Die Rechte des Herrn hat sich erhoben

Eine Geschichte des katholischen Traditionalismus


Die traditionalistische Bewegung blickt auf mindestens 55 Jahre zurück und ist facettenreich. Aurelio Porfiri unternahm einen ersten Versuch, ihre Geschichte zu erzählen
Die traditionalistische Bewegung blickt auf mindestens 55 Jahre zurück und ist facettenreich. Aurelio Porfiri unternahm einen ersten Versuch, ihre Geschichte zu erzählen

Von Prof. Rober­to de Mattei*

Der Ver­lag Sol­fa­nel­li hat gera­de das Buch von Mae­stro Aure­lio Porf­iri „La destra del Signo­re si è alza­ta“ („Die Rech­te des Herrn hat sich erho­ben“, 251 Sei­ten 16,00 Euro) her­aus­ge­ge­ben. Aure­lio Porf­iri, gebo­ren im alten und beleb­ten Stadt­teil Tra­ste­ve­re und somit ein ech­ter „Römer aus Rom“, war Schü­ler des Mae­stro und spä­te­ren Kar­di­nals Dome­ni­co Bar­to­luc­ci, des letz­ten gro­ßen Chor­mei­sters des Päpst­li­chen Cho­res der Six­ti­ni­schen Kapel­le, und ist in erster Linie Musi­ker. Er ist Autor von Hun­der­ten von Kom­po­si­tio­nen und einer Geschich­te der katho­li­schen Kir­chen­mu­sik, die vom Katho­li­schen Zen­trum der Chi­ne­se Uni­ver­si­ty auf Chi­ne­sisch und auf Eng­lisch unter dem Titel „Fore­ver I will Sing“ ver­öf­fent­licht wurde.

Ich habe ihn in nun schon fer­nen Jah­ren ken­nen­ge­lernt und erin­ne­re mich noch an die schö­nen Kon­zer­te, die er in der Basi­li­ka San Cri­so­go­no der Tri­ni­ta­rier­pa­tres diri­gier­te, wo die Gebei­ne der seli­gen Anna Maria Tai­gi ruhen, einer Hei­li­gen, die ihm eben­so am Her­zen liegt wie der Die­ner Got­tes Rafa­el Mer­ry del Val, Staats­se­kre­tär des hei­li­gen Pius X., der bis zu sei­nem Tod 1930 sein Apo­sto­lat unter den Jugend­li­chen von Tra­ste­ve­re ausübte.

Der aus Tra­ste­ve­re stam­men­de Aure­lio Porf­iri, den das Leben in die gan­ze Welt bis nach Macao und Hong­kong ver­schla­gen hat, hat, ohne die Musik zu ver­nach­läs­si­gen, nach und nach sein Inter­es­sen­feld auf aktu­el­le reli­giö­se und kul­tu­rel­le The­men aus­ge­wei­tet und sei­ne Über­le­gun­gen in Büchern, Zeit­schrif­ten, Blogs und sozia­len Medi­en im In- und Aus­land ver­öf­fent­licht. Was ihn dazu ver­an­laß­te, Stel­lung zu neh­men, war vor allem der Anblick der Ver­wü­stung der Kir­chen­mu­sik und der Lit­ur­gie in den ver­gan­ge­nen Jahrzehnten.

Die Nach­kon­zils­jah­re waren eine Zeit, in der die Kir­che eine Revo­lu­ti­on erleb­te, die im Namen eines „Kon­zils­gei­stes“ durch­ge­führt wur­de, der oft im Wider­spruch zu den Doku­men­ten stand, die er zu för­dern vor­gab. Die Exi­stenz die­ser reli­giö­sen Revo­lu­ti­on und die Suche nach einem Bezugs­punkt, an dem man sich ori­en­tie­ren kann, führ­ten Porf­iri in die Welt des soge­nann­ten „Tra­di­tio­na­lis­mus“, dem er nie ange­hör­te, in dem er aber lebt mit einer sol­chen, manch­mal lei­den­den, Anteil­nah­me, daß in ihm der Ent­schluß reif­te, des­sen Geschich­te zu rekonstruieren.

Porf­iri ist kein Histo­ri­ker im eigent­li­chen Sin­ne, son­dern viel­mehr ein auf­merk­sa­mer Zeu­ge und Chro­nist, der in die­sem Buch sei­ne Auf­ga­be sehr gut erfüllt, näm­lich mit der Frei­heit und Unab­hän­gig­keit des Urteils zu berich­ten, was er gese­hen hat.

Der Tra­di­tio­na­lis­mus, mit dem sich Aure­lio Porf­iri befaßt, ist jene Bewe­gung, die als Reak­ti­on auf das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil, ins­be­son­de­re nach der Lit­ur­gie­re­form von Paul VI. 1969, ent­stan­den ist. Es muß jedoch gesagt wer­den, daß der heu­ti­ge Tra­di­tio­na­lis­mus eine Unter­strö­mung einer umfas­sen­de­ren kul­tu­rel­len Schu­le ist, die als Reak­ti­on auf die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ent­stand und von einer tief­grün­di­gen Geschichts­theo­lo­gie genährt wird, die den heu­ti­gen Neo-Tra­di­tio­na­li­sten oft unbe­kannt ist.

