Marcello Pera: „Wenn das ihn leitet, wird Leo XIV. ein schweres Leben haben“

Der heilige Augustinus und Leo XIII.


Läßt sich Papst Leo XIV. vom Kirchenvater Augustinus und Leo XIII. leiten? Wenn ja, wird er ein schweres Leben haben, sagt der Philosoph, ehemalige Senatspräsident und Freund von Benedikt XVI. Marcello Pera
Läßt sich Papst Leo XIV. vom Kirchenvater Augustinus und Leo XIII. leiten? Wenn ja, wird er ein schweres Leben haben, sagt der Philosoph, ehemalige Senatspräsident und Freund von Benedikt XVI. Marcello Pera

Das Pon­ti­fi­kat von Papst Leo XIV. beginnt lang­sam Kon­tu­ren anzu­neh­men. Vor­erst aber herrscht eine gewis­se Unsi­cher­heit auf allen Sei­ten, auch auf der pro­gres­si­ven, in wel­che Rich­tung das neue Kir­chen­ober­haupt das Boot Petri steu­ern wird. Auch der Phi­lo­soph, eme­ri­tier­te Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor und ehe­ma­li­ge Prä­si­dent des ita­lie­ni­schen Senats Mar­cel­lo Pera blickt mit Inter­es­se auf das neue Pon­ti­fi­kat. Pera, ein bevor­zug­ter Gesprächs­part­ner von Papst Bene­dikt XVI., kri­ti­sier­te Papst Fran­zis­kus scharf: „Er haßt den Westen und will ihn zer­stö­ren“ und „Fran­zis­kus ver­wech­selt Befrei­ung mit Erlö­sung“. Pera hofft durch Leo XIV. auf die Rück­kehr zu einem „soli­de­ren Chri­sten­tum“ und schrieb dazu fol­gen­den Brief an die Tages­zei­tung Il Foglio, der am 20. Mai ver­öf­fent­licht wurde:

Sehr geehrter Herr Chefredakteur!

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Ich habe eine spon­ta­ne Sym­pa­thie für den neu­en Papst. Nicht nur wegen sei­nes jugend­li­chen Aus­se­hens und sei­nes freund­li­chen, aber festen Auf­tre­tens, sei­ner Aus­bil­dung und sei­ner Kul­tur, sei­ner mis­sio­na­ri­schen Tätig­keit, eini­ger sei­ner frü­he­ren Hin­wei­se auf die Ehe zwi­schen Mann und Frau, bestimm­ter äuße­rer Zei­chen wie der Gewän­der oder sei­ner Rück­kehr in die päpst­li­che Woh­nung des Apo­sto­li­schen Pala­stes. Nein, ich habe einen beson­de­ren Grund: Es ist sein Auf­ruf zur „Sehn­sucht nach Spi­ri­tua­li­tät“, denn, wie er sag­te, ist Jesus der Chri­stus und kein Füh­rer. Ich glau­be, er wird ein gro­ßer Papst wer­den, aber ich kann es nicht vor­her­sa­gen und habe auch nicht vor, es zu pro­phe­zei­en. Aber schon jetzt fin­de ich die­sen Auf­ruf zur geist­li­chen Inner­lich­keit, die eine Not­wen­dig­keit des christ­li­chen Heils ist, viel­ver­spre­chend und tröst­lich. Für mich zäh­len der Glau­be und die christ­li­che Kul­tur mehr als jedes ande­re Gut, das Gläu­bi­ge und Nicht­gläu­bi­ge glei­cher­ma­ßen anstre­ben kön­nen, denn sie sind die Vor­aus­set­zung für alle ande­ren: Frie­den zwi­schen sich bekrie­gen­den Staa­ten, sozia­le Gerech­tig­keit, Auf­nah­me von Migran­ten, Hil­fe für die Armen, Dia­log mit denen, die anders sind.

Um sich die Zukunft des neu­en Pap­stes vor­zu­stel­len, beru­fen sich die Inter­pre­ten vor allem auf zwei „Zei­chen“: Augu­sti­nus, des­sen Orden er ent­stammt, und Leo XIII., den er mit der Annah­me sei­nes Namens ehrte.

Lei­der muß man nur ein wenig gra­ben, um zu erken­nen, daß die­se Zei­chen nicht leicht zu lesen und vor allem heu­te schwer zu akzep­tie­ren sind.

