
Von Hubert Hecker
Mit der Verzichtserklärung von Frauke Brosius-Gersdorf ist zwar ausgeschlossen, dass die links-liberale Juristin für zwölf Jahre den Kurs des Bundesverfassungsgerichts mitbestimmt, was „mit unabsehbaren Folgen für die Auslegung der Grundrechte“ (Daniel Deckers) verbunden wäre. Aber die Gefahr bleibt, dass die grundgesetzlichen Dämme für den Lebensschutz weiterhin durchlöchert werden durch ein großes Zitier-Kartell um Brosius-Gersdorf. Daher ist eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Argumentation für die Lebensrechtsbewegung strategisch notwendig.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den „Kommissionsbericht zur reproduktiven Selbstbestimmung“ vom Frühjahr 2024, eine Auftragsarbeit der damaligen Ampelkoalition mit dem Plan der weitgehenden Legalisierung von Abtreibung. In ihrem verfassungsrechtlichen Beitrag wollte und will die Juristin für ihre Zielorientierung zwei hohe grundgesetzliche Hürden überwinden bzw. Schutzschirme für das Ungeborene beiseiteräumen: erstens den Anspruch von jedem Menschen auf Menschenwürde (Art. 1.1/1 GG) und zweitens das bedingungslose Lebensrecht für alle (Art. 2.2/1).
I. Versuchte Aussetzung der Menschenwürde für ungeborene Menschen
Die Argumentation von Brosius-Gersdorf zum ersten Punkt lautet:
• Da die Menschenwürde des Ungeborenen nicht abwägungsfähig sei mit den Grundrechten der Frau, könne auch bei Lebensgefahr für die Frau eine Abtreibung rechtmäßig nicht möglich sein. Darin bestünde ein „nicht lösbares Dilemma“. Die verfassungsrechtliche Lösung des Dilemmas könne „denklogisch“ nur sein, „dass entweder die Menschenwürde abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt“.
Bei dieser Aussage fällt ein logischer Widerspruch ins Auge, nach dem für ein „unlösbares“ Problem „denklogisch“ eine „Lösung“ präsentiert wird.
Dem Logik-Fehler der Jura-Professorin liegt ein Sachfehler zugrunde mit ihrer These vom nicht-lösbaren Dilemma: Die Konstellation von kollidierenden Rechtsgütern, in diesem Fall Menschenwürde und Lebensrecht für das Ungeborene wie für die Schwangere, stellt im Grenzfall etwa bei Lebensgefahr einen verfassungsrechtlichen Konfliktfall dar. Es gibt aber dafür rationale Lösungen, ohne die Menschenwürde antasten oder gar absprechen zu müssen.
Die Rechtswissenschaft kann bei diesem Dilemma auf den gültigen Rechtssatz des übergesetzlichen Notstands zurückgreifen: Bei Lebensgefahr für die schwangere Frau ist auch das ungeborene Kind bedroht. Da das Leben des Ungeboren aber bis zur externen Lebensfähigkeit in der 22. Woche nicht allein gerettet werden kann, wohl aber das der Schwangeren, so ist das Leben der Frau zu retten und nicht durch Untätigkeit beide zugrunde gehen zu lassen (nach Knut Wiebe).
Im Diskurs der Ethik bzw. Moraltheologie wird ebenfalls eine Lösung angeboten: Nach Thomas Söding stellte Papst Pius XII. in einer Lehrentscheidung von 1951 im Rahmen der Verantwortungsethik fest: Wenn das Leben der schwangeren Mutter in Gefahr ist, darf der Arzt das Leben der Mutter retten (Intention der Handlung) und dadurch die „unvermeidliche Nebenfolge“ vom Tod des Ungeborenen in Kauf nehmen als nicht-intendierte Wirkung der Handlung.
Mit dem Aufweis von einem juristischen und einer ethischen Argumentation ist nachgewiesen, dass bei dem oben beschriebenen Dilemma von kollidierenden Rechtsgütern im Ausnahmefall von Lebensgefahr eine verfassungskonforme Lösung möglich und angezeigt ist, ohne die Menschenwürde des Ungeborenen auszusetzen.
