fäl­len aner­kannt: Bei Lebens­ge­fahr durch einen Angriff ist eine Tötung aus Not­wehr eben­so gerecht­fer­tigt wie Tötun­gen in einem Ver­tei­di­gungs­krieg; bei Tria­ge-Situa­tio­nen ist Ster­ben­las­sen durch Nicht-Hil­fe erlaubt.

    Somit ist Bro­si­us-Gers­dorfs zen­tra­le The­se von dem „nicht lös­ba­ren Dilem­ma“ als feh­ler­haft zurück­zu­wei­sen. Mit dem Weg­fall von die­ser Prä­mis­se wird auch ihre „denk­lo­gisch“ zwin­gen­de Fol­ge­rung obso­let, dass die Men­schen­wür­de für die unge­bo­re­nen Men­schen nicht gel­ten soll. Die angeb­lich „guten Grün­de dafür, dass die Men­schen­wür­de­ga­ran­tie erst ab Geburt gilt“, sind ver­fas­sungs­recht­lich nicht haltbar.

    • Auch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat in sei­nem ein­schlä­gi­gen Urteil von 1993 das Pro­blem der kol­li­die­ren­den Rechts­gü­ter zwi­schen dem Unge­bo­re­nen und der Schwan­ge­ren behan­delt. Nach­fol­gend die Pro­blem­lö­sung im Kon­text der gesam­ten ver­fas­sungs­recht­li­chen Argumentation:

    Nach den gericht­li­chen Leit­sät­zen (LS) 1 und 4 kom­men Men­schen­wür­de und Lebens­recht dem Unge­bo­re­nen von Anfang an zu. Men­schen­wür­de und Recht auf Leben hat der Staat für die gesam­te Dau­er der Schwan­ger­schaft „zu ach­ten und zu schüt­zen“ (Art. 1.1/2). Des­halb gilt ein „grund­sätz­li­ches Ver­bot des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs“ (LS 3).

    Aber auch die damit „kol­li­die­ren­den“ Rech­te der Frau wie Men­schen­wür­de, Lebens- und Per­sön­lich­keits­recht sind zu berück­sich­ti­gen (LS 5).

    Im Leit­satz 7 (und ihm fol­gend die Gesetz­ge­bung im § 218a/​2) wird eine Lösung für die Kon­stel­la­ti­on „kol­li­die­ren­der Rechts­gü­ter“ gefunden:

    Danach „tra­gen die Grund­rech­te der Frau nicht so weit, dass die Rechts­pflicht zum Aus­tra­gen des Kin­des gene­rell oder auch nur für eine bestimm­te Zeit auf­ge­ho­ben wäre“. Eine Abtrei­bung bleibt also grund­sätz­lich und grund­ge­setz­lich rechtswidrig.

    Ande­rer­seits sei es in Aus­nah­me­fäl­len zuläs­sig und womög­lich gebo­ten, eine Abtrei­bung nach Indi­ka­ti­on als legal zu bewer­ten, etwa „um eine Gefahr für das Leben der Schwan­ge­ren abzu­wen­den“. Für die­se Aus­nah­me­tat­be­stän­de müss­te der Gesetz­ge­ber „Kri­te­ri­en der Unzu­mut­bar­keit“ fest­le­gen, etwa „Bela­stun­gen, die ein sol­ches Maß an Auf­op­fe­rung eige­ner Lebens­wer­te ver­lan­gen, daß dies von der Frau nicht erwar­tet wer­den kann.“

