Zum Stand der Geburtenrate

Die Hauptursache (fast) aller Probleme des Westens und der Welt


Selten wird das Thema des Geburtenrückgangs angesprochen, noch seltener werden dazu die richtigen Fragen gestellt. Daher drehen sich auch die Antworten im Kreis und bleiben fruchtlos
Selten wird das Thema des Geburtenrückgangs angesprochen, noch seltener werden dazu die richtigen Fragen gestellt. Daher drehen sich auch die Antworten im Kreis und bleiben fruchtlos

Von Etto­re Got­ti Tedeschi*

Anzei­ge

Der Zusam­men­bruch der Gebur­ten­ra­te im Westen ist die direk­te Haupt­ur­sa­che für „alle“ Pro­ble­me der Welt. Ich bezie­he mich auf die sehr heh­ren Reden bei der Ver­an­stal­tung zum Stand der Gebur­ten­ra­te, die wie­der ein­mal zum Nach­den­ken anre­gen und zu kon­kre­ten Vor­schlä­gen für eine Trend­um­kehr füh­ren sol­len. Das Pro­blem der Gebur­ten­ra­te ist jedoch nicht nur ein sozio­öko­no­mi­sches, son­dern auch ein escha­to­lo­gi­sches, und da ich mich seit mehr als 40 Jah­ren mit die­sem The­ma beschäf­ti­ge und es zunächst unter wirt­schaft­li­chen und finan­zi­el­len Gesichts­punk­ten ana­ly­siert habe, möch­te ich einen Bei­trag dazu leisten.

Zunächst möch­te ich anre­gen, über die Tat­sa­che nach­zu­den­ken, daß der Ursprung fast aller Pro­ble­me, unter denen der Westen lei­det, auf den Zusam­men­bruch der Gebur­ten­ra­te zurück­zu­füh­ren ist, wohl­ge­merkt, einen Zusam­men­bruch der Gebur­ten­ra­te aus­schließ­lich im „rei­chen und gebil­de­ten“ Westen! Ein Zusam­men­bruch, der vor etwa 50 Jah­ren begann und sich im gesam­ten soge­nann­ten Westen, vor allem in Euro­pa, nach spe­zi­fi­schen Merk­ma­len entwickelte.

Vor etwa 50 Jah­ren gab es 4 Mil­li­ar­den Men­schen auf der Welt (die Wer­te sind der Ver­ein­fa­chung wegen gerun­det). Heu­te haben sie sich ver­dop­pelt: 8 Mil­li­ar­den. Aber wohl­ge­merkt, vor 50 Jah­ren leb­ten von 4 Mrd. eine Mil­li­ar­de Men­schen im Westen und 3 Mrd. im Rest der Welt. Heu­te sind von den 8 Mrd. immer noch 1 Mrd. im Westen und 7 Mrd. im Rest der Welt.

Betrach­ten wir nun die wirt­schaft­li­chen Aspek­te: Vor 50 Jah­ren kon­trol­lier­te der Westen mit 25 % der Bevöl­ke­rung etwa 90 % des welt­wei­ten Brut­to­in­lands­pro­dukts. Heu­te kon­trol­liert er mit 12,5 % der Bevöl­ke­rung etwa die Hälf­te davon, und der Rest ist aus dem Ruder gelaufen…

Ist es mir gelun­gen, einen ersten Gedan­ken zu pro­vo­zie­ren, war­um all die gro­ßen Ver­än­de­run­gen durch die sin­ken­de Gebur­ten­ra­te im Westen ent­stan­den sind?

Aber haben wir die Ursa­chen verstanden?

Vor allem in den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­zehn­ten lesen wir jedes Jahr, wenn die demo­gra­phi­schen Daten ver­öf­fent­licht wer­den, die glei­chen Kla­gen und die glei­chen ange­paß­ten Vor­schlä­ge. Aber alles ist immer dis­kre­di­tiert durch die domi­nan­te und impo­san­te Behaup­tung, daß es zu vie­le von uns Men­schen auf der Welt gibt (8 Mil­li­ar­den, eben dop­pelt so vie­le wie vor 50 Jah­ren, um genau zu sein). Es spricht für uns und stimmt opti­mi­stisch, daß es heu­te, trotz dop­pel­ter Welt­be­völ­ke­rung, den Men­schen so gut wie noch nie geht, was die Lebens­be­din­gun­gen und Grund­ver­sor­gung angeht, und es fak­tisch schon lan­ge kei­ne natür­li­che Hun­gers­not mehr gibt.

