Von Wolfram Schrems*
Der überaus produktive philosophische Verlag Editiones scholasticae brachte im vergangenen Jahr die Übersetzung eines rezenten Traktates des bedeutenden zeitgenössischen US-Thomisten Edward Feser heraus. Auch wenn man das Wort „Rassismus“ ob seines inflationären Gebrauchs nicht mehr hören kann, ist eine Konsultation des profunden und ausgewogenen Werkes absolut lohnend. Denn Professor Feser stellt die kirchliche Position zu Rassenthematik, Sklaverei und Migration kurz, aber präzise dar und widerlegt die ideologische Mißgeburt der im deutschen Sprachraum außerhalb der üblichen Blase möglicherweise noch wenig bekannten Kritischen Rassentheorie. Eine reichhaltige Bibliographie ermöglicht weitere Nachforschungen.
Da hier wichtige Dinge verhandelt werden, gehen wir genauer darauf ein.
Dieselbe Menschennatur – dieselbe übernatürliche Berufung
Fesers Grundgedanke stammt aus der Offenbarung, wonach die Glieder der Menschheitsfamilie an derselben Natur teilhaben und zur selben übernatürlichen Bestimmung berufen sind. Feser untermauert das mit dem jahrhundertealten, konstanten Lehramt (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche 356):
„Die Verurteilung des Rassismus durch die Kirche ist weder eine Neuheit noch folgt sie den säkularen Moralvorstellungen“ (15).
Sklaverei
Feser stellt die verschiedenen Formen der Sklaverei, die in vielen Fällen Auswuchs von Rassendiskriminierung war und ist, dar: So gebe es neben dem, was wir heute unter Sklaverei verstehen – also der Freiheitsberaubung eines juristisch schuldlosen Menschen, der zur Arbeit gezwungen wird, was von der Kirche immer als intrinsece malum verurteilt wurde –, auch noch die Schuldsklaverei und die Sklaverei als Strafe (21). Gregor XIV. und Benedikt XIV. griffen ältere päpstliche Lehrschreiben auf und verurteilten die Versklavung etwa von Indianern bei Strafe der Exkommunikation (bekanntlich hat diese Strafandrohung nicht jeden beeindruckt). Bei der Schuldknechtschaft handle es sich im wesentlichen um eine extreme Version eines gewöhnlichen Arbeitsvertrags.1 Feser sagt, daß die beiden letzteren Formen der Sklaverei von der Kirche nicht grundsätzlich verurteilt wurden (Instruktion des Hl. Offiziums von 1866, 23).
Feser bezieht sich auf die Bulle Sublimis Deus (1537) von Paul III., der die Beraubung und Versklavung der Indianer verbot, und auf Autoren, die ebenfalls die Rechte der Indianer verteidigten, vor allem das Recht auf Gotteskindschaft in der Taufe.
Bemerkenswert ist, daß der „antiliberale“ Papst Gregor XVI., bekannt für sein Rundschreiben Mirari vos (1832) gegen die liberale Gewissens- und Pressefreiheit, in In Supremo (1839) „die fortgesetzte Versklavung von Indianern und Schwarzen“ verbot und „strikt jede Abweichung von der Lehre der Kirche zu diesem Thema, sei es öffentlich oder privat, in der Lehre oder schriftlich“ verurteilte (23).
Patriotismus und Bewahrung des nationalen Erbes
Feser legt dar, daß nach der Lehre der Kirche „eine besondere Bindung an die eigene Nation und ihre Kultur keineswegs ein irrationales Vorurteil ist“. Nach Thomas ist „der Patriotismus eine moralische Tugend“ und „eine Erweiterung der Frömmigkeit, die wir unseren Eltern schulden“ (26).