    • Für den Fall der Ableh­nung ihrer Haupt­the­se führt Bro­si­us-Gers­dorf eine Neben­ar­gu­men­ta­ti­on ins Feld. Sie behaup­tet, dass selbst bei Gel­tung der Men­schen­wür­de für das Unge­bo­re­ne der ent­spre­chen­de Arti­kel 1.1 GG in der Regel bei Abtrei­bun­gen nicht betrof­fen wäre. Denn eine Ver­let­zung der Men­schen­wür­de bestehe nur dann, wenn bei einem Men­schen durch eine inten­dier­te Hand­lung das Sub­jekt­sein infra­ge gestellt wür­de – etwa durch Her­ab­wür­di­gung als Objekt (Objekt­for­mel). Da aber in der Regel die Schwan­ger­schaft been­det wür­de, „weil für die Frau eine Mut­ter­schaft zu dem Zeit­punkt nicht vor­stell­bar ist“, müss­te das Urteil gel­ten: „Die ‚blo­ße‘ Tötung eines Men­schen ohne beson­de­re, her­ab­wür­di­gen­de Begleit­um­stän­de, die ihm sei­ne Sub­jekt­qua­li­tä­ten abspre­chen, ver­letzt Art. 1.1 nicht“ (Kap. 5.2.1.1.5/4).

    Die Intui­ti­on, dass hier ein Denk­feh­ler vor­liegt, wird bestä­tigt durch die Ver­nunft­über­le­gung von Imma­nu­el Kant: Jede Tötung eines unschul­di­gen Men­schen ist des­halb uner­laubt, weil ihr eine Bewer­tung und damit Ver­zweckung des Men­schen vor­aus­geht und somit in der Regel durch jede Tötungs­hand­lung die Men­schen­wür­de ver­letzt wird (nach Peter Schallenberg).

    Nicht erst die Objek­ti­vie­rung des Embry­os zu einem Zell­hau­fen oder Schwan­ger­schafts­ge­we­be ver­letzt des­sen Men­schen­wür­de, son­dern schon die Tötungs­ab­sicht miss­ach­tet das unge­bo­re­ne Kind um sei­ner selbst wil­len. Wenn dann noch Moti­ve dazu­kom­men, dass das Unge­bo­re­ne der Lebens­pla­nung der Schwan­ge­ren im Wege steht (sie­he oben) oder mit der Abtrei­bung Bezie­hungs­kon­flik­te gelöst wer­den sol­len, wird der unge­bo­re­ne Mensch wei­ter­hin degra­diert und redu­ziert auf ein Hin­der­nis bei der Selbst­ent­fal­tung, Beschwer­nis für die Bezie­hung, uner­wünsch­tes Objekt oder ande­re Bela­stungs­fak­to­ren, somit im nega­ti­ven Sin­ne verzweckt.

    Aus die­sen Über­le­gun­gen wird deut­lich: Aus der Men­schen­wür­de gehen das Grund­recht auf Leben und das Tötungs­ver­bot her­vor. Wenn die­ser unauf­lös­li­che Begrün­dungs­zu­sam­men­hang „ent­kop­pelt“, aus­ein­an­der­ge­ris­sen wird, ist das Lebens­recht zur belie­bi­gen Rela­ti­vie­rung frei­ge­ge­ben. Offen­bar ist genau das die ver­deck­te Absicht hin­ter dem Entkoppelungspostulat.

    II. Zerstückelung des Lebensrechts von Ungeborenen

      Nach­dem es Bro­si­us-Gers­dorf nicht gelun­gen ist, argu­men­ta­tiv die grund­ge­setz­li­che Hür­de ‚Men­schen­wür­de‘ (Art. 1.1 GG) zu über­win­den oder zu besei­ti­gen, ver­sucht sie in ihren wei­te­ren Aus­füh­run­gen das Lebens­recht des Unge­bo­re­nen nach Art. 2.2. GG durch Rela­ti­vie­rung auszuhebeln.

      • Tat­säch­lich darf – im Unter­schied zu der unan­tast­ba­ren Men­schen­wür­de – in die Grund­rech­te auf Frei­heit und Leben „auf­grund eines Geset­zes ein­ge­grif­fen wer­den“ (Art.2.2/2). Die zahl­rei­chen gesetz­li­chen Ein­grif­fe in die Frei­heits­rech­te, mei­stens zum Schutz der Rech­te ande­rer oder der Gemein­schaft – wie z.B. der Frei­heits­ent­zug bei einem Ver­bre­cher – sind not­wen­dig und einsichtig.