Aber wir tun so, als ob wir ver­ges­sen wür­den, daß es im „Rest der Welt“ ein mas­si­ves Bevöl­ke­rungs­wachs­tum gab (in Asi­en von 2,3 Mrd. auf 4,8 Mrd., in Afri­ka von 400 Mio. auf 1,5 Mrd. usw.), ein rea­les und heu­te immer noch eines durch höhe­re Lebens­er­war­tung. Im Westen hin­ge­gen nicht! Wir sind gleich vie­le geblie­ben, und wir sind ärmer und schwä­cher gewor­den. Und wir suchen nach uto­pi­schen Lösun­gen, um den­noch die Füh­rung zu behal­ten. Jedes Jahr lesen wir Vor­schlä­ge, um den Rück­gang auf­zu­hal­ten, aber es sind immer die glei­chen und sie sind immer sozio­öko­no­mi­scher Natur. Nur sehr sel­ten stellt jemand die Fra­ge nach den Ursa­chen des Nie­der­gangs, der allein im Westen statt­fin­det. Sind wir zu kul­ti­viert und klug? Sind wir nicht für die Ent­ste­hung der (christ­li­chen) Zivi­li­sa­ti­on ver­ant­wort­lich? Oder sind wir uns zu sehr der Umwelt­aus­wir­kun­gen der Bevöl­ke­rung bewußt? Oder ist es viel­leicht so, daß wir vor allem den wah­ren Sinn des Lebens ver­lo­ren haben?

In der Tat gibt es zwei star­ke, gegen­sätz­li­che, aber immer gebur­ten­feind­li­che Sicht­wei­sen. Die eine sieht im Bevöl­ke­rungs­wachs­tum einen Angriff auf die Umwelt und damit den Men­schen als Feind der Natur, die ande­re sieht (eben­so kurz­sich­tig) im Bevöl­ke­rungs­wachs­tum eine Ursa­che für Armut und Ver­lust von Kon­kur­renz­fä­hig­keit. Aber nur sehr, sehr sel­ten erin­nert jemand dar­an, daß der Gebur­ten­ein­bruch immer und nur im (ehe­mals?) rei­chen und (ehe­mals?) kul­ti­vier­ten und frei­en Westen statt­fin­det (die staat­li­chen Zwangs­maß­nah­men in der Volks­re­pu­blik Chi­na sind davon aus­zu­neh­men), der folg­lich sei­ne Füh­rungs­rol­le ver­lo­ren hat und ver­sucht, dies auf ver­schie­de­ne Wei­se zu kom­pen­sie­ren, indem er einen neu­en „nach­hal­ti­gen“ und „inte­gra­ti­ven“ Kapi­ta­lis­mus erfin­det. Hat schon irgend­je­mand ver­stan­den, wor­um es dabei im wesent­li­chen geht? Das ist von ent­schei­den­der Bedeu­tung, denn es hat dra­ma­ti­sche anthro­po­lo­gi­sche Aus­wir­kun­gen und damit auch auf das neue Ver­ständ­nis des­sen, was „Zivi­li­sa­ti­on“ ist. Fried­rich Nietz­sche hat­te all das, was gesche­hen ist, per­fekt vor­aus­ge­se­hen. Oh weh!

Aber was wur­de getan, um zu reagieren?

Wir stel­len fest, daß in allen west­li­chen Län­dern das Gebur­ten­wachs­tum unter Null liegt, d. h. weni­ger als die zwei Kin­der je Frau im gebär­fä­hi­gen Alter, die für die Sicher­stel­lung des „Ersat­zes“ uner­läß­lich sind (d. h. nicht Null­wachs­tum, son­dern Schrumpfung).

