
von Roberto de Mattei*
Das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA vom 24. Juni, mit dem das Urteil Roe v. Wade aus dem Jahr 1973, das ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung festschrieb, aufgehoben wurde, hat eine historische Bedeutung, die über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinausgeht.
Das angebliche Recht auf Abtreibung ist ein ideologisches Banner des Progressivismus, wie nicht nur die gewalttätigen Proteste in vielen Staaten der USA zeigen, sondern auch der Zorn der internationalen Linken offenbart, wie z. B. des Sekretärs der Demokratischen Partei (PD) Italiens, Enrico Letta1, der erklärte, die Entscheidung des amerikanischen Gerichts sei „das Ergebnis einer ideologischen Wende. (…) Ein Rückschritt, der Entmutigung hervorruft, Leiden schürt und Konflikte schürt“. Als wäre nicht die Legalisierung der Abtreibung in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt das Ergebnis einer perversen ideologischen Wende gewesen, und als hätte nicht sie ein Trauma ausgelöst, das Leid und eine nie verheilte soziale Wunde hervorgerufen hat, bis nun die heilsame Reaktion darauf die amerikanische Situation umkehrte.
Enrico Lettas Slogan vom „Rückschritt“ ist derselbe, der von einem Ende der progressiven Welt zum anderen widerhallte. Fünfzig Jahre lang wurde Amerika als die Heimat der Bürgerrechte dargestellt, und Länder, die sich nicht an die amerikanische Gesetzgebung hielten, wurden für ihre kulturelle und moralische Rückständigkeit gegeißelt. Nun wird den USA, dem Schrittmacher der Geschichte, vorgeworfen, einen “Rückschritt“ zu vollziehen. Das Eingeständnis, daß es die Möglichkeit gibt, „zurückzukehren“, markiert das Ende vom Verständnis der Geschichte als notwendiger und unendlicher Perfektionierung. Das bedeutet, daß die Geschichte nicht nur in eine Richtung, sondern in zwei Richtungen verläuft, und daß eine objektive Ordnung von Referenzwerten erforderlich ist, um zu bestimmen, welche von ihnen die moralisch vertretbare ist.
Das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA erschüttert den Mythos der Unumkehrbarkeit eines historischen Prozesses, der die Abtreibung, die Euthanasie sowie die Legalisierung von Homosexualität und Gender umfaßt. Für jede dieser „Errungenschaften“ der antichristlichen Revolution könnte die Geschichte bald ein neues Kapitel aufschlagen, wie es 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer geschehen ist.
Der Oberste Gerichtshof bestreitet, daß Abtreibung ein verfassungsmäßiges Recht ist, und überträgt die Zuständigkeit auf die einzelnen Staaten der Union. Wir müssen uns aber davor hüten, die Feststellung des Gerichts, daß die Beurteilung der Abtreibung „bei den Menschen und ihren gewählten Vertretern liegt“, von der rechtlichen auf die moralische Ebene zu übertragen. Eine souveräne Macht in der Moralordnung auf die Staaten zu übertragen bedeutet, daß der Wille der Mehrheit zur obersten Quelle der Moral wird. „Wenn der Mensch allein, ohne Gott, entscheiden kann, was gut und was schlecht ist, dann kann er auch entscheiden, daß eine Gruppe von Menschen vernichtet werden soll“, warnte Johannes Paul II.2 Genau das passiert bei der Abtreibung. Deshalb bekräftigt Johannes Paul II. in aller Klarheit, indem er den heiligen Thomas zitiert: „Das vom Menschen, von den Parlamenten und von jeder anderen menschlichen Gesetzgebungsinstanz geschaffene Recht kann im Widerspruch zum Naturrecht, das heißt letztlich zum ewigen Gesetz Gottes stehen“.3 Der Wille der Staaten ist also nicht die letzte moralische Instanz, ebensowenig ist es das „Gericht der Geschichte“.