      Das Lebens­recht hat aller­dings einen beson­de­ren Rang, da das Leben die Vor­aus­set­zung sämt­li­cher ande­rer Grund- und Frei­heits­rech­te dar­stellt. Daher hat das Ver­fas­sungs­ge­richt hohe Hür­den für einen recht­li­chen Ein­griff auf­ge­baut: Er muss zur Errei­chung des Zwecks geeig­net und erfor­der­lich sein sowie Mit­tel und Zweck in einem ange­mes­se­nen Ver­hält­nis ste­hen (nach Die­ter Grimm, Ver­fas­sungs­rich­ter a.D.).

      An die­sen Maß­stä­ben müs­sen sich die juri­sti­schen Argu­men­te von Bro­si­us-Gers­dorf für einen Ein­griff in das Lebens­recht des Embry­os mes­sen las­sen, die da lauten:

      In der frü­hen und mitt­le­ren Schwan­ger­schafts­pha­se habe das Lebens­recht des Unge­bo­re­nen nur ein gerin­ges Gewicht, dem ein gerin­ger Schutz­stan­dard ent­spricht. Dage­gen kom­me das Grund­recht der Schwan­ge­ren nach Selbst­be­stim­mung in die­ser Pha­se „mit star­kem Gewicht zur Gel­tung“. Aus der Rech­te-Abwä­gung erge­be sich der „Vor­rang“ des Per­son- und Frei­heits­rechts der Frau gegen­über dem nach­ran­gi­gen Lebens­recht des Embry­os mit der Schluss­fol­ge­rung: Der Frau ste­he bis zur 22. Schwan­ger­schafts­wo­che das Recht auf Abtrei­bung zu.

      Bei der Argu­men­ta­ti­on der Juri­stin fällt auf, dass sie das „Recht auf freie Ent­fal­tung der Per­son“ der Schwan­ge­ren (Art. 2.1 GG) bei der Abwä­gung als gleich­wer­tig mit dem Lebens­recht des Unge­bo­ren (Art. 2.2. GG) behan­delt. Das aber wider­spricht der Rang­fol­ge der bei­den Rech­te (sie­he oben) nach der Recht­spre­chung des Bundesverfassungsgerichts.

      Des Wei­te­ren ist zu fra­gen, wie­so dem Unge­bo­re­nen nicht das „vol­le Lebens­recht“ zukom­men soll wie den Gebo­re­nen. Die Abstu­fung des Embry­os als Trä­ger von einem nur teil­wer­ti­gen oder bruch­stück­haf­ten Lebens­recht erscheint als will­kür­li­che Abwer­tung, die auch durch die fol­gen­de Erklä­rung der Juri­stin nicht begrün­det ist:

      „Wegen der beson­de­ren Situa­ti­on des Embryos/​Fetus‘ als exi­sten­ti­ell von der (erwach­se­nen) Schwan­ge­ren abhän­gi­ges Wesen“ müss­te das Lebens­recht der unge­bo­re­nen Men­schen her­ab­ge­stuft wer­den auf ein nied­ri­ges Niveau.

      Aber ist nicht ange­sichts des schwa­chen, schutz­be­dürf­ti­gen und leib­lich abhän­gi­gen Sta­tus‘ der Unge­bo­re­nen gera­de ein höhe­res Rechts- und Schutz­ni­veau näher­lie­gend und zu fol­gern? Das jeden­falls zeigt der Ver­gleich zu exi­sten­zi­ell abhän­gi­gen Neu­ge­bo­re­nen von der umfas­sen­den Pfle­ge der Mutter/​Eltern: Klein­kin­der haben zum Über­le­ben einen erhöh­ten bzw. vol­len Schutz- und Sor­ge­an­spruch, was als Sor­ge­pflicht der Eltern im Grund­ge­setz Art. 6 fest­ge­schrie­ben ist.