Auch zur verfassungsrechtlichen Konfliktlage zwischen Erwachsenen bei Lebensgefahr gibt es Lösungsansätze, ohne die Menschenwürde auszusetzen. In der Rechtswissenschaft sind konsensuale Lösungen für Aufhebung des Lebensrechts in drei Ausnahmefällen anerkannt: Bei Lebensgefahr durch einen Angriff ist eine Tötung aus Notwehr ebenso gerechtfertigt wie Tötungen in einem Verteidigungskrieg; bei Triage-Situationen ist Sterbenlassen durch Nicht-Hilfe erlaubt.
Somit ist Brosius-Gersdorfs zentrale These von dem „nicht lösbaren Dilemma“ als fehlerhaft zurückzuweisen. Mit dem Wegfall von dieser Prämisse wird auch ihre „denklogisch“ zwingende Folgerung obsolet, dass die Menschenwürde für die ungeborenen Menschen nicht gelten soll. Die angeblich „guten Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt“, sind verfassungsrechtlich nicht haltbar.
• Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem einschlägigen Urteil von 1993 das Problem der kollidierenden Rechtsgüter zwischen dem Ungeborenen und der Schwangeren behandelt. Nachfolgend die Problemlösung im Kontext der gesamten verfassungsrechtlichen Argumentation:
Nach den gerichtlichen Leitsätzen (LS) 1 und 4 kommen Menschenwürde und Lebensrecht dem Ungeborenen von Anfang an zu. Menschenwürde und Recht auf Leben hat der Staat für die gesamte Dauer der Schwangerschaft „zu achten und zu schützen“ (Art. 1.1/2). Deshalb gilt ein „grundsätzliches Verbot des Schwangerschaftsabbruchs“ (LS 3).
Aber auch die damit „kollidierenden“ Rechte der Frau wie Menschenwürde, Lebens- und Persönlichkeitsrecht sind zu berücksichtigen (LS 5).
Im Leitsatz 7 (und ihm folgend die Gesetzgebung im § 218a/2) wird eine Lösung für die Konstellation „kollidierender Rechtsgüter“ gefunden:
Danach „tragen die Grundrechte der Frau nicht so weit, dass die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes generell oder auch nur für eine bestimmte Zeit aufgehoben wäre“. Eine Abtreibung bleibt also grundsätzlich und grundgesetzlich rechtswidrig.
Andererseits sei es in Ausnahmefällen zulässig und womöglich geboten, eine Abtreibung nach Indikation als legal zu bewerten, etwa „um eine Gefahr für das Leben der Schwangeren abzuwenden“. Für diese Ausnahmetatbestände müsste der Gesetzgeber „Kriterien der Unzumutbarkeit“ festlegen, etwa „Belastungen, die ein solches Maß an Aufopferung eigener Lebenswerte verlangen, daß dies von der Frau nicht erwartet werden kann.“
• Für den Fall der Ablehnung ihrer Hauptthese führt Brosius-Gersdorf eine Nebenargumentation ins Feld. Sie behauptet, dass selbst bei Geltung der Menschenwürde für das Ungeborene der entsprechende Artikel 1.1 GG in der Regel bei Abtreibungen nicht betroffen wäre. Denn eine Verletzung der Menschenwürde bestehe nur dann, wenn bei einem Menschen durch eine intendierte Handlung das Subjektsein infrage gestellt würde – etwa durch Herabwürdigung als Objekt (Objektformel). Da aber in der Regel die Schwangerschaft beendet würde, „weil für die Frau eine Mutterschaft zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar ist“, müsste das Urteil gelten: „Die ‚bloße‘ Tötung eines Menschen ohne besondere, herabwürdigende Begleitumstände, die ihm seine Subjektqualitäten absprechen, verletzt Art. 1.1 nicht“ (Kap. 5.2.1.1.5/4).
Die Intuition, dass hier ein Denkfehler vorliegt, wird bestätigt durch die Vernunftüberlegung von Immanuel Kant: Jede Tötung eines unschuldigen Menschen ist deshalb unerlaubt, weil ihr eine Bewertung und damit Verzweckung des Menschen vorausgeht und somit in der Regel durch jede Tötungshandlung die Menschenwürde verletzt wird (nach Peter Schallenberg).
