
Während auf politischer Ebene zwischen dem Vatikan und Moskau etwas in Bewegung gerät, zeigt sich auf religiöser Ebene ein anderes Bild. Am 7. Juni kam es im ägyptischen Alexandria zu einem „unerwarteten Meilenstein der Verständigung“, so der Vatikanist Sandro Magister, indem Rom und die orthodoxen Kirchen ein gemeinsames Dokument unterzeichneten – allerdings ohne die Unterschrift des Moskauer Patriarchats.
Dem Moskauer Patriarchat unterstehen auch nach der Abspaltung der neuen ukrainisch-orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats gut die Hälfte aller orthodoxen Gläubigen weltweit. Das Moskauer Patriarchat ist damit die weitaus größte Stimme in der östlichen Orthodoxie.
Das gemeinsame Dokument von Alexandria befaßt sich mit zwei der Fragen, die seit gut tausend Jahren Ost- und Westkirche am meisten entzweit haben: dem päpstlichen Primat und der synodalen Verfassung der Ostkirche, die sich allerdings nur schwer in der Wortneuschöpfung von Papst Franziskus‘ „Synodalität“ einordnen läßt.
Die Primats-Frage gliedert sich wiederum in die Frage des päpstlichen Primats über die universale Kirche und den Primat, den der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel gegenüber den orthodoxen Kirchen ausübt. Das Dokument von Alexandria umsegelt die Frage, indem sie weder den einen noch den anderen Primat näher definiert. Stattdessen wird geschichtlich die zweitausendjährige Entwicklung derselben rekonstruiert.
Die Sensation besteht zunächst darin, daß eine solche gemeinsame Rekonstruktion der historischen Fakten von beiden Seiten akzeptiert wurde.

Während es von orthodoxer Seite gegenüber Papst Johannes Paul II. erhebliche Vorbehalte gab, setzte mit der Wahl von Benedikt XVI. eine neue Phase des Dialogs ein. Die erste Frucht war das Grundlagendokument von Ravenna (2007) über „Konziliarität und Autorität“, das von einer gemischten Internationalen Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Katholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche unterzeichnet wurde.
Darin heißt es, daß „Primat und Konziliarität sich gegenseitig bedingen“. In Absatz 41 werden die Übereinstimmungen und Unstimmigkeiten, die bereits in den ersten Jahrhunderten der Kirche festgestellt wurden, herausgestellt:
„Beide Seiten stimmen darin überein, daß […] Rom als die Kirche, die ‚in der Liebe vorsteht‘, wie es der heilige Ignatius von Antiochien ausdrückt, den ersten Platz in der ‚taxis‘ einnimmt, und daß der Bischof von Rom daher der ‚protos‘ unter den Patriarchen ist. Die Parteien sind sich jedoch uneinig über die Auslegung der historischen Zeugnisse aus dieser Zeit in bezug auf die Vorrechte des Bischofs von Rom als ‚protos‘, eine Frage, die bereits im ersten Jahrtausend unterschiedlich verstanden wurde.“
Die griechischen Begriffe „protos“ und „taxis“ bedeuten „der erste“ und die „Ordnung“ der Weltkirche. Die Kommission verabschiedete das Dokument einstimmig, allerdings fehlte bereits damals das Moskauer Patriarchat. Grund dafür waren Zwistigkeiten mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel, die jedoch beigelegt wurden, sodaß auch Moskaus Unterschrift eingeholt werden konnte.
Die Unterschrift aller, auch Moskaus, trägt auch das Folgedokument, das 2008 von einer Unterkommission in Paphos auf Kreta ausgearbeitet wurde. Es untersucht die Frage genauer, wie Ost- und Westkirche im ersten Jahrtausend, als sie noch vereint waren, die Rolle des Bischofs von Rom interpretierten.
Bei den Folgetreffen 2009 auf Zypern und 2010 in Wien äußerte die russisch-orthodoxe Kirche jedoch Bedenken und bremste die Annäherung aus. Mehr noch, sie forderte, daß das Dokument von Kreta zurückgenommen und überarbeitet wird. So konnte der Wiener Text nur als Arbeitspapier „ohne Autorität und Offizialität“ angenommen werden.
