
Eine anregende Lesart der jüngeren europäischen Geschichte liefert seit einigen Jahren Giovanni Orsina, Professor für Zeitgeschichte und Europäische Politische Systeme an der LUISS in Rom (Freie Internationale Universität für Sozialwissenschaften), indem er einen Weg aufzeigt, der von der religiösen Zersplitterung durch Luthers Reformation über die Säkularisierung und die gescheiterten Versuche der marxistischen Revolution bis Achtundsechzig führt und im heutigen Wokeismus mündet.
Von der protestantischen Reformation zur Säkularisierung
Der Exkurs von Giovanni Orsina beginnt mit den vormodernen Gesellschaften, die auf dem von der Katholizität verkörperten Ideal beruhen und in denen nach der Integration der Germanen nach der Völkerwanderung dank des verbindenden Kitts des Christentums und der Arbeit der Benediktinermönche Europa aufgebaut wurde.
Wie bereits von maßgeblichen Wissenschaftlern festgestellt wurde, war das Mittelalter die Geburtsstunde der Marktwirtschaft, der westlichen Ethik, der Universitäten und der modernen Wissenschaft.
Dann zerbrach aber die Einheit der christlichen Welt durch die Reformation, und das bisher tragende Modell hatte plötzlich keinen Bestand mehr. „Es ist der Zusammenbruch der europäischen religiösen Einheit“, der den entscheidenden Bruch verursacht, so Giovanni Orsina.
Brad Gregory, Professor für Geschichte an der Universität von Notre Dame (USA), veranschaulicht in seinen Arbeiten die sozialen Folgen von Luthers Reformation im 16. Jahrhundert.
Der religiöse und konfessionelle (später auch ethische und moralische) Pluralismus führt dazu, daß dem Westen das Problem der Wahrheit langsam gleichgültig wird, weil jeder seine eigene haben kann.
Der religiöse Relativismus löst allmählich jedes Absolute auf, auch Gott. Dies ist der Keim, der den Westen direkt aus der Reformation heraus zur langsamen Säkularisierung, zum Desinteresse an Gott und zum „sterbenden Gott“ führt.
Der marxistische Versuch, den neuen Menschen zu schaffen
Wenn die Säkularisierung Gott aus den Herzen der Menschen entfernt, so besänftigt sie aber gewiß nicht das Bedürfnis nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach dem Unendlichen. Und wenn Gott eliminiert wird, kehren die Götzen wieder zurück.
„Das in der Menschheit vorhandene Bedürfnis nach Gott findet in der Politik ein Ventil“, so Giovanni Orsina.
Man dachte, die Wahrheit könne durch politisches Engagement gefunden werden.
Der Marxismus ist eine säkularisierte Religion. Marx antwortete mit der Behauptung, das Absolute liege in der Geschichte. Sie sei diejenige, die „dir Werte gibt, dir sagt, wo die Wahrheit ist, wo das Gute und wo das Böse ist. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der Versuch, das Absolute durch die Politik zu rekonstruieren“, so Orsina.
Das tragische und dramatische Ergebnis der Verabsolutierung der Politik durch den Marxismus ist hinlänglich bekannt: die Errichtung radikal atheistischer Regime auf der Suche nach dem „neuen Menschen“ und die sich dabei zwangsläufig ergebende Verfolgung, Unterdrückung und Tötung Andersdenkender. Der Nationalsozialismus ist eine Reaktion auf den Kommunismus, die konkrete Umsetzung des Marxismus. Er wird zur Kehrseite der kommunistischen Medaille und ist untrennbar mit dieser verbunden. Während der Kommunismus die Arbeiterklasse vergötzt, idolisiert der Nationalsozialismus die Rasse.
Vom Marxismus zu Achtundsechzig und zum Individualismus
Nachdem der Marxismus, der Kommunismus und der Nationalsozialismus gescheitert sind, findet sich die Gesellschaft leerer denn je und ohne kollektive Werte wieder. Und hier setzt die 68er-Bewegung an wie „ein letzter Versuch einer Antwort: „durch das Anprangern der völligen Krise“. Wörtlich sagte Professor Orsina am 19. August 2018 beim Meeting di Rimini zu Achtundsechzig:
„Gott ist also tot, sehr gut, aber wie kann ich mein Verlangen nach Vollkommenheit, nach dem Absoluten, befriedigen? Suche ich es in der Politik? In der Nation? Nein, denn der Nationalsozialismus und der Faschismus endeten, wie sie endeten. Die jungen Leute der 1960er Jahre spüren also diese Leere, sie suchen etwas anderes, sie möchten etwas anderes. Worauf stoßen sie? Wenn es keinen Gott, keine Politik, keine Revolution, keine Nation, keine Arbeiterklasse gibt, was mache ich dann? Ich befriedige meine Instinkte. Ich habe Sex, ich nehme Drogen, ich habe Spaß, ich reise und erweitere meine Empfindungen.“
Kurzum, ohne Antworten, ohne Gott, ohne die Möglichkeit Werte rational zu begründen und die Utopie der „neuen Welt“ aus eigener Kraft zu schaffen, gibt es nur noch das egoistische Ich, den extremen Individualismus, die radikale Selbstbestimmtheit.