      „Einer sol­chen nach­ge­burt­li­chen Lei­stungs­pflicht der Eltern ent­spricht eine prä­na­ta­le Ver­pflich­tung der Schwan­ge­ren, Ver­ant­wor­tung für eine durch Geschlechts­ver­kehr in Kauf genom­me­ne Schwan­ger­schaft zu tra­gen“, wie Bro­si­us-Gers­dorf selbst zuge­steht. Doch dann macht die Juri­stin einen schwer­wie­gen­den, will­kür­li­chen und absichts­vol­len Rück­zie­her: Sie will der Schwan­ge­ren kei­ne vol­le Ver­ant­wor­tung zuord­nen, son­dern deren ver­bind­li­che Sor­ge­pflicht für das Unge­bo­re­ne auf „ein Stück weit Ver­ant­wor­tung“ redu­zie­ren. Aber ein ‚biss­chen Ver­ant­wor­tung‘ ist eben­so begriffs­un­mög­lich wie ein ‚biss­chen Schwangerschaft‘.

      Hin­ter die­ser Abstu­fung von Ver­ant­wor­tung wird die Absicht der Juri­stin erkenn­bar, auch das vol­le Lebens­recht des unge­bo­re­nen Kin­des auf bruch­stück­haf­tes Niveau herabzustufen.

      • In der Ska­lie­rung von Lebens­recht und Schutz­ni­veau des Unge­bo­re­nen einer­seits sowie der gestuf­ten Ver­ant­wor­tung und Per­son-Rech­te der Schwan­ge­ren ande­rer­seits besteht die Grund­struk­tur der juri­sti­schen Argu­men­ta­ti­on von Bro­si­us-Gers­dorf. Doch die­ses Kon­strukt ist von der Sache her unhaltbar.

      Sach­lo­gisch kann es weder ein halb­wer­ti­ges Lebens­recht geben noch einen teil­wei­sen Lebens­schutz. Das Grund­recht auf Leben gilt ganz oder gar nicht. ‚Men­schen mit min­der­wer­ti­gem Lebens­recht‘ waren vor 85 Jah­ren für den Tod markiert.

      Der Ska­lie­rungs-Idee vom Zuwachs des Lebens­rechts vom Null­punkt bei der Keim­zel­le über gerin­ges Niveau in der Früh­pha­se bis zum vol­len Lebens­recht bei der Geburt liegt die fal­sche Vor­stel­lung zugrun­de, dass sich das Unge­bo­re­nen von der Keim­zel­le zum Men­schen ent­wickelt. In der natur­wis­sen­schaft­lich bestä­tig­ten Wirk­lich­keit ist aber der gene­tisch iden­ti­fi­zier­ba­re Mensch in der befruch­te­ten Eizel­le iden­tisch mit dem gebo­re­nen – und dar­aus folgt: Der mensch­li­che Embryo ent­wickelt sich als Mensch.

      Ein wei­te­res Fehl­ur­teil wird aus der phä­no­ty­pi­schen Gestalt­wer­dung des Embry­os abge­lei­tet: Erst ab der 22. Schwan­ger­schafts­wo­che kön­ne der Fetus in der mensch­li­chen Voll­ge­stalt als „einer von uns“ erkannt wer­den, was den Schei­de­punkt zwi­schen erlaub­ter und uner­laub­ter Abtrei­bung aus­ma­che. Das behaup­tet Horst Drei­er, der Dok­tor­va­ter von Brosius-Gersdorf.