Es sollte dann bis Chieti 2016 dauern, daß ein Dokument über „Synodalität und Primat im ersten Jahrtausend“ verabschiedet wurde. Die Titelgebung zeigt, daß inzwischen Papst Franziskus in Rom regierte. Zu der Kluft zwischen Ost- und Westkirche, die sich in der Frage historisch aufgetan hatte, heißt es darin:
„Im Westen wurde der Primat des Stuhls von Rom vor allem ab dem vierten Jahrhundert mit Bezug auf die Rolle des Petrus unter den Aposteln verstanden. Der Primat des Bischofs von Rom unter den Bischöfen wurde allmählich als ein Vorrecht interpretiert, das ihm zustand, weil er der Nachfolger des Petrus, des ersten unter den Aposteln, war. Diese Auffassung wurde im Osten nicht übernommen, da dort die Heilige Schrift und die Väter in diesem Punkt eine andere Auslegung hatten. Unser Dialog kann in Zukunft auf diese Frage zurückkommen.“
Auf dieser Grundlage wurde nun, sieben Jahre später, das Dokument von Alexandria über „Synodalität und Primat im zweiten Jahrtausend und heute“ unterschrieben – allerdings ohne Moskau, was seine Bedeutung erheblich schmälert. Im Schlußteil des Dokuments heißt es:
„Ernsthafte Fragen erschweren ein authentisches Verständnis von Synodalität und Primat in der Kirche. Die Kirche ist nicht als Pyramide zu verstehen, in der ein Primas von oben herab regiert, aber sie kann auch nicht als eine Föderation autarker Kirchen verstanden werden. Unsere geschichtliche Untersuchung der Synodalität und des Primats im zweiten Jahrtausend hat gezeigt, daß diese beiden Sichtweisen unzureichend sind. Ebenso ist klar, daß für die römischen Katholiken die Synodalität nicht rein konsultativ und für die Orthodoxen der Primat nicht rein ehrenamtlich ist. 1979 sagten Papst Johannes Paul II. und der Ökumenische Patriarch Dimitrios: ‚[…] Die Reinigung des kollektiven Gedächtnisses unserer Kirchen ist eine wichtige Frucht des Dialogs der Nächstenliebe und eine unabdingbare Voraussetzung für den künftigen Fortschritt‘ (Gemeinsame Erklärung, 30. November 1979). Römische Katholiken und Orthodoxe müssen diesen Weg fortsetzen, um ein authentisches Verständnis von Synodalität und Primat im Lichte der ‚theologischen Prinzipien, kanonischen Normen und liturgischen Praktiken‘ (Chieti, 21) der ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends anzunehmen.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat grundsätzlich neue Perspektiven eröffnet, indem es das Geheimnis der Kirche als ein Geheimnis der Gemeinschaft interpretiert hat. Heute gibt es in der römisch-katholischen Kirche ein wachsendes Bemühen, die Synodalität auf allen Ebenen zu fördern. Es besteht auch die Bereitschaft, das, was man als das patriarchalische Amt des Papstes innerhalb der westlichen oder lateinischen Kirche bezeichnen kann, von seinem vorrangigen Dienst im Hinblick auf die Gemeinschaft aller Kirchen zu unterscheiden, was neue Möglichkeiten für die Zukunft bietet.“
- Die gemeinsame Kommission, die das Dokument von Alexandria ausarbeitete und unterzeichnete, wurde von Kardinal Kurt Koch, Präfekt des Dikasteriums für die Einheit der Christen, geleitet. Die katholischen Kommissionsmitglieder waren: Msgr. Joseph Tobin, Erzbischof von Newark, Msgr. Claudio Gugerotti, Präfekt des Dikasteriums für die Orientalischen Kirchen und ehemaliger Nuntius in der Ukraine, Msgr. Roland Minnerath, Erzbischof von Dijon, Msgr. Bruno Forte, Erzbischof von Chieti, Msgr. Brian Farrell LC, Sekretär des Dikasteriums für die Einheit der Christen, Msgr. Charles Morerod, Bischof von Lausanne-Genf-Freiburg, Msgr. Krzysztof Nitkiewicz, Bischof von Sandomierz, sowie die Theologen und Experten Andrea Palmieri, Piero Coda, Iwan Dacko, Paul McPartlan, Milan Zust, Hyacinthe Destivelle, Sabino Chialà, Theresia Hainthaler, Barbara Hallensleben und Roberto Morozzo della Rocca, welcher der Gemeinschaft von Sant’Egidio angehört.
- Für die orthodoxe Seite war Metropolit Hiob von Pisidien Ko-Vorsitzender. Zusammen mit Metropolit Maximos von Silivria und dem Theologen Alexis Torrance vertrat er das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel. Weitere Mitglieder waren für das Patriarchat von Alexandria Metropolit Gennadios von Botswana, Metropolit Petros von Accra und Gregory Lantas; für das Patriarchat von Jerusalem Erzbischof Nektarios Anthidonos und Theodoros Giagkou; für das Patriarchat von Rumänien Metropolit Joseph von Südwesteuropa und Patriciu Vlaicu; für das Patriarchat von Georgien Metropolit Theodoros von Akhaltsikhe und Georgios Zviadadze; für die orthodoxe Kirche von Zypern Metropolit Vasileios von Konstantia und Ammochostos und Gregory Ioannidis; für die Kirche von Griechenland Metropolit Chrysostomos von Messinia und Amphilochius Miltos; für die Kirche von Polen Jerzy Ostapczuk und Jerzy Betlejko; für die Kirche von Albanien Metropolit Iοannis von Korçë und Nathan Hoppe; für die Kirche der Tschechischen Republik und der Slowakei Metropolit Georgios von Michailowski und Kyrillos Sarkisian.
