Mission in London

Der Universalitätsanspruch der katholischen Kirche und ihre Begegnung mit den Völkern


Stanislao Graf Medolago Albani (1851–1921), Geheimkämmerer von Papst Pius X., war eine führende Gestalt der katholischen Bewegung in Italien
Stanislao Graf Medolago Albani (1851–1921), Geheimkämmerer von Papst Pius X., war eine führende Gestalt der katholischen Bewegung in Italien

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Mis­sio­ne a Lon­dra“ („Mis­si­on in Lon­don“) ist der Titel eines klei­nen Ban­des, der die Erin­ne­run­gen des Gra­fen Sta­nis­lao Medo­la­go Alba­ni, Geheim­käm­me­rer von Papst Pius X., sam­melt (Ver­lag D’Et­to­ris, Cro­to­ne 2023, her­aus­ge­ge­ben von Lui­sa Mad­da­le­na Medo­la­go Alba­ni, mit einem Vor­wort von Mar­co Invernizzi).

Sta­nis­lao Medo­la­go Alba­ni wur­de 1851 in Ber­ga­mo als Sohn des Gra­fen Gerola­mo und der Bene­det­ta de Maist­re, einer Nach­fah­rin des berühm­ten savoy­ischen Gra­fen Joseph de Maist­re, gebo­ren. Nach dem Stu­di­um der Theo­lo­gie und Phi­lo­so­phie an der Päpst­li­chen Uni­ver­si­tät Gre­go­ria­na spiel­te er eine wich­ti­ge Rol­le in der katho­li­schen Bewe­gung. Der Prie­ster Pao­lo de Töth, der eine wun­der­ba­re Bio­gra­phie über ihn schrieb, sag­te: „Das Leben des Gra­fen Medo­la­go Alba­ni zu schrei­ben ist das­sel­be, wie die Geschich­te der Katho­li­schen Akti­on Ita­li­ens zu schrei­ben“. Der Graf starb am 3. Juli 1921 in Bergamo.

Sta­nis­lao Medo­la­go Albani

Medo­la­go gehör­te wie de Töth zum unnach­gie­big­sten Flü­gel der ita­lie­ni­schen Katho­li­zi­tät und wur­de daher vom hei­li­gen Pius X. beson­ders geschätzt, der ihn und den seli­gen Giu­sep­pe Tonio­lo 1905 mit der Auf­ga­be betrau­te, die katho­li­sche Bewe­gung nach der Zer­schla­gung der vom Moder­nis­mus unter­wan­der­ten Ope­ra dei Con­gres­si [Werk der Kon­gres­se, 1874–1904] zu reor­ga­ni­sie­ren. Am 11. April 1911 erhielt Medo­la­go einen Brief des Staats­se­kre­tärs von Pius X., Rafa­el Mer­ry del Val, in dem der Kar­di­nal ihn über die Absicht des Pap­stes infor­mier­te, ihn in die Päpst­li­che Mis­si­on zu beru­fen, die im Juni zur Krö­nung Sei­ner Maje­stät Georg V., des Königs von Eng­land, nach Lon­don rei­sen soll­te. An der Mis­si­on, die von Mon­si­gno­re Gen­na­ro Gra­ni­to Pigna­tel­li di Bel­mon­te, der im Novem­ber des­sel­ben Jah­res zum Kar­di­nal erho­ben wer­den soll­te, gelei­tet wur­de, nah­men auch Mon­si­gno­re Euge­nio Pacel­li, Unter­se­kre­tär der Kon­gre­ga­ti­on für außer­or­dent­li­che kirch­li­che Ange­le­gen­hei­ten, und Graf Fran­ces­co Bez­zi Sca­li, Nobel­gar­dist Sei­ner Hei­lig­keit, teil.

Die Päpst­li­che Mis­si­on traf am 19. Juni in Lon­don ein. Ihre Mit­glie­der wur­den von den eng­li­schen Herr­schern emp­fan­gen, und am 22. Juni nah­men sie einen Ehren­platz in der könig­li­chen Pro­zes­si­on ein, die bis zur West­min­ster Abbey reich­te. Die Ver­tre­ter des Pap­stes nah­men jedoch nicht an dem Got­tes­dienst mit der Krö­nung teil, in dem der Sou­ve­rän, das Ober­haupt der angli­ka­ni­schen Kir­che, öffent­lich sei­nen pro­te­stan­ti­schen Glau­ben bekräf­tig­te. Die­se Form der Teil­nah­me des Hei­li­gen Stuhls an der Krö­nung des bri­ti­schen Herr­schers war zwar eine diplo­ma­ti­sche Geste, aber kei­ne „öku­me­ni­sche“. Am dar­auf­fol­gen­den Tag nah­men die Mit­glie­der der Mis­si­on in ihren Gala-Klei­dern auch an der zwei­ten spek­ta­ku­lä­ren könig­li­chen „Pro­zes­si­on“ durch die Stra­ßen der Haupt­stadt teil. Erz­bi­schof Gra­ni­to di Bel­mon­te schrieb in sei­nem Bericht an den Papst: „Was den warm­her­zi­gen und wohl­wol­len­den Emp­fang am mei­sten kenn­zeich­ne­te, war die Bereit­schaft der Sou­ve­rä­ne, im Reprä­sen­tan­ten die Per­son des Hei­li­gen Vaters zu ehren, und dies mit öffent­li­chen und außer­ge­wöhn­li­chen Kund­ge­bun­gen, die von den mei­sten aus­län­di­schen Für­sten her­vor­ge­ho­ben und gebil­ligt wur­den, die dem Bei­spiel der eng­li­schen Sou­ve­rä­ne ger­ne folg­ten“.