Nicht erst die Objektivierung des Embryos zu einem Zellhaufen oder Schwangerschaftsgewebe verletzt dessen Menschenwürde, sondern schon die Tötungsabsicht missachtet das ungeborene Kind um seiner selbst willen. Wenn dann noch Motive dazukommen, dass das Ungeborene der Lebensplanung der Schwangeren im Wege steht (siehe oben) oder mit der Abtreibung Beziehungskonflikte gelöst werden sollen, wird der ungeborene Mensch weiterhin degradiert und reduziert auf ein Hindernis bei der Selbstentfaltung, Beschwernis für die Beziehung, unerwünschtes Objekt oder andere Belastungsfaktoren, somit im negativen Sinne verzweckt.
Aus diesen Überlegungen wird deutlich: Aus der Menschenwürde gehen das Grundrecht auf Leben und das Tötungsverbot hervor. Wenn dieser unauflösliche Begründungszusammenhang „entkoppelt“, auseinandergerissen wird, ist das Lebensrecht zur beliebigen Relativierung freigegeben. Offenbar ist genau das die verdeckte Absicht hinter dem Entkoppelungspostulat.
II. Zerstückelung des Lebensrechts von Ungeborenen
Nachdem es Brosius-Gersdorf nicht gelungen ist, argumentativ die grundgesetzliche Hürde ‚Menschenwürde‘ (Art. 1.1 GG) zu überwinden oder zu beseitigen, versucht sie in ihren weiteren Ausführungen das Lebensrecht des Ungeborenen nach Art. 2.2. GG durch Relativierung auszuhebeln.
• Tatsächlich darf – im Unterschied zu der unantastbaren Menschenwürde – in die Grundrechte auf Freiheit und Leben „aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden“ (Art.2.2/2). Die zahlreichen gesetzlichen Eingriffe in die Freiheitsrechte, meistens zum Schutz der Rechte anderer oder der Gemeinschaft – wie z.B. der Freiheitsentzug bei einem Verbrecher – sind notwendig und einsichtig.
Das Lebensrecht hat allerdings einen besonderen Rang, da das Leben die Voraussetzung sämtlicher anderer Grund- und Freiheitsrechte darstellt. Daher hat das Verfassungsgericht hohe Hürden für einen rechtlichen Eingriff aufgebaut: Er muss zur Erreichung des Zwecks geeignet und erforderlich sein sowie Mittel und Zweck in einem angemessenen Verhältnis stehen (nach Dieter Grimm, Verfassungsrichter a.D.).
An diesen Maßstäben müssen sich die juristischen Argumente von Brosius-Gersdorf für einen Eingriff in das Lebensrecht des Embryos messen lassen, die da lauten:
In der frühen und mittleren Schwangerschaftsphase habe das Lebensrecht des Ungeborenen nur ein geringes Gewicht, dem ein geringer Schutzstandard entspricht. Dagegen komme das Grundrecht der Schwangeren nach Selbstbestimmung in dieser Phase „mit starkem Gewicht zur Geltung“. Aus der Rechte-Abwägung ergebe sich der „Vorrang“ des Person- und Freiheitsrechts der Frau gegenüber dem nachrangigen Lebensrecht des Embryos mit der Schlussfolgerung: Der Frau stehe bis zur 22. Schwangerschaftswoche das Recht auf Abtreibung zu.
Bei der Argumentation der Juristin fällt auf, dass sie das „Recht auf freie Entfaltung der Person“ der Schwangeren (Art. 2.1 GG) bei der Abwägung als gleichwertig mit dem Lebensrecht des Ungeboren (Art. 2.2. GG) behandelt. Das aber widerspricht der Rangfolge der beiden Rechte (siehe oben) nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Des Weiteren ist zu fragen, wieso dem Ungeborenen nicht das „volle Lebensrecht“ zukommen soll wie den Geborenen. Die Abstufung des Embryos als Träger von einem nur teilwertigen oder bruchstückhaften Lebensrecht erscheint als willkürliche Abwertung, die auch durch die folgende Erklärung der Juristin nicht begründet ist:
„Wegen der besonderen Situation des Embryos/Fetus‘ als existentiell von der (erwachsenen) Schwangeren abhängiges Wesen“ müsste das Lebensrecht der ungeborenen Menschen herabgestuft werden auf ein niedriges Niveau.
