Von Roberto de Mattei*
Ein Medienwirbel begleitete die Veröffentlichung mehrerer Bücher, die nach dem Tod von Benedikt XVI. erschienen sind. Zu den beiden Gesprächsbüchern von Msgr. Georg Gänswein mit Saverio Gaeta: „Nient’altro che la verità“ („Nichts als die Wahrheit. Mein Leben an der Seite von Benedikt XVI.“, Piemme, 336 Seiten) und von Kardinal Gerhard Müller mit Franca Giansoldati: „In buona fede“ („Im guten Glauben. Die Religion des 21. Jahrhunderts“, Solferino, 224 Seiten) wurde kürzlich ergänzt durch „Che cos’è il Cristianesimo. Quasi un testamento spirituale“ („Was das Christentum ist. Fast ein geistliches Vermächtnis“, Mondadori 2023), einen von Elio Guerriero und Georg Gänswein herausgegebenen Text, der die veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften Benedikts XVI. aus den zehn Jahren nach seinem Pontifikat zusammenfaßt.
Diese Bücher sind sicherlich nützlich, um die Persönlichkeiten ihrer Autoren zu verstehen, die alle prominente Protagonisten des kirchlichen Geschehens sind, und stellen in diesem Sinne einen nützlichen historischen Beitrag dar. Es ist aber zu bezweifeln, daß sie in den Wirren unserer Zeit Orientierung bieten können. Ein Hauch von Zweideutigkeit umgibt vor allem die Figur Benedikts XVI., der als idealer Bezugspunkt einer konservativen Front dargestellt wird, die sich dem lehrmäßigen Abdriften der deutschen progressiven Bischöfe entgegenstellen würde. Es ist jedoch bekannt, daß Benedikt demselben Umfeld entstammt. Wie und wann kam es zu seiner „Bekehrung“?
In einem Interview aus dem Jahr 1993 sagte der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Josef Ratzinger: „Ich sehe keinen Bruch, im Laufe der Jahre, in meinen Ansichten als Theologe“ (Richard N. Ostling, John Moody, Nomi Morris: Keeper of the Straight and Narrow, in: Time, 6. Dezember 1993). Zwischen dem Doktoranden von 1955, dem sein Professor Michael Schmaus „gefährlichen Modernismus“ vorwarf, und dem kühnen theologischen Berater von Kardinal Josef Frings auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), zwischen dem Mitbegründer der Zeitschrift Communio (1972) und dem Professor an den Universitäten Tübingen und Regensburg (1966–1977), zwischen dem Erzbischof von München (1977–1981) und dem Präfekten der Glaubenskongregation (1981–2005), zwischen dem 256. Papst der katholischen Kirche (2005–2013) und dem „emeritierten Papst“, der bis zu seinem Tod im Kloster Mater Ecclesiae (2013–2022) tätig war, gibt es keine Umkehrung der Positionen. Seine theologische Sichtweise wurde bereichert und vervollkommnet, aber der rote Faden blieb der Versuch, einen Mittelweg zu finden zwischen den Positionen der traditionellen Theologie, denen er nie anhing, und denen der radikalen Moderne, von denen er sich immer distanzierte. Was sich in Benedikts langem Leben verändert hat, sind nicht seine Ideen, sondern sein Urteil über die Lage der Kirche, insbesondere nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der 68er Revolution.
Josef Ratzinger war vom moralischen Zusammenbruch der westlichen Gesellschaft und der nachkonziliaren Kirche überrascht, ja geradezu traumatisiert. In seinem letzten Buch erinnert er sich:
„In mehreren Priesterseminaren wurden Homosexuellen-‚Clubs‘ gebildet, die mehr oder weniger offen agierten und das Klima in den Seminaren deutlich veränderten. In einem Priesterseminar in Süddeutschland lebten Priesteramtskandidaten und Kandidaten für das Laienamt des Pastoralreferenten zusammen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten waren die Seminaristen zusammen mit den verheirateten Pastoralreferenten zum Teil in Begleitung ihrer Ehefrauen und Kinder und in einigen Fällen auch ihrer Freundinnen“ (Was das Christentum ist, S. 149). In den Vereinigten Staaten „hatte ein Bischof, der zuvor Regens war, zugelassen, daß Seminaristen pornographische Filme gezeigt wurden, angeblich in der Absicht, sie dadurch zu befähigen, sich gegen ein dem Glauben zuwiderlaufendes Verhalten zu wehren“ (ebd., S. 150).
Als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst hätte Josef Ratzinger mit harter Hand eingreifen können, um dieses Phänomen zu unterbinden. Wenn dies nicht geschah, lag es dann nur daran, daß er immer eher ein Professor als ein Mann des Regierens blieb, oder eher an der Schwäche einer theologischen Position, die nicht in der Lage war, die Fehler des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Nachkonzilszeit zu erkennen?
