Papst Franziskus und die Cancel Culture in der Kirche

Wir haben es mit einer Kirche zu tun, die sich selbst nicht kennt


Papst Franziskus als Betreiber einer kircheninternen Cancel Culture. Im Bild bei der Generalaudienz vom vergangenen Mittwoch.
Papst Franziskus als Betreiber einer kircheninternen Cancel Culture. Im Bild bei der Generalaudienz vom vergangenen Mittwoch.

(Rom) Der Vati­ka­nist Andrea Gagli­ar­duc­ci ver­öf­fent­lich­te auf sei­nem Blog Mon­day Vati­can eine inter­es­san­te Ana­ly­se des Pon­ti­fi­kats von Papst Fran­zis­kus und einem destruk­ti­ven Grund­ele­ment, die Beach­tung ver­dient. Dar­in schreibt er: „Wir haben es heu­te mit einer Kir­che zu tun, die sich selbst nicht kennt und nicht ein­mal die Bedeu­tung ihrer Geschich­te und ihrer Ver­gan­gen­heit ver­steht“. Gagli­ar­duc­ci arbei­tet für Catho­lic News Agen­cy (CNA) und schreibt auch für den Natio­nal Catho­lic Regi­ster und Kora­zym.

Papst Franziskus und die Cancel Culture in der Kirche

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Von Andrea Gagliarducci

Als Papst Fran­zis­kus vor zehn Jah­ren gewählt wur­de, war die Ent­schei­dung, einen Teil der jün­ge­ren Kir­chen­ge­schich­te neu zu schrei­ben, sofort klar. Die außer­or­dent­li­che Bedeu­tung, die den Gesten von Papst Fran­zis­kus bei­gemes­sen wird, die Auf­merk­sam­keit der Medi­en, aber auch eini­ge der Gesten, die Fran­zis­kus selbst von Anfang an gemacht hat, zeig­ten dies.

In den zehn Jah­ren sei­nes Pon­ti­fi­kats schwenk­te Papst Fran­zis­kus zwi­schen Tra­di­ti­on und Inno­va­ti­on hin und her, ohne den bei­den Begrif­fen eine tie­fe­re Bedeu­tung zu geben. Sei­ne Ent­schei­dung, Loren­zo Bal­dis­se­ri, dem Sekre­tär des Kon­kla­ves, den Kar­di­nals­hut zu geben, ent­spricht dem, was auch Papst Johan­nes XXIII. unter ande­ren Umstän­den getan hat­te. Sei­ne Ent­schei­dun­gen über die Kurie sind aller­dings frag­wür­dig und erin­nern an eine Theo­lo­gie, die seit Jah­ren ad acta gelegt wor­den war.

Die Idee eines mis­sio­na­ri­schen Papst­tums, das den Insti­tu­tio­na­lis­mus bei­sei­te schiebt; der Wunsch nach einem Zen­trum, das tat­säch­lich im Dienst der Rän­der steht und die alten Macht­struk­tu­ren auf­gibt; die Dia­lek­tik zu den Pro­ble­men der insti­tu­tio­nel­len Kir­che und damit der Angriff auf den Kle­ri­ka­lis­mus; all das waren Ideen, die sich wäh­rend und nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil ver­brei­tet hat­ten und in den Debat­ten viru­lent gewor­den waren.

Paul VI. ver­such­te, das Steu­er­ru­der gera­de zu hal­ten. Er setz­te die Bischofs­syn­ode ein und ver­kün­de­te vor allem Hum­a­nae Vitae, eine Enzy­kli­ka, die die tra­di­tio­nel­le Leh­re der Kir­che bekräf­tig­te und in der Tat jeden Ver­such, über das Depo­si­tum Fidei hin­aus­zu­ge­hen, hin­weg­feg­te. Die­se Enzy­kli­ka war sehr umstrit­ten, doch der Anspruch zur Befol­gung ihrer Grund­sät­ze war sehr weit gefaßt, fast voll­stän­dig. Der dama­li­ge Kar­di­nal Karol Woj­ty­la beton­te sogar, daß die Enzy­kli­ka mit dem Anspruch der Unfehl­bar­keit zu ver­knüp­fen sei, indem er her­vor­hob, daß der Papst kei­ne Mei­nung ver­tre­ten, son­dern die wah­re Leh­re zusam­men­ge­faßt habe.

Kurz gesagt, es gab eine anhal­ten­de Debat­te, die die Pon­ti­fi­ka­te von Johan­nes Paul II. und Bene­dikt XVI. zu über­win­den ver­sucht hat­ten. Johan­nes Paul II. hat­te dies getan, indem er den stän­di­gen Dia­log über Glau­bens­fra­gen such­te und gleich­zei­tig maß­geb­li­che Insti­tu­tio­nen schuf. Der Ansatz von Bene­dikt XVI. bestand dar­in, stets die zen­tra­le Stel­lung Chri­sti zu beto­nen – und zwar auf beson­ders sym­bo­li­sche Wei­se mit der Ver­öf­fent­li­chung der Bücher über Jesus von Nazareth.