Aber ist nicht angesichts des schwachen, schutzbedürftigen und leiblich abhängigen Status‘ der Ungeborenen gerade ein höheres Rechts- und Schutzniveau näherliegend und zu folgern? Das jedenfalls zeigt der Vergleich zu existenziell abhängigen Neugeborenen von der umfassenden Pflege der Mutter/Eltern: Kleinkinder haben zum Überleben einen erhöhten bzw. vollen Schutz- und Sorgeanspruch, was als Sorgepflicht der Eltern im Grundgesetz Art. 6 festgeschrieben ist.
„Einer solchen nachgeburtlichen Leistungspflicht der Eltern entspricht eine pränatale Verpflichtung der Schwangeren, Verantwortung für eine durch Geschlechtsverkehr in Kauf genommene Schwangerschaft zu tragen“, wie Brosius-Gersdorf selbst zugesteht. Doch dann macht die Juristin einen schwerwiegenden, willkürlichen und absichtsvollen Rückzieher: Sie will der Schwangeren keine volle Verantwortung zuordnen, sondern deren verbindliche Sorgepflicht für das Ungeborene auf „ein Stück weit Verantwortung“ reduzieren. Aber ein ‚bisschen Verantwortung‘ ist ebenso begriffsunmöglich wie ein ‚bisschen Schwangerschaft‘.
Hinter dieser Abstufung von Verantwortung wird die Absicht der Juristin erkennbar, auch das volle Lebensrecht des ungeborenen Kindes auf bruchstückhaftes Niveau herabzustufen.
• In der Skalierung von Lebensrecht und Schutzniveau des Ungeborenen einerseits sowie der gestuften Verantwortung und Person-Rechte der Schwangeren andererseits besteht die Grundstruktur der juristischen Argumentation von Brosius-Gersdorf. Doch dieses Konstrukt ist von der Sache her unhaltbar.
Sachlogisch kann es weder ein halbwertiges Lebensrecht geben noch einen teilweisen Lebensschutz. Das Grundrecht auf Leben gilt ganz oder gar nicht. ‚Menschen mit minderwertigem Lebensrecht‘ waren vor 85 Jahren für den Tod markiert.
Der Skalierungs-Idee vom Zuwachs des Lebensrechts vom Nullpunkt bei der Keimzelle über geringes Niveau in der Frühphase bis zum vollen Lebensrecht bei der Geburt liegt die falsche Vorstellung zugrunde, dass sich das Ungeborenen von der Keimzelle zum Menschen entwickelt. In der naturwissenschaftlich bestätigten Wirklichkeit ist aber der genetisch identifizierbare Mensch in der befruchteten Eizelle identisch mit dem geborenen – und daraus folgt: Der menschliche Embryo entwickelt sich als Mensch.
Ein weiteres Fehlurteil wird aus der phänotypischen Gestaltwerdung des Embryos abgeleitet: Erst ab der 22. Schwangerschaftswoche könne der Fetus in der menschlichen Vollgestalt als „einer von uns“ erkannt werden, was den Scheidepunkt zwischen erlaubter und unerlaubter Abtreibung ausmache. Das behauptet Horst Dreier, der Doktorvater von Brosius-Gersdorf.
• „Diametral“ zu dem ‚geringwertigen‘ Lebensrecht des schutzbedürftigen Embryos in der Frühphase hätten nach Ansicht der Juristin die Grundrechte der erwachsenen Frau im Verlangen nach Abtreibung ein „starkes Gewicht“. Es gibt aber für diese willkürliche Hochstufung des Entscheidungsrechts der Frau über das Leben ihres Kindes keine sachliche Begründung, sondern nur die kalte Logik des asymmetrischen Skalierungsansatzes. Aber jeder (empathiefähige) Mensch erkennt intuitiv oder auch durch Vernunftüberlegungen in der Ungleichgewichtung der Rechte von Kleinkind und Erwachsener eine zynische Logik, insofern sie das Recht des Stärkeren widerspiegelt.
• Juristisch rekurriert Brosius-Gersdorf auf das vermeintlich uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss der Person-Freiheit nach Art. 2.1 GG. Demnach sei das einfache „Verlangen der Frau nach Beendigung der Schwangerschaft“ rechtlich zu respektieren.
Zu diesem (Fehl-)Urteil kann die Verfassungsrechtlerin nur kommen, indem sie die grundgesetzliche Einschränkung zur „Freiheit der Person“ unterschlägt: Die gilt nur, „soweit sie die Rechte anderer nicht verletzt“ (Art. 2.1/2). Der „andere“ ist in diesem Fall der ungeborene Mensch, dem von Anfang an die Menschenwürde und das Grundrecht auf Leben zusteht. Durch den „Schwangerschaftsabbruch“ wird dessen Lebensrecht nicht nur „ein Stück weit“, sondern im Ganzen verletzt mit tödlichem Ausgang, juristisch charakterisiert als die „Vernichtung eines Rechtsgutes“.
Das Resümee für diesen II. Abschnitt lautet: Brosius-Gersdorf scheitert ebenfalls daran, den zweiten Schutzschirm für das Leben des Ungeborenen, das Grundrecht auf Leben Art. 2.2 GG, in schlüssiger Argumentation zu beseitigen. Das bedeutet: Eine Legalisierung von Abtreibung ist verfassungsrechtlich nicht zu legitimieren.
III. Abtreibung nach Beratung bleibt rechtswidrig
Im FAZ-Gespräch vom 14.8.2025 führt der Staatsrechtler Horst Dreier weitere Gründe gegen Menschenwürde und volles Lebensrecht für Ungeborene an.
Dreiers Konzept vom eingeschränkten, faktisch ausgesetzten Lebensschutz beruht hauptsächlich auf der Kritik der Abtreibungsregelung des Paragraphen 218 sowie der nach seiner Ansicht inkonsistenten Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. So bestätige das Gericht mit der Zwölf-Wochenfrist zur Beratungsregelung den Ansatz vom gestuften Lebensschutz. Außerdem sei das Konstrukt „rechtswidrig, aber straffrei“ inkonsequent. Denn die beratene Abtreibung werde faktisch als „rechtmäßig behandelt“, auch weil alle üblichen Konsequenzen der Rechtswidrigkeit vom Gericht selbst beseitig wurden wie Arztverträge zu einer rechtswidrigen Handlung und Lohnfortzahlung für die rechtswidrig abtreibende Schwangere.
Die Schlüsselrolle für die rechtliche Bewertung der gegensätzlichen Konzepte zur Abtreibungsfrage liegt in der jeweiligen Einschätzung der Tatsache, dass Embryo und Schwangere eine „Zweiheit in Einheit“ bilden. Damit wird die Verschiedenheit der beiden menschlichen Wesen, aber auch die körperliche Verschränkung und lebensnotwendige Symbiose auf den Begriff gebracht.
Dreier und seine Rechtsschule interpretieren die leibliche Verschränkung der beiden Personen als „existenzielle Abhängigkeit des Embryos von der Schwangeren“, um daraus willkürlich ein geringes Lebensrecht abzuleiten (siehe oben).
Das Bundesverfassungsgericht dagegen sieht in der symbiotischen „Zweiheit in Einheit“ die einzige Möglichkeit und Chance, den staatlichen Schutzauftrag durch Beratung der Schwangeren als Ermutigung und Perspektiveröffnung für das (Weiter-)Leben des ungeborenen Kindes zu erfüllen. Dabei muss der Frau das eigene Lebensrecht des Ungeborenen bewusst gemacht sowie auf die hohe Hürde für Abtreibungen als Ausnahme bei außergewöhnlichen Belastungen hingewiesen werden. Nur bei Erfüllung von diesem inhaltlichen Beratungsauftrag wird der Schwangeren (als vernunftfähiger Person) die gewissenhafte Entscheidung bezüglich einer Abtreibung überlassen. Das Gericht war überzeugt, dass mit dieser Beratungspflicht der staatliche Lebensschutzauftrag besser gelingen würde als mit der früheren alleinigen Strafandrohung, die praktisch kaum durchgesetzt werden konnte. Zusätzlich hat der Staat für positive Rahmenbedingungen für Schwangere und Familien zu sorgen sowie den Lebensrechtsanspruch der Ungeborenen im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben. (Der zweite Interviewpartner Andreas Hillgruber mahnt an, dass der Staat diese letztere Aufgabe nicht erfüllt z.B. im Schulunterricht. Des Weiteren müsste pro familia die Beratungslizenz entzogen werden, weil die Organisation vorsätzlich gegen die Lebensschutzorientierung der Beratung verstößt.)
