![Selten wird das Thema des Geburtenrückgangs angesprochen, noch seltener werden dazu die richtigen Fragen gestellt. Daher drehen sich auch die Antworten im Kreis und bleiben fruchtlos Selten wird das Thema des Geburtenrückgangs angesprochen, noch seltener werden dazu die richtigen Fragen gestellt. Daher drehen sich auch die Antworten im Kreis und bleiben fruchtlos](https://katholisches.info/tawato/uploads/2024/05/Neugeborene-Geburtenrate-1030x438.jpg)
Von Ettore Gotti Tedeschi*
Der Zusammenbruch der Geburtenrate im Westen ist die direkte Hauptursache für „alle“ Probleme der Welt. Ich beziehe mich auf die sehr hehren Reden bei der Veranstaltung zum Stand der Geburtenrate, die wieder einmal zum Nachdenken anregen und zu konkreten Vorschlägen für eine Trendumkehr führen sollen. Das Problem der Geburtenrate ist jedoch nicht nur ein sozioökonomisches, sondern auch ein eschatologisches, und da ich mich seit mehr als 40 Jahren mit diesem Thema beschäftige und es zunächst unter wirtschaftlichen und finanziellen Gesichtspunkten analysiert habe, möchte ich einen Beitrag dazu leisten.
Zunächst möchte ich anregen, über die Tatsache nachzudenken, daß der Ursprung fast aller Probleme, unter denen der Westen leidet, auf den Zusammenbruch der Geburtenrate zurückzuführen ist, wohlgemerkt, einen Zusammenbruch der Geburtenrate ausschließlich im „reichen und gebildeten“ Westen! Ein Zusammenbruch, der vor etwa 50 Jahren begann und sich im gesamten sogenannten Westen, vor allem in Europa, nach spezifischen Merkmalen entwickelte.
Vor etwa 50 Jahren gab es 4 Milliarden Menschen auf der Welt (die Werte sind der Vereinfachung wegen gerundet). Heute haben sie sich verdoppelt: 8 Milliarden. Aber wohlgemerkt, vor 50 Jahren lebten von 4 Mrd. eine Milliarde Menschen im Westen und 3 Mrd. im Rest der Welt. Heute sind von den 8 Mrd. immer noch 1 Mrd. im Westen und 7 Mrd. im Rest der Welt.
Betrachten wir nun die wirtschaftlichen Aspekte: Vor 50 Jahren kontrollierte der Westen mit 25 % der Bevölkerung etwa 90 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Heute kontrolliert er mit 12,5 % der Bevölkerung etwa die Hälfte davon, und der Rest ist aus dem Ruder gelaufen…
Ist es mir gelungen, einen ersten Gedanken zu provozieren, warum all die großen Veränderungen durch die sinkende Geburtenrate im Westen entstanden sind?
Aber haben wir die Ursachen verstanden?
Vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten lesen wir jedes Jahr, wenn die demographischen Daten veröffentlicht werden, die gleichen Klagen und die gleichen angepaßten Vorschläge. Aber alles ist immer diskreditiert durch die dominante und imposante Behauptung, daß es zu viele von uns Menschen auf der Welt gibt (8 Milliarden, eben doppelt so viele wie vor 50 Jahren, um genau zu sein). Es spricht für uns und stimmt optimistisch, daß es heute, trotz doppelter Weltbevölkerung, den Menschen so gut wie noch nie geht, was die Lebensbedingungen und Grundversorgung angeht, und es faktisch schon lange keine natürliche Hungersnot mehr gibt.
Aber wir tun so, als ob wir vergessen würden, daß es im „Rest der Welt“ ein massives Bevölkerungswachstum gab (in Asien von 2,3 Mrd. auf 4,8 Mrd., in Afrika von 400 Mio. auf 1,5 Mrd. usw.), ein reales und heute immer noch eines durch höhere Lebenserwartung. Im Westen hingegen nicht! Wir sind gleich viele geblieben, und wir sind ärmer und schwächer geworden. Und wir suchen nach utopischen Lösungen, um dennoch die Führung zu behalten. Jedes Jahr lesen wir Vorschläge, um den Rückgang aufzuhalten, aber es sind immer die gleichen und sie sind immer sozioökonomischer Natur. Nur sehr selten stellt jemand die Frage nach den Ursachen des Niedergangs, der allein im Westen stattfindet. Sind wir zu kultiviert und klug? Sind wir nicht für die Entstehung der (christlichen) Zivilisation verantwortlich? Oder sind wir uns zu sehr der Umweltauswirkungen der Bevölkerung bewußt? Oder ist es vielleicht so, daß wir vor allem den wahren Sinn des Lebens verloren haben?