Wir stel­len auch fest, daß die von den ver­schie­de­nen Regie­run­gen ver­folg­te Poli­tik sich auf wirt­schaft­li­che und steu­er­li­che Hil­fen, sozia­le Ein­rich­tun­gen (Kin­der­gär­ten), Sub­ven­tio­nen und Ver­gün­sti­gun­gen aller Art bezieht. Das Ergeb­nis zeigt jedoch, daß es kei­ne nach­hal­ti­gen Erfolgs­ge­schich­ten gibt, auf die man ver­wei­sen könn­te. Denn es ist unver­meid­lich, daß das Pro­blem viel tie­fer geht, weil im Westen das Bewußt­sein vom Sinn des Lebens und sei­nem Wert ver­lo­ren gegan­gen ist und die Reak­tio­nen (und Ergeb­nis­se) auf sozio­öko­no­mi­sche Anrei­ze daher mini­mal sind. Kurz­um, wir müs­sen uns bewußt wer­den, daß das Pro­blem nicht wirt­schaft­lich oder gar „kul­tu­rell“ und sozi­al ist. Das Pro­blem, über das wir nach­den­ken soll­ten, ist spi­ri­tu­el­ler Natur und betrifft die gesam­te west­li­che Zivi­li­sa­ti­on, die einst christ­lich war und dar­aus ihre Stär­ke schöpfte.

Wenn eine, bes­ser gesagt, die Zivi­li­sa­ti­on die Tat­sa­che außer acht läßt, daß es „nicht ver­han­del­ba­re Wer­te“ gibt, die es zu schüt­zen gilt, und wenn die­se Zivi­li­sa­ti­on sie „begräbt“ und durch imma­nen­te­re Wer­te ersetzt, die von denen geschätzt wer­den, die wahr­schein­lich gar kei­ne Vor­stel­lung von „Wer­ten“ haben, was wird dann pas­sie­ren? Aber haben wir ver­stan­den, was der Zusam­men­bruch der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on für die gan­ze Welt bedeutet?

Das „schockie­ren­de“ Rezept, über das man nach­den­ken soll­te: Ich fürch­te, um das Pro­blem der Gebur­ten­ra­te in den Griff zu bekom­men, muß man über ein „wirk­lich groß­ar­ti­ges Rezept“ nach­den­ken, näm­lich die Rück­be­sin­nung auf den Sinn des Lebens und die Wie­der­ent­deckung des ein­zig­ar­ti­gen Wer­tes der Fami­lie, denn die Fami­lie ist es, die sogar die Vor­aus­set­zun­gen für ech­ten und voll­stän­di­gen Wohl­stand schafft. Abge­se­hen von sta­ti­sti­schen Berech­nun­gen und der Neu­ju­stie­rung von Lösungs­for­meln für jene, die (noch…) „glau­ben“, fürch­te ich, daß es jetzt spät, schwie­rig und kom­plex ist, die pro­vi­den­ti­el­le Hil­fe einer mora­li­schen Auto­ri­tät anzu­ru­fen. Und die geist­li­che Füh­rung durch einen hei­li­gen Prie­ster wäre zu sub­jek­tiv und auf den ein­zel­nen beschränkt. Und auf der Ebe­ne ein­zel­ner kann das auch funk­tio­nie­ren. Doch für das Ganze?

Nur ein Wun­der kann die Fami­lie, die Gebur­ten­ra­te und die Zivi­li­sa­ti­on ret­ten. Und war­um soll­te man das aus­schlie­ßen? Das Pro­blem der Gebur­ten­ra­te ist nicht (nur) ein kul­tu­rel­les oder wirt­schaft­li­ches, son­dern auch (oder vor allem) ein spi­ri­tu­el­les, ein escha­to­lo­gi­sches Pro­blem. Zu kom­plex? Zu spät? Es wird sicher­lich lan­ge dau­ern, viel­leicht so lan­ge wie die Wie­der­her­stel­lung des Glau­bens nach die­sen letz­ten Zeiten.

*Etto­re Got­ti Tede­schi, Finanz­wis­sen­schaft­ler, Finanz­ethi­ker, ehem. Wirt­schafts­be­ra­ter des ita­lie­ni­schen Schatz­mi­ni­ste­ri­ums, ver­trat Ita­li­en in ver­schie­de­nen inter­na­tio­na­len Ban­ken und Finanz­gre­mi­en, von 2009–2012 Prä­si­dent der Vatik­an­bank IOR. Die Erst­ver­öf­fent­li­chung die­ser Kolum­ne erfolg­te in der ita­lie­ni­schen Tages­zei­tung La Veri­tà (Die Wahr­heit), die ihrem Namen in der Coro­na-Zeit Ehre machte.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL/​Pixabay

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