Es geht um sehr auf­schluß­rei­che sym­bo­li­sche Ent­schei­dun­gen. Bene­dikt XVI. woll­te, daß das The­ma der Kon­fe­renz von Apa­re­ci­da, bei der Berg­o­glio Gene­ral­be­richt­erstat­ter war, um zwei Wor­te ergänzt wird: „Damit unse­re Völ­ker das Leben haben“. Mit Bene­dikt XVI. wur­de dar­aus: „Damit unse­re Völ­ker das Leben in Ihm haben“.

Johan­nes Paul II. hin­ge­gen änder­te die Struk­tur des Rates der Euro­päi­schen Bischofs­kon­fe­ren­zen (CCEE) und mach­te ihn zu einem Rat, der sich aus den Vor­sit­zen­den der Bischofs­kon­fe­ren­zen und nicht mehr aus dele­gier­ten Bischö­fen zusam­men­setzt. Auf die­se Wei­se wur­de die Debat­te der euro­päi­schen Bischö­fe auf­ge­wer­tet, indem ihnen mehr Auto­ri­tät ver­lie­hen wur­de. Das Gre­mi­um wur­de zu einem Gre­mi­um von Vor­sit­zen­den, und die euro­päi­schen Debat­ten konn­ten leicht zu natio­na­len Debat­ten wer­den, da sie von den Vor­sit­zen­den an die Voll­ver­samm­lun­gen berich­tet wurden.

Ein Sieg für die Kurie? Ein Buch von Fran­ce­s­ca Peru­gi mit dem Titel „Histo­ry of a Defeat“ (Geschich­te einer Nie­der­la­ge) behaup­tet ja. Es zeigt näm­lich auf, daß das, was in Sankt Gal­len, dem Sitz des CCEE, einst eine [hoff­nungs­vol­le] „Feu­er­stel­le“ war, von einem neu­en Prot­ago­nis­mus der Römi­schen Kurie ins Abseits gedrängt und daß somit der gan­ze Keim der gro­ßen nach­kon­zi­lia­ren Debat­te hin­weg­ge­fegt wurde.

Zwi­schen den Strei­tern für den Dia­log und den Kul­tur­kämp­fern habe sich Johan­nes Paul II. für letz­te­re ent­schie­den, indem er der gro­ßen Erfah­rung von Sankt Gal­len, die sich um Kar­di­nal Car­lo Maria Mar­ti­ni, Erz­bi­schof von Mai­land und meh­re­re Jah­re lang Vor­sit­zen­der des CCEE, gebil­det hat­te, ein Ende setzte.

Mit die­sen Wor­ten soll das Nar­ra­tiv von der „Mafia von Sankt Gal­len“ durch­bro­chen wer­den, das ins­be­son­de­re durch ein Buch der Histo­ri­ke­rin Julia Melo­ni lan­ciert wur­de, die statt­des­sen fest­stellt, wie die Grup­pe für einen ech­ten „Staats­streich“ struk­tu­riert war, indem sie zunächst auf Berg­o­glio als Kan­di­da­ten für das Kon­kla­ve 2005 abziel­te und sich dann auf Ratz­in­ger einig­te, um die Kan­di­da­tur von Kar­di­nal Rui­ni zu ver­hin­dern. Rui­ni wäre in der Tat der Ver­tre­ter jener Strö­mung der „Kul­tur­kämp­fer“ gewe­sen, die Johan­nes Paul II. 1985 auf dem Kir­chen­tref­fen der Ita­lie­ni­schen Bischofs­kon­fe­renz unter­stützt hatte.

Kurz gesagt, Johan­nes Paul II. hät­te jede Erfah­rung von Debat­te und Kol­le­gia­li­tät unter­bun­den, indem er sein eige­nes Modell durch­ge­setzt und damit ein­mal mehr die über­mä­ßi­ge Macht einer Kurie gezeigt hät­te, die nicht woll­te, daß die Rän­der hervortreten.

Aber ist dem wirk­lich so?

Papst Fran­zis­kus scheint die­ser Idee Glau­ben zu schen­ken, und sei­ne Ent­schei­dun­gen gehen alle in Rich­tung einer fort­schrei­ten­den Dekon­struk­ti­on der Kurie und ihrer Macht­struk­tu­ren. Bei Papst Fran­zis­kus ist kei­ne Ernen­nung sicher, kein Titel wird auto­ma­tisch ver­lie­hen, und alles muß in einem mis­sio­na­ri­schen Geist ver­stan­den wer­den, der die Reform der Kurie antreibt.

Gleich­zei­tig geschieht jedoch nichts ohne die Geneh­mi­gung des Pap­stes, kei­ne Ent­schei­dung kann unab­hän­gig getrof­fen wer­den, und an einem Ort, an dem sich Ernen­nun­gen und sogar die „Spiel­re­geln“ schnell ändern kön­nen, ist der Papst mit sei­ner Per­sön­lich­keit und sei­nen Ent­schei­dun­gen der ein­zi­ge Bezugspunkt.