Feser zitiert die Lehre des KKK, daß die Autoritäten die Ausübung des Einwanderungsrechts Bedingungen unterstellen dürfen und daß die Einwanderer loyal gegenüber dem Gastland und seiner Kultur sein müssen (KKK 2241). Nach Thomas von Aquin war die Regelung im alten Israel und bei anderen Völkern sinnvoll, daß das Bürgerrecht erst nach zwei oder drei Generationen gewährt wurde (35).
Feser faßt diesen Punkt zusammen, daß die Lehre der Kirche über Patriotismus und die Nation als natürliche Einrichtung ein nüchterner Mittelweg zwischen Nationalismus und Globalismus ist.
„Kritische Rassentheorie“?
Feser analysiert die sogenannte „Kritische Rassentheorie“ (nach dem Englischen als CRT abgekürzt), die wie der Marxismus eine wirklichkeitsfremde und haßerfüllte Ideologie ist:2
„Die grundlegende Behauptung der CRT ist, dass der Rassismus die Ecken und Winkel jeder sozialen Institution und die Psyche jedes Einzelnen vollständig durchdringe. Er stecke besonders tief in jedem einzelnen Weißen, aber er infiziere auch das Denken nichtweißer Menschen insofern, als sie die rassistischen Annahmen, die Weiße über sie haben, übernommen und die rassistische Politik und die Institutionen, durch die Weiße sie unterdrücken, akzeptiert hätten“ (42).
Feser zitiert ausgiebig aus den Werken der beiden CRT-Autoren Ibram X. Kendi und Robin DiAngelo, die beide die Weißen als „von Natur aus“ rassistisch betrachten (48). Nur Rassendiskriminierung gegen Weiße könne Abhilfe schaffen. Die CRT fordert auch (im Sinne des Kulturmarxismus von Antonio Gramsci und des Postmodernismus von Michel Foucault), feministisch und pro-homosexuell zu sein und Gesetze zur Religionsfreiheit einzuschränken, weil diese als „Wegnahme der Rechte von queeren Menschen“ zu betrachten seien (!).3
Sehr aufschlußreich ist die Analyse der CRT auf geradezu lehrbuchmäßige Trugschlüsse und rhetorische Tricks hin (Poisoning the Well, Genetischer Fehlschluß, Ad hominem-Fehlschluß, doppelte Standards, Hermeneutik des Verdachts u. a.). Nach Abzug dieser Irrtümer bliebe praktisch nichts übrig, was ihre Argumentation stützen könnte (68).
Feser bringt auch sozialwissenschaftliche Einwände gegen die CRT und zieht dazu aussagekräftige Literatur heran. Der Kolonialismus könne für die oft bedauerliche Situation etwa afrikanischer Staaten nicht pauschal verantwortlich gemacht werden. In den USA begann der Verfall der afroamerikanischen Kultur erst in den 1960er Jahren mit der sexuellen Revolution und der folgenden Vaterlosigkeit.
Nach Feser ist die CRT eine Art psychischer Erkrankung, weil sie eine bewußt negativstmögliche Interpretation der Wirklichkeit darstellt und „Depressionen, Angstzuständen, Zwangsstörungen“ ähnle (90).
Katholischer Glaube gegen „Kritische Rassentheorie“
Schließlich behandelt Feser die katholische Position gegenüber der CRT. Einschlägig ist das Dokument Die Kirche und der Rassismus der Päpstlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden von 1988, gemäß dem „keine menschliche Gruppe … sich einer natürlichen Überlegenheit gegenüber anderen rühmen kann“. Allerdings müssen auch Unterschiede in bezug auf kulturelle Begabungen und moralische Stärken zwischen den Menschen und Gemeinschaften anerkannt werden.
