
Von Caminante Wanderer*
Vor einigen Wochen veröffentlichte ich auf meinem X‑Account einen kurzen Kommentar zu einem Video, das katholische Influencer – darunter auch eine Ordensschwester – bei einer Messe im Petersdom in Rom zeigte. Während der Chor das Vaterunser auf Latein sang, wußten die Anwesenden offenbar nicht, wie sie sich verhalten sollten: Sie hoben lediglich die Hände – sie kannten das zentrale Gebet der Christenheit nicht auf Latein.
Natürlich löste dieser Kommentar eine Welle von Reaktionen aus, von denen die meisten versuchten, die vermeintliche Nutzlosigkeit des Lateins mit den altbekannten Argumenten zu untermauern: „Jesus sprach kein Latein“, „Latein ist eine tote Sprache“, „Latein war die Sprache derer, die Jesus getötet haben“ usw. – Argumente, die in Wahrheit nur eines zeigen: eine tiefe Unkenntnis dessen, was es heißt, katholisch zu sein. Oder besser gesagt: Sie zeigen die Art von Spiritualität, die diese Menschen pflegen. Und genau auf diesen Punkt möchte ich näher eingehen.
Einer der Kommentare lautete sinngemäß:
„Ich bin seit meiner Geburt katholisch. Ich kann kein Latein, habe immer auf spanisch gebetet und sehe keinen Grund, das in einer anderen Sprache zu tun. Ich habe mein christliches Leben gelebt, ohne das Vaterunser auf Latein zu können, geschweige denn zu singen – und das macht mich nicht weniger katholisch. Gott liebt mich trotzdem, egal ob ich auf Latein bete oder nicht.“
Die schnelle Antwort darauf wäre einfach gewesen:
„Guter Mann, ein besonders vorbildlicher Katholik sind Sie wohl kaum, denn Sie mißachten eine gültige Anordnung der Kirche. In der aktuellen Allgemeinen Einführung in das Römische Meßbuch heißt es in Nr. 41: ‚Da es immer häufiger vorkommt, daß Gläubige unterschiedlicher Nationen zusammenkommen, ist es wünschenswert, daß diese Gläubigen zumindest einige Teile des Ordinariums der Messe in lateinischer Sprache gemeinsam singen können, besonders das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser, unter Verwendung der einfachsten Melodien.‘ Sie handeln also gegen den Willen der Kirche.“
Doch das wäre eine allzu einfache Antwort – und offen gesagt, selbst viele Priester und Bischöfe können das Vaterunser auf Latein nicht. Das eigentliche Problem bei diesem Kommentator – und bei vielen anderen wie ihm – liegt meines Erachtens tiefer und betrifft die Spiritualität, mit der sie ihren christlichen Glauben leben. Es ist eine bestimmte Art von Spiritualität, die als ausgereifte Frucht der Devotio moderna gesehen werden kann – ein Thema, das wir hier im Blog bereits mehrfach behandelt haben.
Wie bekannt ist, war die Devotio moderna eine geistliche Bewegung, die im 14. Jahrhundert in den Niederlanden entstand, als Erneuerung katholischer Frömmigkeit. Zwei ihrer Merkmale sind für unser Thema besonders relevant: Erstens, die Priorisierung der inneren und persönlichen Frömmigkeit – also das Innenleben, häufige Meditation und die individuelle Verbindung mit Gott durch methodische Gebets- und Betrachtungsübungen, etwa durch gedankliche Versenkung in biblische Szenen oder gefühlsbetonte Kontemplation. Zweitens, die starke Abkehr vom spekulativen Denken, zugunsten von affektiven und praktischen Aspekten, gegenüber intellektuellem oder theoretischem Zugang.
Zunächst erscheinen diese Merkmale mitnichten negativ – im Gegenteil: Man könnte sie als gesunde Reaktion auf einen gewissen pharisäischen Formalismus deuten. Wenn wir das auf unsere Zeit übertragen: Wer kennt nicht Menschen, die sonntags pünktlich die traditionelle Messe besuchen, aber unter der Woche ihre Kunden betrügen, ihren Frauen untreu sind, sie schlecht behandeln und ein zutiefst weltliches Leben führen? Doch sie ruhen sich seelenruhig auf ihrer „Traditionskatholizität“ aus. In solchen Fällen wäre ein innerlicher Schock – eine tiefe, persönliche Frömmigkeit – zweifellos notwendig, um wirklich christlich zu leben.