Wie Kar­di­nal Zup­pi sag­te: „Augu­sti­nus ist ein schwie­ri­ger Kerl“. In der Tat ist er „hart“, denn sei­ne gesam­te Theo­lo­gie ist chri­sto­zen­trisch, nicht anthro­po­zen­trisch. Auf­grund sei­ner Erb­sün­de (ein Begriff, der in der neue­ren Kir­che fast ver­schwun­den ist) wird der Mensch nicht durch sei­ne Ver­nunft, sei­ne Taten, sei­ne poli­ti­schen Kon­struk­tio­nen, sei­ne sozia­len Errun­gen­schaf­ten geret­tet, son­dern nur durch die unver­dien­te Gna­de Got­tes und die Ver­mitt­lung Chri­sti. Außer­dem wird der Mensch auf­grund der Erb­sün­de und ihrer Fol­gen immer ein Irre­gu­lä­rer sein. Augu­sti­nus ist kein Sant-Egi­dio-Typ1: „Wer auf ein so gro­ßes Gut hofft (auf die­se Wei­se und auf die­ser Erde gemocht zu wer­den), ver­hält sich in der Tat wie ein Narr“ (De Civi­ta­te Dei XVII, 13). Schließ­lich ist der sün­di­ge Mensch nichts vor Gott. Ins­be­son­de­re hat er kei­ne Eigen­rech­te: Selbst die poli­ti­sche Frei­heit und das Pri­vat­ei­gen­tum sind rela­tiv zu den Kon­tex­ten, in man­chen Fäl­len gut, in ande­ren unprak­tisch und ver­früht (De lab. arb., I, 6.14; In Exodum homi­lia 5.25). All die­se Din­ge sind heu­te nicht verdaulich.

Und nicht nur das. Augu­sti­nus ist nicht nur hart, son­dern den Moder­nen unver­dau­lich, weil er mit dem von ihnen bevor­zug­ten Glau­bens­be­kennt­nis unver­ein­bar ist. Wer erklärt dem Men­schen von heu­te, daß die Pflich­ten gegen­über Gott den Rech­ten des Men­schen vor­aus­ge­hen und daß die­se von jenen abhän­gen? Wer stellt die heu­ti­ge Reli­gi­on des Lai­zis­mus in Fra­ge, die das Evan­ge­li­um durch UN-Char­tas und die Gebo­te Got­tes durch moder­ne Ver­fas­sun­gen ersetzt? Wer wird dem einst christ­li­chen Euro­pa erklä­ren, daß sei­ne Rech­te in der Stadt der Men­schen nur ver­gäng­li­che und vor­über­ge­hen­de Nor­men sind, die in der Stadt Got­tes ohne Wert, wenn nicht gar ver­werf­lich sind?

Leo XIV. wird es tun müs­sen. Und allein schon sich selbst in die­se enor­me kon­kre­te Arbeit, die auf ihn war­tet, gedank­lich hin­ein­zu­ver­set­zen ver­dient unse­re Sym­pa­thie und unser Vertrauen.

Das glei­che gilt für das ande­re Zei­chen, den Hin­weis auf Leo XIII. Für alle ist er heu­te der Papst der „Arbei­ter­fra­ge“, der erklärt hat, was im Sozia­lis­mus gut ist. Aber auch hier muß man ein wenig gra­ben. Leo XIII. war viel mehr. Er kämpf­te an zwei Fron­ten: gegen den Sozia­lis­mus und gegen den Libe­ra­lis­mus. Vor Rer­um novarum (1891) hat­te er zwei nicht weni­ger wich­ti­ge Enzy­kli­ken verfaßt.

In Immor­ta­le Dei (1885), schrieb er:

„Die Tat­sa­che, daß das christ­li­che Euro­pa bar­ba­ri­sche Völ­ker gezähmt und sie von der Wild­heit zur Sanft­mut, vom Aber­glau­ben zur Wahr­heit geführt hat; daß es die Inva­sio­nen der Moham­me­da­ner sieg­reich zurück­ge­schla­gen hat; daß es die Vor­herr­schaft der Zivi­li­sa­ti­on inne­ge­habt hat; daß es sich ande­ren Völ­kern stets als Füh­rer und Leh­rer für jedes ehren­vol­le Unter­neh­men anzu­bie­ten ver­moch­te; daß es den Völ­kern wah­re und man­nig­fal­ti­ge Bei­spie­le der Frei­heit gege­ben hat und daß es mit gro­ßer Weis­heit zahl­rei­che Ein­rich­tun­gen zur Lin­de­rung des mensch­li­chen Elends geschaf­fen hat; für all dies hat es zwei­fel­los der christ­li­chen Reli­gi­on gro­ße Dank­bar­keit zu zol­len, die bei so vie­len Unter­neh­mun­gen die Schirm­herr­schaft hat­te und ihm bei deren Ver­wirk­li­chung half.“