Die Polarisierung, die innerhalb der Vereinigten Staaten und des Obersten Gerichtshofs entstanden ist, ist nicht politischer, sondern moralischer Natur: Es ist die unüberbrückbare Kluft zwischen jenen, die Abtreibung für ein Verbrechen halten, und jenen, die sie für ein Menschenrecht halten. Mit dem Urteil vom 24. Juni haben die USA bestätigt, daß sie nicht das „Reich des Bösen“ sind, gegen das sich Pseudo-Verfechter der Menschenrechte wie Rußland und China stellen, sondern ein noch immer lebendiges Land, das in der Lage ist, einen Durchbruch zu erzielen, der die heutige Gesellschaft verändern wird.
Der Oberste Gerichtshof stellt die Spitze des amerikanischen Establishments dar, aber die Mehrheit seiner Richter, die von den Präsidenten George W. Bush und Donald Trump ernannt wurden, haben sich als Männer und Frauen erwiesen, die mutig und unabhängig von Druck sind. Das ist ein Grund zu großer Hoffnung für die Zukunft. Es wäre jedoch naiv, das Verdienst für das historische Urteil allein diesen wenigen Personen zuzuschreiben.
Dahinter steht ein tiefes Amerika, wie der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, José H. Gomez, und der Vorsitzende des Pro-Life-Komitees der Bischöfe, William E. Lori, in einer Erklärung vom 24. Juni zu Recht betonten:
„Das Urteil ist auch die Frucht der Gebete, der Opfer und des öffentlichen Zeugnisses unzähliger Amerikaner aus allen Gesellschaftsschichten. In diesen langen Jahren haben Millionen unserer Mitbürger friedlich dafür gearbeitet, um ihre Nachbarn über die Ungerechtigkeit eines solchen Systems aufzuklären und davon zu überzeugen. In diesen langen Jahren haben Millionen unserer Mitbürger friedlich zusammengearbeitet, um ihre Nachbarn über die Ungerechtigkeit der Abtreibung aufzuklären, um Frauen Hilfe und Beratung anzubieten und um sich für Alternativen zur Abtreibung einzusetzen, einschließlich Adoption, Pflegefamilien und staatlicher Hilfe zur Unterstützung von Familien. Wir teilen heute ihre Freude und sind ihnen dankbar. Ihr Einsatz für die Sache des Lebens spiegelt all das Gute in unserer Demokratie wider, und die Lebensrechtsbewegung verdient es, in der Geschichte unseres Landes zu den großen Bewegungen für sozialen Wandel und Bürgerrechte gezählt zu werden.“
Leider ist sich die politische Rechte in Italien und in der ganzen Welt nicht einig in der Verteidigung des Lebens, sondern äußert sich oft zweideutig, im Gegensatz zur Linken, die die Abtreibung überall mit eindeutigen Absichten propagiert. Die Pro-Life-Bewegungen selbst sind oft in der Defensive und kennen Spaltungen untereinander, die einen kohärenten und vereinten Kampf verhindern. Doch die Lektion aus den USA ist klar: Wenn man mit Ausdauer und vor allem ohne Kompromisse kämpft, greift Gottes Hilfe ein und führt zum Sieg.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Zu Enrico Letta, dem heutigen Vorsitzenden der italienischen Linksdemokraten (PD), sollte man wissen, daß er seiner Herkunft nach ein Christdemokrat ist. Er gehörte zum linken Flügel der ehemaligen Democrazia Cristiana (DC), der sich mit den Nachfolgern der ehemaligen Kommunistischen Partei Italiens (PCI) 2007 zu den Linksdemokraten (offiziell Demokratische Partei) zusammengeschlossen hat. 2013/2014 war Letta für die Linksdemokraten Ministerpräsident von Italien (Anm. GN).
2 Memoria e identità, Rizzoli, Milano 2005, S. 21f.
3 Ibid. S. 160f.