(Rom) Ein historisches Ereignis liegt zeitlich noch sehr nahe und scheint doch aus dem allgemeinen Bewußtsein verschwunden zu sein. Ende August 1968 verurteilte Papst Paul VI. den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei, mit dem der „Prager Frühling“ niedergeschlagen wurde.
Paul VI. bezeichnete den Einmarsch in seiner Verurteilung als einen „schweren Schlag gegen die internationale Ordnung“ und forderte dazu auf, „daß die Einsicht über jedes Motiv des Konflikts die Oberhand gewinne und daß der Frieden im bürgerlichen Zusammenleben der betroffenen Völker sichergestellt werden könne“. Das Kirchenoberhaupt stellte zugleich eine größere Summe zur Unterstützung tschechischer und slowakischer Flüchtlinge zur Verfügung, wie der Osservatore Romano berichtete.
Zugleich bat der Papst die Caritas und die internationalen katholischen Wohltätigkeitsorganisationen, den Flüchtlingen zu helfen.
Am 21. August, als der Einmarsch begann, befand sich Paul VI. gerade auf dem Weg nach Bogotá, um am Eucharistischen Weltkongreß teilzunehmen. Der Papst ließ wissen, daß er seinen Kolumbien-Besuch sofort unterbrechen würde: „Wir wären bereit, sofort auf Unsere Reise zu verzichten, wenn Wir wüßten, daß Unsere Anwesenheit und Unser Wirken irgendwie helfen könnten, um die Vergrößerung des Übels, das schon auf jener Uns immer lieben Nation ruht, zu verhindern“. Zudem sagte er in dieser ersten Stellungnahme:
„Und möge der Herr des Friedens, zu dessen Ehre Wir diese Reise unternehmen, Uns Seiner Barmherzigkeit teilwerden lassen und allen die ‚Ruhe der Ordnung‘ wiedergeben.“
Während seines Aufenthalts in Bogotá und nach seiner Rückkehr nach Castelgandolfo brachte er wiederholt seine Sorge um das Volk der Tschechoslowakei zum Ausdruck.
In seiner Ansprache am 1. September sagte Paul VI., die Anwesenheit von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei bedeute, „dem Leben eines Volkes einen fremden Willen“ aufzuerlegen. Das sei „ein schweres Vergehen gegen die Freiheit und die nationale Würde und eine Bedrohung für die Sicherheit anderer Nationen“.
Er bekräftigte seine „Solidarität mit den Leidenden“ und „die Notwendigkeit, mit neuer Energie die moralischen Grundsätze zu bekräftigen, die die Würde der menschlichen Person schützen müssen, auf die sich die sozialen und politischen Beziehungen gründen müssen.“
„Diejenigen, die unter der Gewalt leiden, und diejenigen, die hilflos zusehen“, so Paul VI. weiter, „erleben oft ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Verzweiflung, und dann wird die Zuflucht zum Gebet, besonders für uns Christen, logisch und zwingend“.
„Gott überläßt die menschlichen Ereignisse nicht einem verkehrten Schicksal. Möge Gott, der eines Tages der oberste Verteiler der Gerechtigkeit sein wird, diejenigen, die für das Schicksal der Völker verantwortlich sind, großzügig erleuchten, die Schwachen trösten und sie zu einem Volk von Propheten und Helden machen. Gott kann uns immer retten.“
Die Hintergründe
Die Ereignisse von 1968 platzten für den Vatikan mitten in seine neue „Ostpolitik“, die unter Johannes XXIII. begonnen und als „Lernprozeß“ gegenüber dem Kommunismus angesehen wurde. Was Papst Roncalli angestoßen hatte, war von Papst Montini systematisiert und rationalisiert worden. Die Geschichte der katholischen Kirche hinter dem Eisernen Vorhang ist eine Geschichte von Heldentum und Tragödie. Die Katholiken hatten die staatliche Macht gegen sich, deren sich die Kommunisten bedienten. Sie konnten sich ab den späten 50er Jahren aber auch nicht mehr der Unterstützung Roms sicher sein.
Von Anfang an waren für den Heiligen Stuhl einige Kernkonzepte des Kommunismus besonders problematisch wie „Atheismus“, „Revolution“, „Klassenkampf“ und die „Nichtanerkennung des Privateigentums“, die von den Päpsten seit dem 19. Jahrhundert entschieden verurteilt wurden, besonders von Pius IX. in der Enzyklika Qui pluribus und 1864 im Syllabus errorum sowie von Leo XIII. in Quod apostolici muneris (1878) und Pius XI. in Divini redemptoris (1937).
Während die im selben Jahr promulgierte Enzyklika Mit brennender Sorge gegen den Nationalsozialismus noch heute bekannt ist, weiß von der Enzyklika gegen den Kommunismus kaum mehr jemand. Das hat damit zu tun, daß die kommunistische Propaganda erfolgreich dabei half, das Augenmerk auf die erste zu konzentrieren, um die zweite vergessen zu lassen.