Die nachstehenden Rechtssetzungen folgen logisch aus der Realisierung der staatlichen Lebensschutzmaßnahmen. Was Dreier als juristische Inkonsistenzen bemängelt, sind bei Akzeptanz des Schutzkonzeptes schlüssige Rechtsfolgen:
Da der Staat die Validität der Gründe für die Ausnahmeentscheidung der Frau nicht kennt und bewerten kann, bleibt ihm versagt, die Abtreibung nach Beratungsregelung rechtsförmig zu stellen, sie bleibt also „rechtswidrig“. Der Staat verzichtet aber auf die üblichen Rechtsfolgen wie Bestrafung der rechtswidrigen Handlung – einerseits aus Respekt vor den entschiedenen Frauen, andererseits um die Folgen der Entscheidung als Abtreibung durch einen Arzt nicht zu hintertreiben.
Des Weiteren ist auch die Fristbegrenzung der Abtreibung aus praktischen Erwägungen für eine möglichst frühe Entscheidung getroffen – und nicht als Anerkennung eines gestuften Lebensrechts, wie Dreier fälschlich unterstellt. Schließlich ist die gegenüber anderen Tötungsdelikten unterschiedliche Strafbehandlung von strafbaren Abtreibungshandlungen in § 218b (wie etwa Straffreiheit der Schwangeren) aus der besonderen Bedingung der „Zweiheit in Einheit“ hinreichend zu erklären.
Dreier versucht dagegen, aus dieser erklärbaren Rechtsfolge dem Bundesverfassungsgericht einen Prinzipienbruch von unterschiedlichen Graden an Menschenwürde unterzuschieben. Wegen vermeintlicher Inkonsistenz will der Jurist für ungeborene Menschen den Menschenwürde-Artikel fallen lassen, was selbst eine verfassungsrechtliche Inkonsistenz beinhaltet. Denn die Menschenwürde stellt als Prämisse der Grundrechte einen „Höchstwert“ der Verfassung mit Ewigkeitsklausel nach Art. 79 GG dar.
IV. Für die Rechtsprinzipien des Grundgesetzes kämpfen
Das Verfassungsgerichtsurteil von 1993 war ein Kompromiss. Dabei konnte das Gericht aber durchsetzen, dass die Rechtsprinzipien des Grundgesetzes in voller Geltung blieben. Insofern kann man das Grundsatzurteil akzeptieren und in der Abwehr von Attacken auf Menschenwürde und Lebensrecht auch verteidigen, wie in diesem Beitrag geschehen.
Andererseits wurden bei den Ausnahmeregeln zum Abtreibungsverbot (§ 218a/2,3) sowie zu der Beratungsregelung in Umsetzung und Durchsetzung der Verfassungsprinzipien Abstriche gemacht als Zugeständnisse an links-liberale Kräfte – mit dem inakzeptablen Ergebnis, dass in Deutschland jährlich mehr als 100.000 Ungeborene rechtswidrig abgetrieben werden.
Die Kirche und die Lebensrechtsbewegung können ihre Kritik an der gängigen Abtreibungspraxis sowie an den ihr zugrunde liegenden Kompromisslösungen auf das uneingeschränkte Geltungsrecht zentraler Grundgesetzartikel stützen. Indem sie sich auf die Menschenwürde berufen, die aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet wird, artikulieren sie das moralische Gewissen der Verfassung.
Bild: MiL
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