Nach dem Scheitern der Aufklärung, des Marxismus, des Faschismus, der 68er bleibt nur noch das „Tu, was du willst, jeder für sich“ im vergeblichen Wettlauf um die vorübergehende Befriedigung von Trieben. Die tiefe existentielle Einsamkeit des heutigen Menschen ist die Folge.
Ein Teil geht zum bewaffneten Kampf und zum roten Terrorismus über als letzter extremer, frustrierter Ausfluß: die „Jahre der Lust und des Bleis“, wie der Anführer der kommunistischen Terrororganisation Rote Brigaden (BR) Vittorio Alfieri es nannte.
Die Politik gehorcht dem einzigen verbliebenen „Wert“: dem ungezügelten Individualismus, der in den Gesetzen zugunsten von Scheidung und Abtreibung gipfelt. Wir kennen bereits die nächsten Episoden.
Orsina sieht mit der 68er-Bewegung und dem ungezügelten Individualismus das Ende der Fahnenstange erreicht. Eine Ergänzung ist inzwischen möglich und sie ist beunruhigend. Die von ihm angesprochenen „nächsten Episoden“ spiegeln sich im Akronym LGBT wider.
Der ungezügelte Individualismus löste nichts, sondern bringt als Reaktion dieses Nichts den Wokeismus hervor, eine extreme Flucht vor der unerträglichen Leere. Menschen wollen ihrer existentiellen Wüste entfliehen, in dem sie aus sich selbst herauswollen, ihr Geschlecht ändern und ihren Körper verlassen wollen. Sie verleugnen sich selbst. Sie suchen immer extremere Erfahrungen, um der Leere zu entfliehen oder fallen in Depressionen und andere psychische Krankheiten.
Aus dem gleichen Beweggrund werden parallel Kriege, Vernichtung, Zerstörung zu immer sorglos und bereitwillig akzeptierten „Alternativen“, um das nicht mehr auszuhaltende Nichts zu zerstören. Selbstvernichtung als letzter Akt der „Befreiung“. Eine Form des finalen Autodafés als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Die Entwicklung sollte ernst genommen werden, denn sie ist gefährlich.
Warum sind die großen Ideologien gescheitert?
Doch kehren wir zu den Ausführungen Orsinas zurück, der sich die Frage stellt, warum die Zeitgeschichte ein tragisches Scheitern nach dem anderen erlebt? Warum sind die Ideologien zur Schaffung neuer Menschen kläglich gescheitert?
Warum haben die großen Revolutionäre nicht begriffen, daß „die Kräfte, die die Geschichte verändern, dieselben Kräfte sind, die das Herz des Menschen verändern“, wie der Priester und Theologe Don Luigi Giussani 1968 zu jungen Leuten sagte, die von den Protesten überwältigt waren.
Der Satz bedeutet: Es ist eine Illusion zu glauben, man könne die Welt verändern, ohne zuvor das eigene Herz zu verändern. Es ist utopisch, eine gerechtere und freiere Gesellschaft aufzubauen, ohne daß zuvor der einzelne befreit wurde.
Ein großer katholischer Achtundsechziger-Gelehrter, der 2008 im Alter von erst 48 Jahren verstorbene Jurist Enzo Peserico, Vater von vier Kindern, sagte dazu:
„Die horizontale Versöhnung, die des Menschen mit den anderen Menschen, hat als unabdingbare Voraussetzung die vertikale Versöhnung, die des Menschen mit Gott. In dieser Perspektive gleicht der Homo ideologicus dem im Evangelium beschriebenen ‚alten Menschen‘, dessen Tod den Weg zur Erkenntnis öffnet, daß der einzige und wirkliche ’neue Mensch‘ der erlöste Mensch ist, sodaß jede persönliche und soziale Erlösung im Redemptor hominis ihr Modell und ihre Hoffnung findet.“1
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Montage/GN
1 E. Peserico: Quaderni di Cristianità, 2. Jg, Nr. 5, 1986.