Die neue, in den katholischen Seminaren und Universitäten verbreitete Moral ist das Ergebnis der Konstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils, eines Dokuments, das wie ein Manifest der „Bekehrung“ der Kirche zur modernen Welt erscheint. Aber wenn die Kirche darauf verzichtet, die Welt zu christianisieren, ist es fatalerweise die Welt, die die Kirche verweltlicht. Die Diskussion über die richtige Auslegung von Gaudium et spes ist wenig relevant, denn ein revolutionärer Prozeß kann nicht allein mit den Mitteln der Hermeneutik aufgehalten werden, ohne diesem Auflösungsprozeß ein Projekt der Rückeroberung und Re-Christianisierung der Gesellschaft entgegenzusetzen.
Die zehn Jahre des „emeritierten Papsttums“ von Joseph Ratzinger fielen mit den zehn Jahren des Pontifikats von Papst Franziskus zusammen, die durch das Apostolische Schreiben Amoris laetitia vom 19. März 2016, aber auch durch die Kontroversen, die es ausgelöst hat, geprägt wurden, darunter die Dubia vom 16. September 2016, die von vier bedeutenden Kardinälen (Walter Brandmüller, Raymond Burke, Carlo Caffarra, Joachim Meisner) unterzeichnet wurden, und die Correctio filialis vom 11. August 2017, die von über 200 Theologen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen unterschrieben wurde. Diese Dokumente, die aufgrund der theologischen und moralischen Bedeutung der behandelten Themen und der Autorität ihrer Verfasser in die Geschichte eingegangen sind, konnten von Papst Benedikt gar nicht ignoriert werden, aber in den Überlegungen seines Buches findet sich keine Spur davon. Vor allem hat der emeritierte Papst es nie für notwendig befunden, die tieferen Gründe für seinen Rücktritt vom Papstamt zu erläutern, und auch in seinem letzten Buch auf die Anmerkung beschränkt:
„Als ich am 11. Februar 2013 meinen Rücktritt vom Amt des Nachfolgers Petri bekanntgab, hatte ich keinerlei Plan, was ich in der neuen Situation tun würde. Ich war zu erschöpft, um weitere Arbeiten zu planen“ (ebd., S. 3).
Es scheint an der Zeit zu sein, der Suche nach verborgenen Hintergründen ein Ende zu setzen. Die Abdankung des Pontifex war nicht auf mysteriösen Druck zurückzuführen, sondern auf „körperliche und geistige Ermüdung“, wie Msgr. Gänswein detailreich auf den dem „historischen Amtsverzicht“ gewidmeten Seiten (Nichts als die Wahrheit, S. 191–230) erklärt. Diese Ermüdung war auch ein Eingeständnis der Ohnmacht angesichts einer moralischen Krise, die in Papst Franziskus‘ Amoris laetitia einen neuen Ausdruck finden sollte. In Amoris laetitia wird die Moral auf die historischen Umstände und die subjektiven Absichten der handelnden Menschen reduziert. Dieser Relativismus hat seinen primären Ursprung in der Abkehr von der Metaphysik, die auch dann erfolgt, wenn die traditionelle philosophische Kategorie der „Substanz“ durch die moderne Kategorie der „Beziehung“ ersetzt wird.
Papst Benedikt drückt es in seinem jüngsten Buch so aus:
„Im Laufe der Entwicklung des philosophischen Denkens und der Naturwissenschaften hat sich der Begriff der Substanz grundlegend verändert, ebenso wie die Vorstellung von dem, was im aristotelischen Denken mit ‚Akzidens‘ [das Zufällige] bezeichnet wurde. Der Begriff der Substanz, der zuvor auf jede in sich konsistente Realität angewandt worden war, wurde zunehmend auf das physikalisch Unfaßbare bezogen: auf das Molekül, das Atom und die Elementarteilchen, und heute wissen wir, daß auch sie keine letzte ‚Substanz‘ darstellen, sondern ein Beziehungsgefüge. Daraus hat sich eine neue Aufgabe für die christliche Philosophie ergeben. Die grundlegende Kategorie aller Wirklichkeit ist nicht mehr die Substanz, sondern die Beziehung. In dieser Hinsicht können wir Christen nur sagen, daß für unseren Glauben Gott selbst Beziehung ist, relatio subsistens“ (S. 135).
Benedikt hat recht, wenn er sagt, daß
„eine Gesellschaft, in der Gott abwesend ist – eine Gesellschaft, die ihn nicht mehr kennt und ihn behandelt, als gäbe es ihn nicht – eine Gesellschaft ist, die ihr Kriterium verliert. (…) Die westliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Gott im öffentlichen Raum abwesend ist und für die er nichts mehr zu sagen hat“ (S. 154).
Aber Gott ist keine Beziehung, er ist das vollkommenste Wesen, und daher das höchste Gut und die unendliche Wahrheit. Sein Eigenname ist Sein (Exodus 3,14). Alles kommt von Gott her und alles kehrt zu ihm zurück. Er, und nur Er, das Wesen schlechthin, kann die religiöse und moralische Krise unserer Zeit lösen.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Der Schlussabsatz ist mir zu uneindeutig. Durch Jesus Christus ist Gott in persönliche Beziehung zum Menschen getreten. Es ist diese persönliche Beziehung, aus der der Mensch Gott erkennen kann. Insofern hat die Beziehung zu Gott einen enormen Wert.