Georg V., König von Groß­bri­tan­ni­en und Irland und der bri­ti­schen Domi­ni­ons in Über­see sowie Kai­ser von Indi­en, war nicht nur das Ober­haupt der angli­ka­ni­schen Kir­che, son­dern auch Groß­mei­ster der eng­li­schen Frei­mau­re­rei. In Eng­land, der Hei­mat des Fabia­ni­schen Sozia­lis­mus und des auf­kom­men­den Femi­nis­mus, wim­mel­te es von eso­te­ri­schen Sek­ten. Annie Besant lei­te­te die Theo­so­phi­sche Gesell­schaft und hat­te in Lon­don die erste weib­li­che Frei­mau­rer­lo­ge gegrün­det. Gestal­ten wie Oscar Wil­de ver­kör­per­ten die extrem­sten mora­li­schen Über­schrei­tun­gen der dama­li­gen Zeit. Am 15. Juli 1909 war der moder­ni­sti­sche Prie­ster Geor­ge Tyr­rell, der 1907 von Pius X. exkom­mu­ni­ziert wor­den war, in Stor­ring­ton, Groß­bri­tan­ni­en, gestor­ben. Die bri­ti­schen Mer­chant Ban­kers beherrsch­ten die inter­na­tio­na­le Finanz, und die Lon­do­ner City war mit der Wall Street eines der Zen­tren des anglo-ame­ri­ka­ni­schen impe­ria­li­sti­schen Pro­jekts. Pius X. und sein Staats­se­kre­tär waren sich die­ses Gesamt­bil­des wohl bewußt, aber sie ver­teu­fel­ten weder das bri­ti­sche Königs­haus, noch betrach­te­ten sie die „Ang­lo­sphä­re“ als das abso­lut Böse.

In Eng­land leb­ten 1,6 Mil­lio­nen Katho­li­ken, und es ent­wickel­te sich eine Rück­kehr­be­we­gung zur Kir­che von Rom, die unter dem Pon­ti­fi­kat des seli­gen Pius IX. von Kar­di­nal Nicho­las Wise­man, dem seli­gen Domi­ni­kus von der Mut­ter Got­tes und der „Oxford-Bewe­gung“ initi­iert wur­de. Pius V. hat­te 1570 Köni­gin Eli­sa­beth I. exkom­mu­ni­ziert und die eng­li­schen Katho­li­ken von ihrem Treue­eid auf sie ent­bun­den, da zu die­sem Zeit­punkt die mili­tä­ri­sche und reli­giö­se Rück­erobe­rung Eng­lands mit Hil­fe Spa­ni­ens durch Phil­ipp II. noch mög­lich war. Drei Jahr­hun­der­te spä­ter bestand das Haupt­in­ter­es­se der römi­schen Kir­che dar­in, die Frei­heit in einem inzwi­schen pro­te­stan­ti­sier­ten König­reich wiederzuerlangen.

Wie der hei­li­ge Pius X. hat­te auch Leo XIII. gehan­delt, als er 1887 beschloß, eine Päpst­li­che Mis­si­on unter der Lei­tung von Erz­bi­schof Lui­gi Ruf­fo Scil­la nach Lon­don zu ent­sen­den, um Köni­gin Vic­to­ria zum fünf­zig­sten Jah­res­tag ihrer Thron­be­stei­gung zu gra­tu­lie­ren. In den Instruk­tio­nen des Staats­se­kre­tärs Maria­no Ram­pol­la del Tin­da­ro an den päpst­li­chen Gesand­ten wur­de das Ver­ei­nig­te König­reich gelobt, weil es, obwohl offi­zi­ell angli­ka­nisch, die katho­li­schen Got­tes­dien­ste in sei­nen Herr­schafts­ge­bie­ten nicht behin­der­te und „der katho­li­schen Kir­che beson­ders in den Mis­sio­nen in Kana­da und Ost­in­di­en“ Respekt zollte.