Von der Geschich­te zur Leh­re über­ge­hend, füg­te Leo XIII. hinzu:

„Jener gefähr­li­che und bedau­er­li­che Geist der Neue­rung, der sich im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert ent­wickel­te und zuerst die christ­li­che Reli­gi­on umstür­zen woll­te, ging bald mit natür­li­cher Fol­ge auf die Phi­lo­so­phie über, und von die­ser auf jede Ord­nung der Zivil­ge­sell­schaft. Dar­in muß man die Quel­le der jüng­sten hem­mungs­los libe­ra­len Theo­rien erken­nen: Sie ver­kün­de­ten als Prin­zip und Grund­la­ge ein neu­es Recht, das nicht nur vor­her unbe­kannt war, son­dern in mehr als einem Aspekt vom christ­li­chen Recht und vom Natur­recht selbst los­ge­löst war“.

Daher die Schlußfolgerung:

„In einer Gesell­schaft, die auf sol­chen Grund­sät­zen beruht, besteht die Sou­ve­rä­ni­tät nur im Wil­len des Vol­kes, … als ob Gott nicht exi­stier­te und sich kei­nen Gedan­ken zur Mensch­heit gemacht hätte.“

Das klingt wie eine Rede für heute.

In der dar­auf fol­gen­den Enzy­kli­ka Liber­tas (1888) nahm sich Leo XIII. den Libe­ra­lis­mus, heu­te wür­de man bes­ser sagen: die Säku­la­ri­sten, zur Brust:

„Die Anhän­ger des Libe­ra­lis­mus behaup­ten im prak­ti­schen Leben, daß es kei­ne gött­li­che Macht gibt, der Gehor­sam geschul­det ist, und daß jeder für sich selbst Gesetz sein muß.“

Sie for­dern, daß „der Staat über­haupt kei­ne Form der Got­tes­ver­eh­rung vor­neh­men und sich nicht öffent­lich dazu beken­nen soll“. Die­se „Anhän­ger Luzi­fers nüt­zen im Namen der Frei­heit einen absur­den und törich­ten Frei­brief aus“. Dage­gen ist zu sagen:

„Es ist abso­lut nicht erlaubt, sich auf die Gedanken‑, Presse‑, Rede‑, Lehr- und Kul­tus­frei­heit zu beru­fen, sie zu ver­tei­di­gen oder sie zu gewäh­ren, als wären sie Rech­te, die dem Men­schen von der Natur gege­ben sind. Denn wenn die Natur sie tat­säch­lich gewährt hät­te, wäre es recht­mä­ßig, die Herr­schaft Got­tes abzu­leh­nen, und die mensch­li­che Frei­heit könn­te durch kein Gesetz ein­ge­schränkt werden.“

Auch hier ist von heu­te die Rede.

Wenn dies also die Zei­chen sind, die den neu­en Papst lei­ten, dann wird Leo XIV. ein schwe­res Leben haben. Er wird Takt­ge­fühl und Mut, Sanft­mut und Festig­keit, Über­zeu­gungs­kraft und Dok­trin, Ent­ge­gen­kom­men und Stren­ge brau­chen. Ich den­ke, er wird sie haben, auch wenn die Nach­ah­mer Luzi­fers außer­halb und lei­der auch vie­le inner­halb der Kir­che ver­su­chen wer­den, ihn auf jede Wei­se zu behindern.

Des­halb, Eure Hei­lig­keit, wün­sche ich Ihnen alles Beste.

Mar­cel­lo Pera

*Mar­cel­lo Pera, Wirt­schafts­phi­lo­soph, von 2001 bis 2006 Prä­si­dent des Senats, des Ober­hau­ses des ita­lie­ni­schen Par­la­ments. Pera, einer der besten Pop­per-Ken­ner, lern­te, als er das zweit­höch­ste Amt im Staat beklei­de­te, Bene­dikt XVI. ken­nen. Dar­aus ent­stand eine Freund­schaft, die auch nach des­sen Rück­tritt fort­be­stand. Aus der Über­ein­stim­mung des Den­kens ent­stan­den vor allem drei Bücher. Das jüng­ste ist eine Ant­wort auf den Liberalismus

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL/​Wikicommons (Screen­shots)


1 Anspie­lung auf die Gemein­schaft von Sant’Egidio, der sowohl Kar­di­nal Matteo Zup­pi als auch Kuri­en­erz­bi­schof Vin­cen­zo Paglia ange­hö­ren und die dem Pon­ti­fi­kat von Fran­zis­kus sehr nahestand.

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