In der Tat gibt es zwei starke, gegensätzliche, aber immer geburtenfeindliche Sichtweisen. Die eine sieht im Bevölkerungswachstum einen Angriff auf die Umwelt und damit den Menschen als Feind der Natur, die andere sieht (ebenso kurzsichtig) im Bevölkerungswachstum eine Ursache für Armut und Verlust von Konkurrenzfähigkeit. Aber nur sehr, sehr selten erinnert jemand daran, daß der Geburteneinbruch immer und nur im (ehemals?) reichen und (ehemals?) kultivierten und freien Westen stattfindet (die staatlichen Zwangsmaßnahmen in der Volksrepublik China sind davon auszunehmen), der folglich seine Führungsrolle verloren hat und versucht, dies auf verschiedene Weise zu kompensieren, indem er einen neuen „nachhaltigen“ und „integrativen“ Kapitalismus erfindet. Hat schon irgendjemand verstanden, worum es dabei im wesentlichen geht? Das ist von entscheidender Bedeutung, denn es hat dramatische anthropologische Auswirkungen und damit auch auf das neue Verständnis dessen, was „Zivilisation“ ist. Friedrich Nietzsche hatte all das, was geschehen ist, perfekt vorausgesehen. Oh weh!
Aber was wurde getan, um zu reagieren?
Wir stellen fest, daß in allen westlichen Ländern das Geburtenwachstum unter Null liegt, d. h. weniger als die zwei Kinder je Frau im gebärfähigen Alter, die für die Sicherstellung des „Ersatzes“ unerläßlich sind (d. h. nicht Nullwachstum, sondern Schrumpfung).
Wir stellen auch fest, daß die von den verschiedenen Regierungen verfolgte Politik sich auf wirtschaftliche und steuerliche Hilfen, soziale Einrichtungen (Kindergärten), Subventionen und Vergünstigungen aller Art bezieht. Das Ergebnis zeigt jedoch, daß es keine nachhaltigen Erfolgsgeschichten gibt, auf die man verweisen könnte. Denn es ist unvermeidlich, daß das Problem viel tiefer geht, weil im Westen das Bewußtsein vom Sinn des Lebens und seinem Wert verloren gegangen ist und die Reaktionen (und Ergebnisse) auf sozioökonomische Anreize daher minimal sind. Kurzum, wir müssen uns bewußt werden, daß das Problem nicht wirtschaftlich oder gar „kulturell“ und sozial ist. Das Problem, über das wir nachdenken sollten, ist spiritueller Natur und betrifft die gesamte westliche Zivilisation, die einst christlich war und daraus ihre Stärke schöpfte.
Wenn eine, besser gesagt, die Zivilisation die Tatsache außer acht läßt, daß es „nicht verhandelbare Werte“ gibt, die es zu schützen gilt, und wenn diese Zivilisation sie „begräbt“ und durch immanentere Werte ersetzt, die von denen geschätzt werden, die wahrscheinlich gar keine Vorstellung von „Werten“ haben, was wird dann passieren? Aber haben wir verstanden, was der Zusammenbruch der westlichen Zivilisation für die ganze Welt bedeutet?
Das „schockierende“ Rezept, über das man nachdenken sollte: Ich fürchte, um das Problem der Geburtenrate in den Griff zu bekommen, muß man über ein „wirklich großartiges Rezept“ nachdenken, nämlich die Rückbesinnung auf den Sinn des Lebens und die Wiederentdeckung des einzigartigen Wertes der Familie, denn die Familie ist es, die sogar die Voraussetzungen für echten und vollständigen Wohlstand schafft. Abgesehen von statistischen Berechnungen und der Neujustierung von Lösungsformeln für jene, die (noch…) „glauben“, fürchte ich, daß es jetzt spät, schwierig und komplex ist, die providentielle Hilfe einer moralischen Autorität anzurufen. Und die geistliche Führung durch einen heiligen Priester wäre zu subjektiv und auf den einzelnen beschränkt. Und auf der Ebene einzelner kann das auch funktionieren. Doch für das Ganze?
Nur ein Wunder kann die Familie, die Geburtenrate und die Zivilisation retten. Und warum sollte man das ausschließen? Das Problem der Geburtenrate ist nicht (nur) ein kulturelles oder wirtschaftliches, sondern auch (oder vor allem) ein spirituelles, ein eschatologisches Problem. Zu komplex? Zu spät? Es wird sicherlich lange dauern, vielleicht so lange wie die Wiederherstellung des Glaubens nach diesen letzten Zeiten.
*Ettore Gotti Tedeschi, Finanzwissenschaftler, Finanzethiker, ehem. Wirtschaftsberater des italienischen Schatzministeriums, vertrat Italien in verschiedenen internationalen Banken und Finanzgremien, von 2009–2012 Präsident der Vatikanbank IOR. Die Erstveröffentlichung dieser Kolumne erfolgte in der italienischen Tageszeitung La Verità (Die Wahrheit), die ihrem Namen in der Corona-Zeit Ehre machte.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Pixabay