Die Grün­der­vä­ter des Tra­di­tio­na­lis­mus sind in die­ser Hin­sicht nicht nur bedeu­ten­de Autoren wie Joseph de Maist­re und Juan Dono­so Cor­tés, son­dern auch die gro­ßen Päp­ste des 19. und 20. Jahr­hun­derts, vor allem der seli­ge Pius IX. und der hei­li­ge Pius X., der in sei­nem apo­sto­li­schen Schrei­ben Not­re Char­ge Apo­sto­li­que vom 25. August 1910 feststellte:

„Die wah­ren Freun­de des Vol­kes sind weder Revo­lu­tio­nä­re noch Erneue­rer, son­dern Traditionalisten.“

Man kann also Msgr. Mar­cel Lefeb­v­re nicht ohne die 1946 von Jean Ous­set gegrün­de­te Cité Catho­li­que ver­ste­hen, eben­so wie man sich dar­an erin­nern muß, daß das Wir­ken von Pro­fes­sor Pli­nio Cor­rêa de Oli­vei­ra aus den 1930er Jah­ren stammt und in direk­ter Kon­ti­nui­tät mit dem kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Den­ken des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts steht. Die­se Katho­li­ken, die als „Intran­si­gen­te“, „Ultra­mon­ta­ne“, „Inte­gri­sten“, „Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re“, „Tra­di­tio­na­li­sten“, „Anti­mo­der­ni­sten“ bezeich­net wur­den oder sich selbst so defi­niert haben, waren und sind in erster Linie Katholiken.

Was sie qua­li­fi­zie­ren soll­te, sind nicht die pole­mi­schen Bezeich­nun­gen, son­dern der wah­re Glau­be der Kir­che. Ich selbst leh­ne die Bezeich­nung „Tra­di­tio­na­list“, die mir zuge­schrie­ben wird, zwar nicht ab, aber wenn ich mich selbst defi­nie­ren müß­te, wür­de ich die Wor­te des hei­li­gen Paci­an von Bar­ce­lo­na verwenden:

„Chri­stia­nus mihi nomen est, catho­li­cus cogno­men.“
„Christ ist mein Name, katho­lisch mein Familienname.“

Die reli­giö­se und kul­tu­rel­le Kri­se ist auch in den zeit­ge­nös­si­schen Tra­di­tio­na­lis­mus ein­ge­drun­gen und hat ihn in Grup­pen und Strö­mun­gen gespal­ten. Porf­iri bewe­gen die­se Spal­tun­gen und er stellt fest, daß es heu­te nicht den einen katho­li­schen Tra­di­tio­na­lis­mus gibt, son­dern vie­le Tra­di­tio­na­lis­men, die sich oft unter­ein­an­der in „sin­gu­lä­ren Ten­zo­nen“ 1 enga­gie­ren, die er auf sei­nen Sei­ten akri­bisch aufzeichnet.

Neben den mehr oder weni­ger bekann­ten Insti­tu­ten und Grup­pen, die sich inner­halb der Insti­tu­tio­nen der Kir­che bewe­gen, gibt es auch sol­che am Ran­de oder außer­halb der Kir­che: Sedis­va­kan­ti­sten, Sedis­pri­va­tio­ni­sten, Sedis­ma­te­ria­li­sten, Sedis­im­pe­di­tio­ni­sten… Oft haben die­se Grup­pen Unter­grup­pen und nicht sel­ten ste­hen sie gegen­ein­an­der. Porf­iri läßt jede von ihnen zu Wort kom­men, doch sie alle unter Ver­mei­dung einer inhalt­li­chen Wer­tung zu erwäh­nen, birgt die Gefahr, die dia­lek­ti­sche Ver­wir­rung, die er zu Recht beklagt und die ihn zu sei­nen For­schun­gen ver­an­laßt hat, noch zu verstärken.

Sein Ver­such, eine so kom­ple­xe Bewe­gung histo­risch zu rekon­stru­ie­ren, ist jedoch eine Pio­nier­ar­beit und muß daher gewür­digt wer­den. Porf­iri ist kein Tra­di­tio­na­list, aber er ist auch kein Anti-Tra­di­tio­na­list. Er liebt die Tra­di­ti­on, lehnt aber das ab, was er die Patho­lo­gie des Tra­di­tio­na­lis­mus nennt.

Prof. Andrea Sand­ri hat drei Züge die­ser Patho­lo­gie iden­ti­fi­ziert, die vor allem in der Nach-Covid-Ära explo­diert sind: die Leug­nung der sicht­ba­ren Kir­che, die Redu­zie­rung der kirch­li­chen Ord­nung auf die eige­ne Bezugs­grup­pe und der poli­tisch-apo­ka­lyp­ti­sche Ansatz, der dar­in gip­felt, die poli­ti­sche Akti­on zum „gro­ßen Sakra­ment“ der Befrei­ung zu erhe­ben (Vigi­liae Alex­an­dri­nae, 29. Juni 2021).