      • „Dia­me­tral“ zu dem ‚gering­wer­ti­gen‘ Lebens­recht des schutz­be­dürf­ti­gen Embry­os in der Früh­pha­se hät­ten nach Ansicht der Juri­stin die Grund­rech­te der erwach­se­nen Frau im Ver­lan­gen nach Abtrei­bung ein „star­kes Gewicht“. Es gibt aber für die­se will­kür­li­che Hoch­stu­fung des Ent­schei­dungs­rechts der Frau über das Leben ihres Kin­des kei­ne sach­li­che Begrün­dung, son­dern nur die kal­te Logik des asym­me­tri­schen Ska­lie­rungs­an­sat­zes. Aber jeder (empa­thie­fä­hi­ge) Mensch erkennt intui­tiv oder auch durch Ver­nunft­über­le­gun­gen in der Ungleich­ge­wich­tung der Rech­te von Klein­kind und Erwach­se­ner eine zyni­sche Logik, inso­fern sie das Recht des Stär­ke­ren widerspiegelt.

      • Juri­stisch rekur­riert Bro­si­us-Gers­dorf auf das ver­meint­lich unein­ge­schränk­te Selbst­be­stim­mungs­recht als Aus­fluss der Per­son-Frei­heit nach Art. 2.1 GG. Dem­nach sei das ein­fa­che „Ver­lan­gen der Frau nach Been­di­gung der Schwan­ger­schaft“ recht­lich zu respektieren.

      Zu die­sem (Fehl-)Urteil kann die Ver­fas­sungs­recht­le­rin nur kom­men, indem sie die grund­ge­setz­li­che Ein­schrän­kung zur „Frei­heit der Per­son“ unter­schlägt: Die gilt nur, „soweit sie die Rech­te ande­rer nicht ver­letzt“ (Art. 2.1/2). Der „ande­re“ ist in die­sem Fall der unge­bo­re­ne Mensch, dem von Anfang an die Men­schen­wür­de und das Grund­recht auf Leben zusteht. Durch den „Schwan­ger­schafts­ab­bruch“ wird des­sen Lebens­recht nicht nur „ein Stück weit“, son­dern im Gan­zen ver­letzt mit töd­li­chem Aus­gang, juri­stisch cha­rak­te­ri­siert als die „Ver­nich­tung eines Rechtsgutes“.

      Das Resü­mee für die­sen II. Abschnitt lau­tet: Bro­si­us-Gers­dorf schei­tert eben­falls dar­an, den zwei­ten Schutz­schirm für das Leben des Unge­bo­re­nen, das Grund­recht auf Leben Art. 2.2 GG, in schlüs­si­ger Argu­men­ta­ti­on zu besei­ti­gen. Das bedeu­tet: Eine Lega­li­sie­rung von Abtrei­bung ist ver­fas­sungs­recht­lich nicht zu legitimieren.

      III. Abtreibung nach Beratung bleibt rechtswidrig

        Im FAZ-Gespräch vom 14.8.2025 führt der Staats­recht­ler Horst Drei­er wei­te­re Grün­de gegen Men­schen­wür­de und vol­les Lebens­recht für Unge­bo­re­ne an.

        Drei­ers Kon­zept vom ein­ge­schränk­ten, fak­tisch aus­ge­setz­ten Lebens­schutz beruht haupt­säch­lich auf der Kri­tik der Abtrei­bungs­re­ge­lung des Para­gra­phen 218 sowie der nach sei­ner Ansicht inkon­si­sten­ten Argu­men­ta­ti­on des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts. So bestä­ti­ge das Gericht mit der Zwölf-Wochen­frist zur Bera­tungs­re­ge­lung den Ansatz vom gestuf­ten Lebens­schutz. Außer­dem sei das Kon­strukt „rechts­wid­rig, aber straf­frei“ inkon­se­quent. Denn die bera­te­ne Abtrei­bung wer­de fak­tisch als „recht­mä­ßig behan­delt“, auch weil alle übli­chen Kon­se­quen­zen der Rechts­wid­rig­keit vom Gericht selbst besei­tig wur­den wie Arzt­ver­trä­ge zu einer rechts­wid­ri­gen Hand­lung und Lohn­fort­zah­lung für die rechts­wid­rig abtrei­ben­de Schwangere.