Feser kommentiert:
‚Die Kirche lehnt nicht nur einen radikalen Egalitarismus in Bezug auf die materiellen Bedingungen ab. Die Kirche verurteilt auch die Behauptung, dass alle Kulturen in jeder wichtigen Hinsicht gleich gut seien, sowie die relativistische These, dass es außerhalb der Kulturen keine objektiven Maßstäbe gebe, anhand derer sie beurteilt werden könnten. Papst Paul VI. verurteilte „das Aufkommen eines verderblichen moralischen Relativismus, der eindeutig das gesamte Lehramt der Kirche gefährdet“‘ (100).4
Feser legt abschließend den extremen und ideologischen Charakter der CRT dar und rekurriert auf den im deutschen Sprachraum leider zu wenig bekannten Politikwissenschaftler Eric Voegelin, der „argumentierte, dass die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, der Marxismus und der Nationalsozialismus, moderne Erben der gnostischen Häresie seien, die die frühe Kirche heimsuchte und in den folgenden Jahrhunderten in vielen verschiedenen Formen wieder auftauchte. Die Kritische Rassentheorie weist dieselben allgemeinen Merkmale auf … [Sie] fungiert als eine neue Gnosis, die ihren Anhängern angeblich die unsichtbare Rassenunterdrückung offenbart, unter der sie leben, wobei Bestseller-Gurus wie Kendi und DiAngelo als moderne Marcions und Manis fungieren“ (111).
Wie die anderen gnostischen Ideologien vor ihr, „immanentisiert“ die CRT „das Eschaton“, um eine berühmte Formulierung Voegelins zu zitieren, „das heißt, sie verlegen den Endsieg der Gerechten in diese Welt und freuen sich auf einen Himmel auf Erden“ (ebd.).
Resümee
Fesers Traktat ist eine übersichtliche und kompakte Darstellung der Haltung der Kirche zu Rassismus und ideologisiertem „Antirassismus“. In Zeiten eines flächendeckenden praktischen Atheismus und daraus folgender ideologischer Surrogate, etwa der bewußt fabrizierten Hysterie vor einem hauptsächlich herbeiphantasierten weißen „Rassismus“, ist Edward Feser eine wichtige Stimme von Glaube und Vernunft. Die Darstellung der kirchlichen Position zu Rassen, Sklaverei und Patriotismus ist sehr gut mit lehramtlichen Dokumenten belegt. Die Darstellung der CRT ist ebenfalls profund, ihre Widerlegung überzeugend.
Zwei kleine Kritikpunkte seien genannt:
Erstens zitiert Feser den amtierenden Papst, ohne das Evidente festzustellen, nämlich, daß dessen Aussagen seit zehn Jahren von Verwirrung und Widersprüchen geprägt sind. Franziskus trat in einer Botschaft zum Welttag der Migranten 2017 für Familienzusammenführung inklusive Großeltern, Geschwistern und Enkeln (!) ein (31) und hat deutlich gemacht, daß das Wohlergehen des einzelnen Migranten der Sicherheit der Aufnahmegesellschaft vorgeht5. Andererseits verkündet der Papst nach Feser, daß „diejenigen, die ankommen, die Pflicht haben, sich der Kultur und den Traditionen des Aufnahmelandes nicht zu verschließen und vor allem dessen Gesetze zu respektieren“ (32). Das ist kaum zu vereinbaren.
In Evangelii gaudium (2013) § 115 heißt es darüber hinaus: „Jedes Volk entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer Autonomie“, und in Laudato si‘ (2015) § 93 (vgl. § 144) ist von den „Rechten der Völker und Nationen“ die Rede. Vom Wortlaut seiner Schreiben tritt also Papst Franziskus für die Rechte der Völker ein, somit eigentlich auch für den, wenn man das so sagen will, „Ethnopluralismus“ unter den europäischen Völkern. Das wäre noch extra zu thematisieren.
Zweitens wird die Frage nicht-„weißer“ Rassismen ausgeblendet: Im Koran wird das Arabische als Sprache Gottes bezeichnet. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Geschichte des Islam und das Verhältnis der Araber zu den islamisierten Völkern und zur Sklaverei.