Dar­aus folgt die Ten­denz, zu ver­ges­sen, daß das Chri­sten­tum eine insti­tu­tio­nel­le und geord­ne­te Rea­li­tät ist, und die Gren­ze der Tra­di­ti­on vom über­na­tür­li­chen Leben, das an die zwei­te Stel­le rückt, zum Kampf für die Befrei­ung der Welt von der gro­ßen poli­ti­schen Ver­schwö­rung zu ver­schie­ben. Die Gna­de wird ganz äußer­lich ver­stan­den in die­sem Kampf, in dem das Heil vom Men­schen im Kampf gegen eine Macht ergrif­fen wer­den muß, die nicht wegen ihrer Miß­bräu­che, son­dern in ihrem Wesen böse ist.

So ist es nicht ver­wun­der­lich, daß wir in der tra­di­tio­na­li­sti­schen Bewe­gung Per­sön­lich­kei­ten von gro­ßem intel­lek­tu­el­lem und mora­li­schem For­mat antref­fen, aber auch sol­che, die nur ein biß­chen Ruhm ern­ten wol­len und dabei zer­brech­li­che und unzu­frie­de­ne Men­schen anziehen.

Das Buch von Aure­lio Porf­iri, das mit dem gesun­den Men­schen­ver­stand des „Römers aus Rom“ geschrie­ben wur­de, ist auch eine Ein­la­dung, über die Zer­split­te­rung einer Welt nach­zu­den­ken, die auf der Suche nach Rein­heit all­zu oft in den Abgrund des Cha­os stürzt. „Jene, die wach­sam sein müs­sen“, schreibt Porf­iri, „sind gera­de die­je­ni­gen, die sich rei­ner füh­len, weil auf dem Gip­fel des Ber­ges San Juan de la Cruz das Gleich­ge­wicht unsi­che­rer und die Luft dün­ner wird“ (Stilum Curiae, 29. Okto­ber 2022).

Porf­iri ist auch ein Satz von Gust­ave Thi­bon wich­tig: „Nichts ist so rei­ni­gungs­be­dürf­tig wie das, was wir Rein­heit nen­nen.“ Das bedeu­tet, daß man, um mit Rein­heit zu urtei­len, auch ein Herz haben muß, das frei von Bösem ist und nahe Freun­de nicht mehr haßt als fer­ne Fein­de. Des­halb ist es vor­ge­schrie­ben, die Beur­tei­lung der Absich­ten unse­rer Glau­bens­brü­der allein Gott zu überlassen.

Das Motu Pro­prio Tra­di­tio­nis Cus­to­des von Papst Fran­zis­kus vom 16. Juli 2021, das durch das vom Hei­li­gen Vater am 21. Febru­ar 2023 geneh­mig­te Reskript bestä­tigt wur­de, scheint in die Rich­tung zu gehen, tra­di­tio­na­li­sti­sche Grup­pen zu zer­schla­gen. Es ist jedoch legi­tim, sich zu fra­gen, ob im recht­mä­ßi­gen Wider­stand gegen unge­rech­te restrik­ti­ve Maß­nah­men bestimm­te Kri­ti­ken der Tra­di­tio­na­li­sten an ihren Ver­fol­gern sich von deren Posi­tio­nen nicht nur in ihrer äuße­ren Hal­tung unter­schei­den, wäh­rend sich auf einer inne­ren Ebe­ne die Eigen­schaf­ten der See­le sehr ähn­lich sind.

Aure­lio Porf­iri schließt sein Buch mit der Fest­stel­lung, daß die Sache des katho­li­schen Tra­di­tio­na­lis­mus der nach­kon­zi­lia­ren Kir­che ein Sta­chel im Fleisch zu sein scheint. Nach zehn Jah­ren des Pon­ti­fi­kats von Papst Fran­zis­kus ist es schwie­rig, die künf­ti­ge Ent­wick­lung die­ses Weges vor­her­zu­sa­gen, der, wie er zu Recht anmerkt, in jedem Fall mit der Figur des neu­en Pon­ti­fex ver­bun­den sein wird. Das ist rich­tig. In der Kir­che ist der Papst, der Stell­ver­tre­ter Jesu Chri­sti, wenn er auch manch­mal ein Pro­blem dar­stellt, auch immer die Lösung für jedes Problem.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

Bücher von Prof. Rober­to de Mat­tei in deut­scher Über­set­zung und die Bücher von Mar­tin Mose­bach kön­nen Sie bei unse­rer Part­ner­buch­hand­lung beziehen.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana


1 Eine Form des Streit­ge­dichts, Streit­lie­des, deren Ursprung in der pro­ven­za­li­schen Dich­tung gese­hen wird. Gemeint sind jedoch im eher hei­te­ren Sinn For­men von Eigenbrötelei.

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