        Die Schlüs­sel­rol­le für die recht­li­che Bewer­tung der gegen­sätz­li­chen Kon­zep­te zur Abtrei­bungs­fra­ge liegt in der jewei­li­gen Ein­schät­zung der Tat­sa­che, dass Embryo und Schwan­ge­re eine „Zwei­heit in Ein­heit“ bil­den. Damit wird die Ver­schie­den­heit der bei­den mensch­li­chen Wesen, aber auch die kör­per­li­che Ver­schrän­kung und lebens­not­wen­di­ge Sym­bio­se auf den Begriff gebracht.

        Drei­er und sei­ne Rechts­schu­le inter­pre­tie­ren die leib­li­che Ver­schrän­kung der bei­den Per­so­nen als „exi­sten­zi­el­le Abhän­gig­keit des Embry­os von der Schwan­ge­ren“, um dar­aus will­kür­lich ein gerin­ges Lebens­recht abzu­lei­ten (sie­he oben).

        Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt dage­gen sieht in der sym­bio­ti­schen „Zwei­heit in Ein­heit“ die ein­zi­ge Mög­lich­keit und Chan­ce, den staat­li­chen Schutz­auf­trag durch Bera­tung der Schwan­ge­ren als Ermu­ti­gung und Per­spek­tiv­eröff­nung für das (Weiter-)Leben des unge­bo­re­nen Kin­des zu erfül­len. Dabei muss der Frau das eige­ne Lebens­recht des Unge­bo­re­nen bewusst gemacht sowie auf die hohe Hür­de für Abtrei­bun­gen als Aus­nah­me bei außer­ge­wöhn­li­chen Bela­stun­gen hin­ge­wie­sen wer­den. Nur bei Erfül­lung von die­sem inhalt­li­chen Bera­tungs­auf­trag wird der Schwan­ge­ren (als ver­nunft­fä­hi­ger Per­son) die gewis­sen­haf­te Ent­schei­dung bezüg­lich einer Abtrei­bung über­las­sen. Das Gericht war über­zeugt, dass mit die­ser Bera­tungs­pflicht der staat­li­che Lebens­schutz­auf­trag bes­ser gelin­gen wür­de als mit der frü­he­ren allei­ni­gen Straf­an­dro­hung, die prak­tisch kaum durch­ge­setzt wer­den konn­te. Zusätz­lich hat der Staat für posi­ti­ve Rah­men­be­din­gun­gen für Schwan­ge­re und Fami­li­en zu sor­gen sowie den Lebens­rechts­an­spruch der Unge­bo­re­nen im all­ge­mei­nen Bewusst­sein zu erhal­ten und zu bele­ben. (Der zwei­te Inter­view­part­ner Andre­as Hill­gru­ber mahnt an, dass der Staat die­se letz­te­re Auf­ga­be nicht erfüllt z.B. im Schul­un­ter­richt. Des Wei­te­ren müss­te pro fami­lia die Bera­tungs­li­zenz ent­zo­gen wer­den, weil die Orga­ni­sa­ti­on vor­sätz­lich gegen die Lebens­schutz­ori­en­tie­rung der Bera­tung verstößt.)

        Die nach­ste­hen­den Rechts­set­zun­gen fol­gen logisch aus der Rea­li­sie­rung der staat­li­chen Lebens­schutz­maß­nah­men. Was Drei­er als juri­sti­sche Inkon­si­sten­zen bemän­gelt, sind bei Akzep­tanz des Schutz­kon­zep­tes schlüs­si­ge Rechtsfolgen:

        Da der Staat die Vali­di­tät der Grün­de für die Aus­nah­me­ent­schei­dung der Frau nicht kennt und bewer­ten kann, bleibt ihm ver­sagt, die Abtrei­bung nach Bera­tungs­re­ge­lung rechts­för­mig zu stel­len, sie bleibt also „rechts­wid­rig“. Der Staat ver­zich­tet aber auf die übli­chen Rechts­fol­gen wie Bestra­fung der rechts­wid­ri­gen Hand­lung – einer­seits aus Respekt vor den ent­schie­de­nen Frau­en, ande­rer­seits um die Fol­gen der Ent­schei­dung als Abtrei­bung durch einen Arzt nicht zu hintertreiben.

