
Von Abbé Jean-Marie Perrot*
Einer der Nebengründe für die Irritation, die das Motu proprio Traditionis custodes und die Antwort der Gottesdienstkongregation auf die darauf folgenden Dubia ausgelöst haben, besteht in der Symmetrie, die sie zwischen der überlieferten Liturgie einerseits und dem liturgischen Mißbrauch im Novus Ordo andererseits herstellen. Das bedeutet zunächst einmal, daß der Vetus Ordo selbst auf den gering geschätzten Rang eines Mißbrauchs der lex orandi herabgestuft wird. Das ist verständlich, wenn man mit Art. 1 von Traditionis custodes akzeptiert, daß er kein Ausdruck derselben ist.
Der zweite Grund für die Irritation besteht darin, daß das Anprangern liturgischer Mißbräuche bei der Feier der Sakramente, vor allem der Messe, nach den von Paul VI. herausgegebenen liturgischen Büchern seit ihrer Verkündigung ein ungelöster und wie es scheint, unlösbarer Topos ist. Dies bringt die dem usus antiquior verbundenen Gläubigen heute wie damals in eine unlösbare Situation. In der Tat, so wird argumentiert, rührt die Verbundenheit mit der alten Liturgie in vielen Fällen daher, daß „das neue Missale vielerorts nicht seiner Ordnung getreu gefeiert, sondern geradezu als eine Ermächtigung oder gar als Verpflichtung zur ‚Kreativität‘ aufgefaßt wurde, die oft zu kaum erträglichen Entstellungen der Liturgie führte“ (Begleitbrief zu Traditionis custodes, der Benedikt XVI. zitiert). Aufgrund eines Mangels oder aus Trotz wäre man beim alten Missale geblieben oder zu ihm zurückgekehrt. Das aber verwundert, denn wie oft wurden skandalöse Situationen mit Hilfe von Pädagogik, Ermahnungen … oder angemessenen Strafen gelöst! Es ist in der Tat merkwürdig, daß sich ein Papst gut 50 Jahre nach der Liturgiereform und nachdem jeder seiner Vorgänger bereits ähnliche Aussagen gemacht hatte, auf diese Weise beklagen kann. Wie kann man also im Rahmen eines solchen Arguments dem alten Meßbuch vorwerfen, daß es weiter existiert? Und vor allem, da das Heil der Seelen an erster Stelle stehen muß: Wie kann man es wagen, den Gläubigen ihr Recht vorzuenthalten, sich an den für ihr Heil sichersten Ort zu begeben, und zwar durch seine herausragenden Mittel, nämlich die Sakramente, wenn – wagen wir es auszusprechen – nichts getan wird, außer wiederholten Erklärungen, um die angeprangerte Situation zu beheben?
Ein halbes Jahrhundert vergebliches Anprangern liturgischer Mißstände
Die Liste dieser feierlichen und entschlossenen Erklärungen der römischen Päpste gegen Mißbräuche ist in der Tat lang. Schon Paul VI. warnte am 19. April 1967 in einer Ansprache an das Consilium [zur Ausarbeitung der Liturgiereform] vor „willkürlichen Formen“ und „extravaganten Experimenten“. Johannes Paul II. vervielfachte die Appelle und Ordnungsrufe:
Das Schreiben Dominicæ Cenæ (24. Februar 1980): „Diese Unterordnung des zelebrierenden Priesters unter das „Mysterium“, das ihm von der Kirche zum Wohl des ganzen Volkes Gottes anvertraut ist, muß auch in der Beachtung der liturgischen Vorschriften für die Feier des heiligen Opfers zum Ausdruck kommen. Diese Vorschriften betreffen z. B. die Kleidung und besonders die Paramente, welche der Zelebrant trägt. (…) Zum Abschluß dieser meiner Überlegungen möchte ich in meinem eigenen Namen und im Namen von euch allen, verehrte, liebe Brüder im Bischofsamt, für alles das um Verzeihung bitten, was – aus welchem Grund auch immer, aus irgendwelcher menschlichen Schwäche, Ungeduld und Nachlässigkeit, auch infolge einer nur teilweisen, einseitigen oder irrigen Anwendung der Vorschriften des II. Vatikanischen Konzils – Ärgernis und Unbehagen bezüglich der Interpretation der Lehre und der Verehrung, die diesem großen Sakrament gebührt, verursacht haben könnte.“
Das Schreiben Vicesimus quintus annus (4. Dezember 1988).
Die Enzyklika Ecclesia de Eucharistia (17. April 2003).
Auf diesen letzten Text folgte auf Wunsch des Papstes ein langes und sehr detailliertes Dokument der Gottesdienstkongregation, die Instruktion Redemptionis Sacramentum über einige Dinge, die bei der heiligsten Eucharistie zu beachten und zu vermeiden sind“ (25. März 2004). In der Präambel wurde darauf hingewiesen, daß die Arbeiten in Zusammenarbeit mit der Glaubenskongregation durchgeführt wurden; und in derselben Präambel wurde nachdrücklich bekräftigt:
„So kann man nicht verschweigen, daß es Mißbräuche, auch sehr schwerwiegender Art, gegen das Wesen der Liturgie und der Sakramente sowie gegen die Tradition und die Autorität der Kirche gibt, die den liturgischen Feiern heute in dem einen oder anderen kirchlichen Umfeld nicht selten schaden. An einigen Orten sind mißbräuchliche Praktiken in der Liturgie zur Gewohnheit geworden. Es ist klar, daß dies nicht zugelassen werden kann und aufhören muß“ (Nr. 4).
Benedikt XVI. stand da nicht zurück in seinem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), das sich auf die XI. Generalversammlung der Bischofssynode bezog, die im Oktober 2005 zum Thema Eucharistie tagte, und sich für eine ars celebrandi aussprach, die den Sinn für das Heilige durch „die Verwendung äußerer Formen, die zu einem solchen Sinn erziehen (…)“ fördert (Nr. 40). Alles in allem hielt sich der Papst, wenn es um Mißbrauch ging, aber zurück. Der Begriff taucht nur zweimal im Text auf. Zweifellos war er, der zum Zeitpunkt der Abfassung der vorgenannten Instruktion Präfekt der Glaubenskongregation war, – zu Unrecht – der Meinung, daß sie ausreichend sei. In seiner intellektuellen Liebenswürdigkeit machte er zudem Unwissenheit für die Abweichungen verantwortlich: „In den kirchlichen Gemeinschaften setzt man deren Kenntnis und rechte Wertschätzung wahrscheinlich voraus, doch oft zu Unrecht“ (ebd.). Es gibt aber, wenn man mir diese Anmerkung erlaubt, auch eine schuldhafte Unwissenheit …
Das neue Meßbuch: „ein Missale-Weg, pluralistisch, indikativ und fakultativ“
Es wurde, wir ahnen es, nichts oder nur sehr wenig getan, oder ohne große Wirksamkeit. Jedenfalls wurde von Benedikt XVI. in seinem Begleitbrief an die Bischöfe zum Motu proprio Summorum Pontificum, erneut darauf hingewiesen:
„Viele Menschen, die klar die Verbindlichkeit des II. Vaticanums annahmen und treu zum Papst und zu den Bischöfen standen, sehnten sich doch auch nach der ihnen vertrauten Gestalt der heiligen Liturgie, zumal das neue Missale vielerorts nicht seiner Ordnung getreu gefeiert, sondern geradezu als eine Ermächtigung oder gar als Verpflichtung zur ‚Kreativität‘ aufgefaßt wurde, die oft zu kaum erträglichen Entstellungen der Liturgie führte. Ich spreche aus Erfahrung, da ich diese Phase in all ihren Erwartungen und Verwirrungen miterlebt habe. Und ich habe gesehen, wie tief Menschen, die ganz im Glauben der Kirche verwurzelt waren, durch die eigenmächtigen Entstellungen der Liturgie verletzt wurden.“
Vierzehn Jahre später, als Franziskus glaubte, das Scheitern des „Experiments Summorum Pontificum“ beurteilen zu können, machte er gleichzeitig, wie eingangs erwähnt, die gleiche Feststellung über eine Liturgiereform, die auf Dauer durch schweren und unerträglichen Mißbrauch „an vielen Stellen“ beeinträchtigt wurde.
Damit sind wir zurück bei der in Traditionis custodes enthaltenen Anklage gegen den Vetus Ordo und die mit ihm verbundenen Personen. Was können wir letztlich dazu sagen? Entweder ist die symmetrische Anklage rein formal, rhetorisch, was einen Zweig betrifft (den des Missale Pauls VI.), weil es gar keine Absicht gibt, anzutasten, was man vorgibt zu beklagen: Dann ist die gesamte Argumentation unredlich. Oder aber, und das ist die andere Möglichkeit, die Ehrlichkeit ist echt, bei Franziskus und bei seinen Vorgängern, was aber bedeutet, worauf hinzuweisen ist, daß die Bewegung in Richtung Mißbrauch unaufhaltsam zu sein scheint, und das wirft eine knallharte Frage auf: Bescheinigt das nicht in Wirklichkeit, daß der Novus Ordo gescheitert ist?
Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben auf die Stärke des modernen Individualismus hingewiesen, der durch ein Mißtrauen gegenüber der Objektivität von Normen und eine Überbewertung der subjektiven Dimension gekennzeichnet ist. Und alle drei weisen auf diese Schwäche bei einigen Akteuren der Liturgie hin. Aber keiner von ihnen überprüfte die Liturgie als solche. Nun scheint es uns aber, daß die Frage gestellt werden muß: Gibt es nicht in den Normen der neuen liturgischen Bücher selbst Mängel, die zwar nicht ausdrücklich zu Mißbrauch ermutigen, aber den Begriff des Mißbrauchs vage und unscharf machen und damit die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen? In Anbetracht der beschriebenen Situation scheint die angemessenste Definition von Mißbrauch die folgende zu sein: „Ergebnis der mißbräuchlichen Handlung; durch Gewohnheit eingeführtes und verfestigtes Unrecht“ (Trésor de la Langue Française). Es reicht nicht aus, von gelegentlichen schlechten Praktiken zu sprechen. Es muß auch der wiederkehrende, fast schon gewöhnliche, akzeptierte oder sogar befürwortete Charakter dieses Phänomens angesprochen werden. Darauf weist das Wort „Gewohnheit“ hin. Die Verantwortung auf bestimmte Einzelpersonen oder Gemeinschaften zu schieben ist sehr voreilig und wagt es nicht, sich mit der Besonderheit der liturgischen Bücher auseinanderzusetzen. Ein Zitat soll in dieser Hinsicht einige Wege aufzeigen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. In einem Werk, das Summorum Pontificum vorausging, schrieb Pater François Cassingena-Trévedy über den Vetus Ordo: „ein Missale-Spiegel … vollständig … normativ und präzeptiv … eine Missale-Form … katholisch … Missale der Gegenwart“. Und über den Novus Ordo: „ein Missale-Weg … pluralistisch … indikativ und fakultativ … ein Missale-Raum … katholisch (und) zusätzlich ökumenisch … ein Missale der Philanthropie“.1 Einerseits eine „ ‚absolute‘ Liturgie … der Himmel auf Erden“, auf der anderen Seite eine „ ‚relative‘ Liturgie… der Himmel für die Erde“. Ist es ein Wortspiel, wenn man davor warnt, daß in unserer Zeit das Relative zum Relativismus führen kann oder zumindest dazu, sich damit abzufinden?
Eine letzte Bemerkung ist angebracht: Die Motuproprien Ecclesia Dei afflicta und Summorum Pontificum – vor allem das letztere – bewahrten eine Verbindung zwischen den beiden Meßbüchern, deren eine Dimension sicherlich darin bestand, daß das neue Meßbuch von der traditionellen Stabilität des alten Meßbuches profitieren sollte. Einige erkannten das und füllten die Lücken in den Normen des Novus Ordo mit den Vorschriften oder Bräuchen des Vetus Ordo. Durch seine Radikalität macht Traditionis custodes eine solche Integration unmöglich. Dann bezweifeln wir, daß die „volle, bewußte und tätige Teilnahme des ganzen Volkes Gottes an der Liturgie“, wie es in dem Begleitschreiben heißt, etwas anderes sein kann als der Deckmantel der Kreativität.
*Abbé Jean-Marie Perrot ist das Pseudonym eines französischen Priesters, der in den Res Novae – Perspectives romaines von Abbé Claude Barthe publiziert.

Das Pseudonym ist dem bretonischen Priester Yann Vari Perrot (fr. Jean-Marie Perrot) entlehnt. Perrot 1877 in Plouarzhel (fr. Plouarzel) geboren, setzte sich mit der von ihm gegründeten katholischen Zeitschrift Feiz ha Breiz (Glaube und Bretagne) und der Bewegung Bleun Brug (Heideblume) für die Bewahrung der bretonischen Sprache und katholischen Traditionen ein. Am 12. Dezember 1943 wurde er in seiner Pfarrei Skrigneg (fr. Scrignac), einer Hochburg der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), von Partisanen ermordet. Die Kommunisten warfen ihm eine deutschfreundliche Haltung vor. Teile der bretonischen Nationalbewegung erhofften sich im Zuge der Neuordnung Europas unter deutscher Führung eine unabhängige Bretagne. Hauptgrund seiner Ermordung war jedoch die ideologische Feindschaft gegen den katholischen Priester und die Beseitigung eines Konkurrenten um den Einfluß in der Bretagne. Sein Mörder blieb nach dem Krieg unbehelligt und wurde mit der Médaille de la Résistance ausgezeichnet.
Erstveröffentlichung: Res Novae
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: LMS/Wikicommons
1 François Cassingena-Trévedy: Te igitur, Ad Solem, Genève, 2007, S. 87, 94.
Papst Paul VI. wollte eine neue Liturgie, so hat er den NOM geschaffen. Papst Benedikt ist im Irrtum wenn er dabei von einem revidierten Ritus spricht, dieser war und ist neu.
Liturgische experimente sind vom Konzil sogar ausdrücklich erwünscht.
Es war die Affinität zu ecclesia dei die Papst Benedikt sein Moto proprio verfassen ließ. Er selbst hat nie die überlieferte Messe öffentlich gefeiert.
Der Erzbischof schildert Kardinal Ratzingers Einstellung zu Konzil und Liturgie glasklar und eindeutig.
Die Romantik die jetzt laut wird ist nicht richtig