Papst Fran­zis­kus hat das anti­rö­mi­sche Nar­ra­tiv in vie­le sei­ner Reden ein­flie­ßen las­sen und von Anfang an den Aus­druck „die alte Kurie“ ver­wen­det, um auf eine Grup­pe von gläu­bi­gen Kuri­en­mit­glie­dern zu zei­gen, die der Kir­che treu geblie­ben sind, und damit jene anzu­spre­chen, die sich von den letz­ten bei­den Pon­ti­fi­ka­ten „besiegt“ fühlten.

Selbst in den Kon­si­sto­ri­en hat es Papst Fran­zis­kus nicht ver­säumt, ver­meint­lich erlit­te­nes Unrecht sym­bo­lisch „wie­der­gut­zu­ma­chen“, wobei er oft soge­nann­te „Wie­der­gut­ma­chungs­kar­di­nä­le“ ein­setz­te (wie den ehe­ma­li­gen Nun­ti­us Rau­ber, des­sen Emp­feh­lun­gen für die Ernen­nung des Erz­bi­schofs von Brüs­sel nicht befolgt wur­den, und Fitz­ge­rald, der vom sehr wich­ti­gen Posten des Sekre­tärs des Päpst­li­chen Rats für den inter­re­li­giö­sen Dia­log als diplo­ma­ti­scher Gesand­ter nach Ägyp­ten ver­setzt wur­de) [Msgr. Micha­el Lou­is Fitz­ge­rald M.Afr. war zwar zunächst Sekre­tär, von 2002 bis 2006 jedoch Prä­fekt die­ses Päpst­li­chen Rats. Als sol­cher wur­de er von Papst Bene­dikt XVI. ent­las­sen und zum Apo­sto­li­schen Nun­ti­us für Ägyp­ten ernannt, Anm. GN].

Wir wis­sen nicht, ob die­se Schrit­te des Pap­stes [Fran­zis­kus] ein Zuge­ständ­nis waren, um Druck zu ver­mei­den, oder ob sie aus ideo­lo­gi­scher Über­zeu­gung erfolg­ten. Es ist jedoch bemer­kens­wert, daß es in der Kir­che selbst eine Can­cel Cul­tu­re gibt, die ver­sucht die Geschich­te umzu­schrei­ben und alles, was gegen die aktu­el­le Men­ta­li­tät oder für die Insti­tu­tio­nen spricht, in ein nega­ti­ves Licht zu rücken. Die Insti­tu­tio­nen wer­den fast als böse ange­se­hen, wäh­rend eine per­so­na­li­sti­sche Regie­rung pro­blem­los akzep­tiert wird. Das ist para­dox, aber es ist die heu­ti­ge Realität.

Tat­sa­che ist, daß wir es mit einer Kir­che zu tun haben, die sich selbst nicht kennt und nicht ein­mal die Bedeu­tung ihrer Geschich­te und ihrer Ver­gan­gen­heit ver­steht. Die Kir­che war schon immer auf die Ver­gan­gen­heit ori­en­tiert, zu der Rück­kehr zu den Ursprün­gen, denn in der Erfah­rung Chri­sti spie­gelt sich alles wider. Heu­te jedoch scheint die Ver­gan­gen­heit eine Last zu sein, und es wer­den Ent­schei­dun­gen getrof­fen, ohne frü­he­re Erfah­run­gen auch nur zu berück­sich­ti­gen. Es ist eine Welt, in der die Fik­ti­on die Ober­hand über die Fak­ten hat. Und in der wir das Dra­ma von Kir­chen­män­nern erle­ben, die mehr an einem bestimm­ten Nar­ra­tiv inter­es­siert sind als an der Geschich­te der Kir­che, ihrer Tra­di­ti­on, ihrem Leben.

Es gibt eine Ver­wechs­lung zwi­schen prak­ti­schen Ent­schei­dun­gen und ideo­lo­gi­schen Bin­dun­gen. Natür­lich gab es mit der Wahl von Papst Fran­zis­kus den Wunsch nach einem nar­ra­ti­ven Staats­streich. Es ist kein Zufall, daß Austen Ive­reigh von einem ech­ten ‚Team Berg­o­glio‘ sprach, das sich in Sankt Gal­len traf (‚wir waren eine Art Mafia‘, sag­te Kar­di­nal Dan­neels nur halb scherz­haft), das aber nicht das ‚Zöna­kel‘ des CCEE war. Es ist nicht ver­wun­der­lich, daß das [neue] Pon­ti­fi­kat die­se Medi­en­wir­kung hat­te. Doch als es um die Über­prü­fung von Hum­a­nae Vitae ging, räum­te Pro­fes­sor Gil­fre­do Maren­go, der gewiß kein Kon­ser­va­ti­ver ist, ein: Paul VI. hat nicht allein gehandelt.

Es gibt eine Kir­che, die wei­ter­lebt, und eine Tra­di­ti­on, die nie auf­ge­ge­ben wur­de. Die Fra­ge ist, ob sie über­le­ben oder dem Nar­ra­tiv erlie­gen wird.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Vati​can​.va (Screen­shot)

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