
Die beiden ranghöchsten christlichen Führer im Heiligen Land, der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, und der griechisch-orthodoxe Patriarch Theophilos III., haben in einer gemeinsamen Erklärung angekündigt, trotz der israelischen Militäroffensive, Gaza nicht zu verlassen. Ohne es ausdrücklich zu sagen, machen sie damit die Präsenz der katholischen und der orthodoxen Kirche zu einer Art menschlichem und institutionellem Schutzschild für die Zivilbevölkerung, die dort ein unglaublich grausames Schicksal erleidet.
„Die Priester und Ordensschwestern haben entschieden zu bleiben und weiter alle zu versorgen, die in unseren Einrichtungen Schutz gefunden haben“, heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Kommuniqué. Ein Verlassen der Stadt und eine Flucht nach Süden käme für viele der Schutzsuchenden einem „Todesurteil“ gleich.
Zuflucht in den kirchlichen Gebäuden
Seit Beginn der jüngsten Kämpfe haben das griechisch-orthodoxe Kloster St. Porphyrius und die katholische Kirche zur Heiligen Familie hunderte Zivilisten aufgenommen, darunter viele alte Menschen, Frauen und Kinder. In den Räumen der katholischen Pfarrei leben zudem seit Jahren Menschen mit Behinderungen, betreut von den Missionarinnen der Nächstenliebe.
Doch die Lage spitzt sich zu: „Viele derer, die in unseren Mauern Zuflucht suchen, sind geschwächt und unterernährt infolge der Härten der vergangenen Monate“, erklärten die Patriarchen. Ein Exodus nach Süden sei für sie kaum überlebbar.
„Vertreibung und Rache sind kein Zukunftsmodell“
Die Kirchenführer äußerten scharfe Kritik an den israelischen Plänen, Gaza vollständig unter Kontrolle zu bringen und große Teile der Bevölkerung in den Süden zu vertreiben.
„Ein Zukunftsmodell, das auf Gefangenschaft, Vertreibung oder Rache gründet, kann keinen Bestand haben“, schreiben die Patriarchen.
Sie beriefen sich dabei auf eine jüngste Mahnung von Papst Leo XIV., wonach auch die kleinsten und schwächsten Völker das Recht haben, in ihrer Heimat zu leben, und niemand sie gewaltsam ins Exil treiben dürfe.
„Es gibt keinen Grund, die massive, absichtliche und erzwungene Vertreibung von Zivilisten zu rechtfertigen“, so die beiden Patriarchen.
Zur Information: Bei dem Hamas-Angriff im Oktober 2023 waren auf grausame Weise auch 36 israelische Kinder getötet worden. Die Zahl der seither durch die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen getöteten Kinder hat ein Verhältnis von 1 zu 500 erreicht. Am 24. August gab UNICEF bekannt, daß seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Gazastreifen 18.000 palästinensische Kinder ums Leben gekommen sind.
Die Patriarchen lehnen jede Vergeltung als Handlungsmotiv ab, das Unschuldige trifft. Das Ausmaß der israelischen Gewalt steht zudem außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit und widerspricht allen internationalen Abkommen, angefangen von der Haager Landkriegsordnung (1899) und Folgeabkommen, die ausdrücklich jegliche Maßnahme, bei der Zivilisten zu Schaden kommen, ausschließt. Auch Vergeltung im Sinne strikter militärischer Notwendigkeit (stets unter Ausklammerung von Zivilisten) in einem Verhältnis 1:10, nie de jure, aber de facto bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs so angenommen, wurde mit den Genfer Konventionen von 1949 endgültig aufgehoben.
Die Patriarchen sehen in dem, was im Heiligen Land geschieht, einen zum Himmel schreienden Skandal: Angriffe auf Unschuldige und Rache an Unschuldigen und dies auch noch in einer unglaublichen Unverhältnismäßigkeit. Der dritte Skandal sind der fehlende Aufschrei der zivilisierten Welt und die stattdessen unternommenen Rechtfertigungsversuche. Die eine Frage ist die berechtigte Bekämpfung der Hamas. Die andere Frage, um die es den Patriarchen geht, ist jedoch der inakzeptable Kampf gegen die Zivilbevölkerung. Die Parteinahme darf nie soweit gehen, Unrecht zu entschuldigen.
Appell an die Weltgemeinschaft
Mit eindringlichen Worten forderten die Patriarchen die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf:
„Es ist an der Zeit, dieser Spirale der Gewalt ein Ende zu setzen, den Krieg zu beenden und das Gemeinwohl der Menschen in den Vordergrund zu stellen.“
Besonders betonten sie die Notwendigkeit, vermißte Personen und an erster Stelle die israelischen Geiseln freizubekommen, die sich noch immer in der Hand der islamischen Hamas befinden. Der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pizzaballa, hatte sich sofort, wenige Tage nach der schrecklichen Geiselnahme israelischer Bürger durch Hamas, selbst im Austausch für die Freilassung der Geiseln angeboten.
Der Austausch kam aber nicht zustande. Obwohl sich das vatikanische Staatssekretariat bemühte, blieb der Kontakt zu Hamas blockiert. Die israelische Regierung Netanjahu äußerte sich offiziell nicht zu dem Angebot, sondern forderte etwas harsch vom Heiligen Stuhl eine einseitige Parteinahme.
Der Lateinische Patriarch bemüht sich seit Oktober 2023 in immer neuen Initiativen um die Freilassung der Geiseln, trennt jedoch diese Frage, wie insgesamt die Rolle der Hamas von der Gesamtfrage der einheimischen arabischen Bevölkerung, Christen und Muslimen, die seit der Errichtung des Staates Israel aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in einer Art israelischem Protektorat leben müssen. Das ist auch die Linie des Heiligen Stuhls. Die begründete Weigerung der Kirche, einseitig Partei zu ergreifen, sorgt seit den 60er Jahren für anhaltende Spannungen.
„Zu viele Familien auf allen Seiten haben zu lange gelitten. Es ist Zeit, daß Heilung möglich wird“, so die Patriarchen in ihrer gestrigen Erklärung.
Den Abschluß ihrer Positionierung rahmten die beiden Kirchenoberhäupter mit einem Vers aus den Sprüchen Salomos:
„Auf dem Pfad der Gerechtigkeit liegt das Leben, der Weg führt nicht in den Tod“ (Spr 12,28).
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Lateinisches Patriarchat von Jerusalem (Screenshot)