        Des Wei­te­ren ist auch die Frist­be­gren­zung der Abtrei­bung aus prak­ti­schen Erwä­gun­gen für eine mög­lichst frü­he Ent­schei­dung getrof­fen – und nicht als Aner­ken­nung eines gestuf­ten Lebens­rechts, wie Drei­er fälsch­lich unter­stellt. Schließ­lich ist die gegen­über ande­ren Tötungs­de­lik­ten unter­schied­li­che Straf­be­hand­lung von straf­ba­ren Abtrei­bungs­hand­lun­gen in § 218b (wie etwa Straf­frei­heit der Schwan­ge­ren) aus der beson­de­ren Bedin­gung der „Zwei­heit in Ein­heit“ hin­rei­chend zu erklären.

        Drei­er ver­sucht dage­gen, aus die­ser erklär­ba­ren Rechts­fol­ge dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt einen Prin­zi­pi­en­bruch von unter­schied­li­chen Gra­den an Men­schen­wür­de unter­zu­schie­ben. Wegen ver­meint­li­cher Inkon­si­stenz will der Jurist für unge­bo­re­ne Men­schen den Men­schen­wür­de-Arti­kel fal­len las­sen, was selbst eine ver­fas­sungs­recht­li­che Inkon­si­stenz beinhal­tet. Denn die Men­schen­wür­de stellt als Prä­mis­se der Grund­rech­te einen „Höchst­wert“ der Ver­fas­sung mit Ewig­keits­klau­sel nach Art. 79 GG dar.

        IV. Für die Rechtsprinzipien des Grundgesetzes kämpfen

        Das Ver­fas­sungs­ge­richts­ur­teil von 1993 war ein Kom­pro­miss. Dabei konn­te das Gericht aber durch­set­zen, dass die Rechts­prin­zi­pi­en des Grund­ge­set­zes in vol­ler Gel­tung blie­ben. Inso­fern kann man das Grund­satz­ur­teil akzep­tie­ren und in der Abwehr von Attacken auf Men­schen­wür­de und Lebens­recht auch ver­tei­di­gen, wie in die­sem Bei­trag geschehen.

        Ande­rer­seits wur­den bei den Aus­nah­me­re­geln zum Abtrei­bungs­ver­bot (§ 218a/2,3) sowie zu der Bera­tungs­re­ge­lung in Umset­zung und Durch­set­zung der Ver­fas­sungs­prin­zi­pi­en Abstri­che gemacht als Zuge­ständ­nis­se an links-libe­ra­le Kräf­te – mit dem inak­zep­ta­blen Ergeb­nis, dass in Deutsch­land jähr­lich mehr als 100.000 Unge­bo­re­ne rechts­wid­rig abge­trie­ben werden.

        Die Kir­che und die Lebens­rechts­be­we­gung kön­nen ihre Kri­tik an der gän­gi­gen Abtrei­bungs­pra­xis sowie an den ihr zugrun­de lie­gen­den Kom­pro­miss­lö­sun­gen auf das unein­ge­schränk­te Gel­tungs­recht zen­tra­ler Grund­ge­setz­ar­ti­kel stüt­zen. Indem sie sich auf die Men­schen­wür­de beru­fen, die aus der Gott­eben­bild­lich­keit des Men­schen abge­lei­tet wird, arti­ku­lie­ren sie das mora­li­sche Gewis­sen der Verfassung.

        Bild: MiL

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