Pius XII., der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Enzyklika Kardinalstaatssekretär war, hielt entschieden an der antikommunistischen Haltung des Vatikans fest, doch unter seinem Nachfolger Johannes XXIII. änderte sich seit 1958 die Außenpolitik des Heiligen Stuhls. Nun setzte man im Zeichen des „Friedens“ auf eine „Normalisierung“ der Beziehungen, um den rund 60 Millionen Katholiken unter kommunistischer Herrschaft ein religiösen Leben zu ermöglichen. Paul VI. sagte es 1965, am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, warum sich diese Kirchenversammlung nicht zum Kommunismus äußerte, obwohl dies im Vorfeld von vielen Bischöfe gewünscht worden war:
„(…) um nicht größeres Übel zu provozieren. (…) Bereit auch, in die Gegenwart und Zukunft zu schauen und nicht auf die jüngste schmerzliche Vergangenheit, wo immer er wirksamen Zeichen guten Willens begegnet“.
Moskau hat durch seine Agitprop-Abteilungen den „Lernprozeß“ des Vatikans im Umgang mit dem Kommunismus unterstützt. Inwieweit er sogar gelenkt wurde, harrt noch der Aufarbeitung. Dazu gehörte 1963 als Meisterstück die Veröffentlichung von Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“, mit dem Papst Pius XII. auf niederträchtige Weise diskreditiert wurde, indem ihm Versagen bei der Verteidigung der Juden vor der nationalsozialistischen „Endlösung“ unterstellt wurde. In Wirklichkeit ging es darum, das Ansehen der moralisch integersten antikommunistischen Gestalt der Welt und den von ihr vertretenen Antikommunismus zu zertrümmern.
Die Neuausrichtung
Die Wahl von Johannes XXIII. bedeutete einen Paradigmenwechsel, darunter auch die Abkehr vom offenen Antikommunismus. Die von ihm begonnene neue „Ostpolitik“ war ein enormer Etappensieg für die UdSSR. Die Entscheidung, das Zweite Vatikanische Konzil nicht über den Kommunismus sprechen zu lassen, war von strategischer Natur und entsprach exakt den Wünschen Moskaus. Eine Verurteilung des Kommunismus wie 1937 sollte es nicht mehr geben. An dieser Abkehr vom Antikommunismus hielt der seit 1963 regierende Paul VI. eisern fest und ermöglichte damit eine weitgehend ungehinderte Ausbreitung marxistischer Ideen bzw. von mehr oder weniger intensiven Versuchen einer Vereinigung von Sozialismus und Christentum in der Kirche. Die Kräfte, die mit der politischen Linken sympathisierten befanden sich in offenem Vormarsch, während die offizielle kirchliche Linie, die bis 1958 gegolten hatte, an allen Fronten in die Defensive gedrängt wurde.
Sowjetischen Berichten ist zu entnehmen, daß man 1968 in Moskau sehr genau registrierte, zum Beispiel durch seine Agenten bei der vierten Vollversammlung des Weltkirchenrates, die im Sommer in Uppsala in Schweden stattfand, daß der Vatikan im Vorfeld des Einmarsches in die Tschechoslowakei auf diplomatischer Ebene „passiv“ blieb. Das entsprach nicht der Haltung der Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang, auch nicht jenen in der Tschechoslowakei, obwohl oder gerade weil dort die antikirchlichen Maßnahmen nach der kommunistischen Machtergreifung besonders scharf waren. Die tschechischen und slowakischen Katholiken unterstützten den „Prager Frühling“, während Rom sich von diesem fernhielt.
Auf scharfe Proteste verzichtete Paul VI. auch nach dem Einmarsch der Sowjettruppen. Er konzentrierte sich auf Friedensappelle und Worte der Unterstützung für die tschechischen und slowakischen Katholiken. Dabei vermied er es, die Aggressoren, allen voran die UdSSR und andere Staaten des Warschauer Paktes, beim Namen zu nennen. Die kommunistischen „Bruderstaaten“, darunter das ZK der SED, beobachteten in der Tschechoslowakei „Versuche der Renaissance der katholischen Kirche, denen begegnet werden müsse“. Moskau unterstellte dem Vatikan, die Unierten in der Ukraine aufzuhetzen. Der Ostblock war bestrebt, vielleicht auch besorgt, den Konflikt nicht auf andere Ostblockstaaten übergreifen zu lassen.
Während der Vatikan zauderte, erhoben Kardinäle wie der unierte Ukrainer Slipyj und der Ungar Mindszenty ihre Stimme mit Deutlichkeit, um den Kommunismus zu verurteilen. Das war auch der Grund, weshalb diese Kirchenmänner von der offiziellen vatikanischen Außenpolitik nicht nur ferngehalten, sondern ausgegrenzt wurden. Kardinal Slipyj, der 18 Jahre in kommunistischen Lagern gefangengehalten worden war, beklagte, daß die ukrainischen Katholiken „keine Verteidiger“ hätten.
Wurde dem Vatikan diese Haltung gedankt? Als die sowjetischen Panzer durch Prag rollten, wurde von sowjetischen Journalisten eine Art „Weißbuch“ zum Prager Frühling veröffentlicht. Darin wurde der Vatikan unter den „konterrevolutionären Kräften des Weltimperialismus“ genannt.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
Gerade fällt mir ein, daß unser Versagen hauptsächlich darin besteht, daß wir ideologischem, ausgesprochen menschenfeindlichen ‑Blödsinn nicht sehr energisch widersprechen. Wir müssen uns den Ehrentitel Reaktionär endlich redlich verdienen.