Die Lücken auf orthodoxer Seite sind nicht zu übersehen: Neben dem Moskauer Patriarchat fehlten auch die Patriarchate von Antiochien, Serbien und Bulgarien. Für Bulgarien ist das keine Überraschung, da diese orthodoxe Kirche, die rund acht Millionen Gläubige zählt, noch nie an solchen Treffen teilgenommen hat. Zusammen umfassen die abwesenden Kirchen mit 60 Prozent der Gläubigen die Mehrheit der orthodoxen Welt. Das Dokument von Alexandria wurde nur von einer Minderheit unterzeichnet, allerdings auch dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel.
Relevant sind vor allem die Gründe, die Moskau von einer Teilnahme abgehalten haben, die wie schon in der Vergangenheit zuallererst innerorthodoxen Ursprungs sind. Der Vatikanist Sandro Magister faßte sie zusammen:
„Der erste Grund ist die Zustimmung des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomäus zur Gründung einer unabhängigen orthodoxen Kirche in der Ukraine als Alternative zu der mit der russischen Kirche verbundenen Kirche. Der zweite Grund ist die volle Unterstützung dieser Entscheidung des Patriarchen von Konstantinopel durch den Patriarchen von Alexandria und ganz Afrika Theodoros.“
Das Moskauer Patriarchat übte seit seiner Gründung die Jurisdiktion über die gesamte Rus aus, wozu auch Kleinrußland (Ukraine) und Weißrußland gezählt werden. Die komplexen Brüche, die durch die Wiederherstellung der Einheit zwischen Ost- und Westkirche im 15. Jahrhundert auf dem Konzil von Florenz folgten, sind hier beschrieben.
Der Jurisdiktionsanspruch (der in der Orthodoxie eine zentrale Rolle spielt) des Moskauer Patriarchen auf die Ukraine veranlaßte ihn sogar zum Bruch mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel. Moskau spricht seither Konstantinopel jeden Primatsanspruch ab, womit wir beim zweiten, dem innerorthodoxen Aspekt der Primatsfrage wären.
Um das Verhalten des Patriarchen von Alexandria zu konterkarieren, expandiert das Moskauer Patriarchat seit mehreren Jahren in Afrika. Es war demnach ohnehin schwer vorstellbar, daß Moskau an einem Treffen teilnimmt, dessen Gastgeber der Patriarch von Alexandria ist.
Die Patriarchate von Antiochien und Serbien sind traditionell sehr eng mit Moskau verbunden, weshalb sie dem Treffen auch fernblieben, obwohl sie die Gemeinschaft mit Konstantinopel und Alexandria nicht aufgekündigt haben.
Schließlich hatte noch Kardinal Koch Öl ins Feuer gegossen, indem er 2022 Papst Franziskus nacheiferte und Moskaus Patriarchen Kyrill persönlich attackierte. In einem Interview mit der Tagespost verstieg sich Koch zum Häresievorwurf. Kyrill sei in die Häresie gefallen, weil er den russischen Krieg in der Ukraine legitimierte. Den Häresievorwurf scheint es in Rom nur mehr in einem politischen Kontext zu geben. Kyrill unterstützte in mehreren Wortmeldungen die Position des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen Intervention notwendig gewesen sei, um zu verhindern, daß der Westen Besitz von der Ukraine ergreift.
Moskau äußerte sich weder zu den persönlichen Attacken von Papst Franziskus noch jenen von Kardinal Koch. Dafür blieb man dem Treffen von Alexandria fern, das von Koch geleitet wurde.
Der Außenminister des Moskauer Patriarchats, Metropolit Antonij von Wolokolamsk, hielt sich vor wenigen Tagen in Rom auf. Er traf sich mit dem soeben erst aus der Gemelli-Klinik entlassenen Franziskus, mit Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, mit dem vatikanischen Außenminister Msgr. Richard Gallagher und sogar mit führenden Exponenten der Gemeinschaft von Sant’Egidio, dessen Vertreter Kardinal Matteo Zuppi von Franziskus zum Sondergesandten für eine Friedensinitiative im russisch-ukrainischen Krieg ernannt wurde. Um Kardinal Koch machte Metropolit Antonji hingegen einen Bogen, obwohl dieser als Präfekt des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen der erste und eigentliche Ansprechpartner ist.
Positiv darf resümiert werden, daß neben der Frage nach der Verfaßtheit der Kirche und innerorthodoxen Konflikten offenbar keine doktrinären Fragen auf der Tagesordnung stehen und Hindernisse auf dem Weg zur Wiederherstellung der vollen Einheit bilden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Christinaunity.va (Screenshots)