In der Aufzählung der „manichäischen“ Dichotomien (110f) übergeht der Autor, daß auch das gegenchristliche, talmudische Judentum zwischen sich und die „Goyim“ („Völker“) eine sozusagen „manichäische“ Barriere setzt. Johannes der Täufer und der Herr selbst verweisen den Juden ihrer Zeit die allzu selbstsichere Berufung auf ihre Abstammung (heute würde man sagen, auf ihre DNA) und betonen die Wichtigkeit des Glaubens (Mt 3,9; Joh 8,33ff). Bis heute spielt die Abstammung, d. h. die „Rasse“, im Judentum eine wesentliche Rolle. Das ist an der weitgehenden Abschottung und Endogamie als auch an der Staatsbürgerschaftspolitik des Staates Israel, inklusive der Untersuchungen des Genoms von Einwanderern, zu erkennen.6
Ist also möglicherweise die falsch, nämlich säkular und chauvinistisch, interpretierte Auserwählung Abrahams und seiner Nachkommen das Paradigma aller Rassismen? Dem nachzugehen wäre eine wichtige Aufgabe. –
In Christus sind jedenfalls alle eins, Mann und Frau, Freier und Sklave, Jude und Heide (Gal 3,28).
Dank und Anerkennung an Professor Feser, daß er das klar herausgestellt hat.
Edward Feser, Alles in Christus – Eine katholische Kritik des Rassismus und der Kritischen Rassentheorie, Aus dem Englischen übersetzt von Rafael Hüntelmann, editiones scholasticae, Neunkirchen-Seelscheid, 2022, 120 S.; Originalausgabe: Edward Feser, All in Christ. A Catholic Critique of Racism and Critical Race Theory, Ignatius Press, San Francisco, 2022
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Prolifer, ambivalente Erfahrungen mit In- und Ausländern
Bild: Editiones scholasticae (Screenshot)
1 Hier kommt uns sofort Hilaire Belloc, Der Sklavenstaat, in den Sinn.
2 Es wiederholt sich hier ein Muster: Je schwächer Kirche und Glaube, Moral und Patriotismus in der Gesellschaft geworden sind, desto heftiger werden sie als „unterdrückend“ bekämpft.
3 Wer schwarzafrikanische Kulturen kennt, weiß, daß dort weder Feminismus noch Homosexualität geduldet werden. Das wirft wieder einmal die Frage nach dem Ursprung der CRT auf. Offensichtlich stammt sie, wie auch Black Lives Matter, nicht aus dem Inneren der afrikanischen Völker.
4 Das ist zwar richtig, allerdings hat Paul VI. durch die Promulgation von Dignitatis humanae (1965) des II. Vaticanums selbst darauf verzichtet, „objektive Maßstäbe“ an die Kulturen und falschen Religionen anzulegen. Damit hat er de facto den Relativismus begünstigt.
5 „Der Grundsatz der zentralen Stellung der menschlichen Person, der von meinem geschätzten Vorgänger Benedikt XVI. mit Festigkeit bekräftigt wurde[5], verpflichtet uns dazu, die Sicherheit der Personen stets der Sicherheit des Landes voranzustellen“, zit. nach Vatican.va.
6 Analog dazu gibt es ein starkes Rassebewußtsein der „Roma“, was nach dem gängigsten Internetlexikon „Menschen“ heißt, die sich von den „Gadscho“, den Seßhaften, absetzen. Bekanntlich gibt es die Theorie, daß die Zigeuner, oder manche von ihnen, von den zehn verschleppten Nordstämmen abstammen. Israel gewährte etwa dem indischen Stamm der „Bnai Menasche“, der als Nachkomme des Stammes Manasse identifiziert wurde, nach einigen Diskussionen im Jahr 2005 die Staatsbürgerschaft. Vgl. Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004 (dt. Das jüdische Jahrhundert, Göttingen, 2006). Slezkine nennt Juden und Zigeuner (im Orig. „Gypsies”) oft zusammen und bezeichnet sie als „merkurische“, „quecksilbrige“ Völker.