Der gute und treue­ste Her­zog von Nor­folk“, schrieb Kar­di­nal Hen­ry Edward Man­ning, Erz­bi­schof von West­min­ster, am 3. Juli 1887 an Leo XIII., „zeig­te die fein­ste Gast­freund­schaft, unse­re Gläu­bi­gen kamen am Jubi­lä­ums­tag in Scha­ren in die Kathe­dra­le, als Mon­si­gno­re Ruf­fo Scyl­la mir die Freund­lich­keit erwies, das Pon­ti­fi­kal­amt fei­er­lichst zu hal­ten. Unse­re Köni­gin zeig­te im Lon­do­ner Palast und auf Schloß Wind­sor alle Zei­chen der Ver­eh­rung für die Per­son Eurer Hei­lig­keit und der Ach­tung und des Wohl­wol­lens gegen­über dem Gesand­ten“.

1887 wur­de der damals 22jährige Rafa­el Mer­ry del Val, ein gebür­ti­ger Lon­do­ner, der Fami­lie nach Spa­ni­er, aber ein Römer im Gei­ste, vom Papst zum Sekre­tär der Päpst­li­chen Mis­si­on in Eng­land ernannt. Im Jahr 1901 schick­te Leo XIII. ihn erneut nach Lon­don, um dem neu­en König Edward VII. sei­ne Glück­wün­sche zu über­brin­gen. Nach­dem er Staats­se­kre­tär von Pius X. gewor­den war, woll­te Mer­ry del Val die freund­schaft­li­chen Bezie­hun­gen zum Hof von Wind­sor festi­gen. Sei­ne dok­tri­nä­re Unnach­gie­big­keit gegen­über dem Pro­te­stan­tis­mus, dem Libe­ra­lis­mus und der Frei­mau­re­rei war bei ihm von gro­ßer poli­ti­scher Fle­xi­bi­li­tät und vor allem von einer tie­fen Lie­be zum eng­li­schen Volk beglei­tet. Die Enzy­kli­ka Apo­sto­li­cae Curae von Leo XIII. vom 13. Sep­tem­ber 1896, in der die angli­ka­ni­schen Wei­hen für ungül­tig erklärt wer­den, schließt mit einem Gebet, das gemein­hin Kar­di­nal Mer­ry del Val zuge­schrie­ben wird und das es wert ist, im vol­len Wort­laut zitiert zu wer­den: „O seli­ge Jung­frau Maria, Mut­ter Got­tes, unse­re Köni­gin und lieb­ste Mut­ter, wen­de dei­ne Augen gütig auf Eng­land, das dei­ne ‚Mor­gen­ga­be‘ genannt wird, und wen­de sie auf uns, die wir unser gan­zes Ver­trau­en auf dich set­zen. Durch dich ist uns Chri­stus, der Ret­ter der Welt, gege­ben wor­den, damit unse­re Hoff­nung auf ihn fest sei; und von ihm bist du uns gege­ben wor­den, damit unse­re Hoff­nung durch dich ver­mehrt wer­de. Des­halb bit­te für uns, o schmerz­haf­te Mut­ter, die du uns als Kin­der am Kreuz des Herrn auf­ge­nom­men hast; tritt für unse­re abtrün­ni­gen Brü­der ein, damit sie mit uns in der einen wah­ren Her­de mit dem Ober­hir­ten, dem Stell­ver­tre­ter dei­nes Soh­nes auf Erden, ver­eint wer­den. Bit­te für uns alle, o from­me Mut­ter, dass wir alle durch den Glau­ben, der gute Wer­ke her­vor­bringt, es ver­die­nen, gemein­sam mit dir Gott in der himm­li­schen Hei­mat zu betrach­ten und ihn für immer zu prei­sen. Amen“.

Die Kir­che hat nie ein Volk ver­teu­felt, sie hat es gestern nicht getan und sie tut es auch heu­te nicht. Jede Gesell­schaft, so wie jeder ein­zel­ne, kann sich von Gott abwen­den, aber sie kann auch in sei­ne Arme zurück­keh­ren, ent­spre­chend der gött­li­chen Gna­de. Die Kon­flik­te, die die Welt zer­rei­ßen, müs­sen immer aus einer über­na­tür­li­chen und nicht aus einer poli­ti­schen oder ideo­lo­gi­schen Per­spek­ti­ve betrach­tet wer­den, indem man sich dar­an erin­nert, daß die Kir­che die Mut­ter und nicht die Stief­mut­ter der Völ­ker ist und daß ihre Sen­dung katho­lisch, d. h. uni­ver­sal, ist.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana



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