Das Problem der Devotio moderna liegt jedoch darin, daß diese Prinzipien mit der Zeit absolut gesetzt und zum alleinigen Maßstab katholischer Spiritualität wurden. In übersteigerter Form fand das seinen Ausdruck im Quietismus und später auch im Protestantismus. In gemäßigterer Form aber durchdrang diese Spiritualität durch das Wirken des Jesuitenordens – vor allem durch dessen berühmte Exerzitien – die gesamte Kirche in der Zeit der Gegenreformation. Wer die ignatianische Spiritualität kennt, wird zahlreiche Parallelen zur Devotio moderna erkennen.
Doch was genau ist problematisch an dieser Art der Frömmigkeit?
Erstens: ein übertriebener Subjektivismus und Individualismus. Das persönliche Gefühl, das innere Erleben und die eigene Intention werden über äußere Werke, Rituale, die Liturgie und die gemeinschaftlichen Sakramente gestellt. (Erinnern wir uns: Der Jesuitenorden war die erste Gemeinschaft in der Kirchengeschichte, die das gemeinsame Stundengebet abschaffte und der Liturgie wenig Bedeutung beimaß.) Das führt zwangsläufig zu einer Vernachlässigung des kirchlichen Gemeinschaftslebens und fördert eine isolierte, private Spiritualität.
Zweitens: Die starke Betonung der persönlichen Beziehung zu Gott bringt oft ein mangelndes Verständnis für kirchliche Hierarchie und Lehre mit sich. Kirchliche Vorgaben werden als etwas Fremdes, Fernes abgelehnt – im Gegensatz zur traditionellen Sichtweise, die die institutionelle Gehorsamkeit hochschätzt. Würde man heutigen Influencern, darunter Priestern und Ordensleuten, sagen, daß die Kirche verlangt, das Ordinarium der Messe – zumindest das Credo und das Vaterunser – auf Latein singen zu können, würden sie einen wohl auslachen: „Diese Regeln gelten nicht für uns – Gott liebt uns doch, ganz gleich, in welcher Sprache wir beten.“
Drittens: Eine klar anti-intellektuelle Haltung. Alles Theoretische, Spekulative wird abgelehnt, während das „Praktische“ überhöht wird. Damit geht die reiche intellektuelle Tradition der katholischen Theologie verloren. Mit solchen Menschen – Erben der Devotio moderna – ist es kaum möglich, theologisch zu argumentieren; selbst einfachste Syllogismen werden abgetan mit dem Hinweis: „Das sind nur Theorien – wichtig ist, den Nächsten zu lieben und den Armen zu helfen.“ Man denke etwa an die bekannten Aussagen von Papst Franziskus (Jesuit) über Theologen und die Theologie.
Und schließlich viertens: eine Abwertung äußerer Formen und liturgischer Zeichen. Für diese Spiritualität sind feierliche Prozessionen, festliche liturgische Akte, schöne Gewänder oder päpstliche Insignien überflüssige Äußerlichkeiten – denn „wichtig ist doch nur das Innere“. Diese Haltung steht im direkten Gegensatz zur traditionellen Spiritualität, die die äußere Ausdrucksform des Glaubens hochschätzt – sowohl zur Stärkung der Gemeinschaft als auch zur Bewahrung der Glaubenslehre.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Devotio moderna, die ursprünglich ein wertvoller geistlicher Impuls war (man denke an die Nachfolge Christi, das wohl berühmteste Werk dieser Bewegung, das unzählige Seelen bereichert hat), wurde in Ansätzen schnell, in einzelnen Bewegungen im Laufe der Zeit einseitig überhöht – und heute erleben wir ihre Spätfolgen. Katholische Influencer – und vermutlich der Großteil der Katholiken verschiedenster Couleur – stellen nicht nur die persönliche Frömmigkeit in den Vordergrund, sondern ersetzen das gemeinschaftliche, liturgische Glaubensleben durch eine subjektive Spiritualität. So sehr auch Großveranstaltungen wie der Weltjugendtag den Eindruck einer kirchlichen Gemeinschaft vermitteln wollen – letztlich zählt für viele nur das persönliche Gefühl, nicht die kirchliche Ordnung, nicht die Theologie, nicht die Tradition. All das wird abgetan als „Äußerlichkeiten“, während nur das „Innere“ als wichtig gelten soll – ein Zugang, der dem protestantischen Geist viel näher steht als der katholischen Tradition.
[Zu diesem Thema, insbesondere zur Rolle, die der Jesuitenorden bei der Verzerrung der traditionellen katholischen Spiritualität gespielt hat, veröffentlichte ich 2018 einen Beitrag, der nach wie vor lesenswert ist.]
*Caminante Wanderer, argentinischer Philosoph und Blogger.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL