„El pueblo“ (das Volk) in der Enzyklika Fratelli tutti

Antipopulistische und linkspopulistische Globalisten


Loris Zanatta, Globalisten gegen Globalisten.
Loris Zanatta, Globalisten gegen Globalisten.

(Rom) Nicht gera­de von gewohn­ter Sei­te erfährt Papst Fran­zis­kus Kri­tik an sei­ner jüng­sten Enzy­kli­ka Fra­tel­li tut­ti. Die Kri­tik kommt von glo­ba­li­sti­scher Sei­te und rich­tet sich gegen den päpst­li­chen Popu­lis­mus. Ein Irr­tum? Ver­tritt Fran­zis­kus in der Enzy­kli­ka nicht selbst die glo­ba­li­sti­sche Agen­da? Und kri­ti­siert er dar­in nicht gera­de und aus­führ­lich den Populismus?

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Die Kri­tik bie­tet eine Bin­nen­an­sicht und spie­gelt einen Kon­flikt zwi­schen anti­po­pu­li­sti­schen und links­po­pu­li­sti­schen Glo­ba­li­sten wider. Als Kri­ti­ker des Volks­be­griffs von Papst Fran­zis­kus tritt seit 2017 beson­ders Loris Zan­a­t­ta, Pro­fes­sor der Geschich­te Latein­ame­ri­kas an der Uni­ver­si­tät Bolo­gna, her­vor. Er wirft dem Papst vor, „ein typi­scher Ver­tre­ter des latein­ame­ri­ka­ni­schen Popu­lis­mus“ zu sein. 2019 leg­te Zan­a­t­ta ein Buch über den „Popu­lis­mus der Jesui­ten“ vor, in dem er „Peron, Fidel, Berg­o­glio“ in einem Atem­zug nennt.

In der Sams­tag-Aus­ga­be der argen­ti­ni­schen Tages­zei­tung La Naci­on unter­zog Zan­a­t­ta die neue Enzy­kli­ka Fra­tel­li tut­ti einer Ana­ly­se. Gan­ze 58 Mal, so der Histo­ri­ker, erwähnt Fran­zis­kus in dem Lehr­schrei­ben das „Volk“. Das geschieht, erneut im bereits frü­her erwähn­ten Kon­text, daß das „Volk“ mehr sei als die Sum­me der Individuen.

Von ver­schie­de­ner Sei­te wur­de der Volks­be­griff von Fran­zis­kus dis­ku­tiert und oft mit einem Fra­ge­zei­chen ver­se­hen, weil sei­ne Defi­ni­ti­on nebu­lös bleibt, beson­ders dort, wo er von einem „mysti­schen Volk“ spricht oder das Volk als „Volk der Armen“ definiert.

In sei­ner aktu­el­len Ana­ly­se meint Zan­a­t­ta, daß Erne­sto Laclau, der „Vater des (Links-)Populismus“ es nicht bes­ser sagen hät­te kön­nen. Der 2014 ver­stor­be­ne Laclau war Argen­ti­ni­er wie Papst Fran­zis­kus. Er lehr­te Poli­ti­sche Theo­rie an der Uni­ver­si­tät Essex in Eng­land und war ein füh­ren­der Theo­re­ti­ker des Post­mar­xis­mus, einer jün­ge­ren Spiel­art des Mar­xis­mus. Laclau gilt den argen­ti­ni­schen Pero­ni­sten und vene­zo­la­ni­schen Cha­vi­sten als „Säu­len­hei­li­ger“ und den Anhän­gern von Pode­mos in Spa­ni­en als Totem, so Zan­a­t­ta. Fran­zis­kus habe mehr der „teo­lo­gía del pue­blo“, der Volks­theo­lo­gie, zu ver­dan­ken als die­se ihm.

Fran­zis­kus unter­schei­de in der Enzy­kli­ka zwi­schen Popu­la­ris­mus und Popu­lis­mus, was aber nur ein Griff in die wort­spie­le­ri­sche Trick­ki­ste sei. Der Papst sage es nicht offen, mei­ne aber, daß Trump, Bol­so­n­a­ro, Le Pen und Sal­vi­ni Popu­li­sten, hin­ge­gen Peron, Cha­vez, Mora­les und Igle­si­as (Vor­sit­zen­der von Pode­mos) Popu­la­ri­sten sei­en. Um sich vor bestimm­ter Kri­tik zu schüt­zen, beken­ne sich Fran­zis­kus zu Grund­sät­zen, die jeder „Libe­ra­le“ unter­schrei­ben wür­de: zu einer „plu­ra­li­sti­schen“ Gesell­schaft, zu einem ver­nunft­be­zo­ge­nen Dis­kurs, zu Sozi­al­lei­stun­gen als Über­gangs­hil­fen und zu einem „offe­nen“ Volk.

Den­noch miß­traut Zan­a­t­ta dem Volks­be­griff des Pap­stes, weil dem Histo­ri­ker das Volk grund­sätz­lich suspekt ist und damit jede Beru­fung dar­auf. In beson­de­rer Wei­se stößt er sich am „orga­ni­schen“ Volks­ver­ständ­nis von Fran­zis­kus, da er dar­in einen „iden­ti­tä­ren“ Volks­be­griff zu erken­nen ver­meint, wie er libe­ra­len Glo­ba­li­sten ein Greu­el ist. Jede Form des mehr­heits­fä­hi­gen oder nach objek­ti­ven Kri­te­ri­en defi­nier­ten Volks­be­griffs gilt Glo­ba­li­sten als zu til­gen­der Rest einer zu über­win­den­den Epo­che. Im Span­nungs­feld von Kol­lek­tiv- und Indi­vi­du­al­rech­ten sei­en erste­re stets zu bekämp­fen und allein letz­te­re akzep­ta­bel. In West­eu­ro­pa ist die Nach­kriegs­zeit von die­sem Kon­flikt bestimmt, der seit 1968 zugun­sten der Indi­vi­du­al­rech­te ent­schie­den scheint.

Bei der Ableh­nung des Vol­kes als eth­ni­scher, sprach­li­cher, kul­tu­rel­ler, histo­ri­scher und auch reli­giö­ser Gemein­schaft schwingt, wie auch bei Zan­a­t­ta hör­bar, eine Abnei­gung mit, die sich mit Angst paart. Es geht um jene Angst, daß nicht frei orga­ni­sier­te Grup­pen, son­dern auf­grund nicht beein­fluß­ba­rer, äuße­rer Umstän­de geform­te Grup­pen, also kein Kol­lek­tiv, son­dern (Grup­pen) mit einer über das Indi­vi­du­um hin­aus­ge­hen­den Grup­pen­iden­ti­tät, eine Bedro­hung der Indi­vi­du­al­rech­te und mehr noch der Herr­schafts­struk­tu­ren seien.

Zan­a­t­ta unter­stell­te Fran­zis­kus im Juni 2018, einen Volks­be­griff zu ver­tre­ten, der „für die Demo­kra­tie gefähr­lich“ sei, denn die „Sakra­li­sie­rung“ des Vol­kes „ver­wan­delt die poli­ti­sche Dia­lek­tik der Demo­kra­tien in einen Reli­gi­ons­krieg der Popu­lis­men“. Es kom­me zu einem „nicht sanier­ba­ren Bruch zwi­schen From­men und Häre­ti­kern, zwi­schen Volk und Anti-Volk.“ So wie jedes iden­ti­tä­re Ver­ständ­nis von „wir“ unwei­ger­lich auch ein „sie“ erzeu­ge, füh­re jeder Anspruch auf Homo­ge­ni­tät zu Bru­der­kämp­fen. Wie kön­ne Fran­zis­kus das nicht sehen, so Zan­a­t­tas Frage.

Ent­spre­chend vehe­ment wider­spricht der Histo­ri­ker, wenn Papst Fran­zis­kus in Fra­tel­li tut­ti (Nr. 157) die „Legi­ti­mi­tät des Volks­be­griffs“ ver­tei­digt – übri­gens gegen den (Rechts-)Populismus. Der Histo­ri­ker stößt sich vor allem an fol­gen­dem dar­in ent­hal­te­nen Satz: 

„Der Ver­such, die­se Kate­go­rie aus dem Sprach­ge­brauch ver­schwin­den zu las­sen, könn­te dazu füh­ren, das Wort ‚Demo­kra­tie‘ – näm­lich die ‚Herr­schaft des Vol­kes‘ – selbst auszulöschen“. 

Das genaue Gegen­teil sei wahr, so Zan­a­t­ta, denn es gebe kei­nen Tota­li­ta­ris­mus, der den Begriff Volk nicht miß­braucht hätte.

Ähn­li­che Kri­tik an der Enzy­kli­ka äußer­te Zan­a­t­ta am sel­ben Tag in der ita­lie­ni­schen Tages­zei­tung Il Foglio, die sich mit Nach­druck für die nicht ver­han­del­ba­ren Wer­te ein­setzt, wie sie von Papst Bene­dikt XVI. defi­niert wur­den, aber seit dem Wech­sel der Eigen­tü­mer und an der Redak­ti­ons­spit­ze ihre glo­ba­li­sti­sche Posi­tio­nie­rung akzen­tu­ier­ter zur Schau trägt.

Zan­a­t­ta und Il Foglio sto­ßen sich nicht am evi­den­ten Links­po­pu­lis­mus, den Papst Fran­zis­kus ver­tritt, son­dern an der Beru­fung auf das Volk ins­ge­samt. Das Volk wird durch Bevöl­ke­rung ersetzt, die tat­säch­lich nur als Sum­me von belie­bi­gen Indi­vi­du­en, die sich zufäl­lig an einem belie­bi­gen Ort auf­hal­ten, ver­stan­den wer­den soll. Die Über­win­dung des Vol­kes wird als Grund­vor­aus­set­zung zur Über­win­dung der Natio­nal­staa­ten gesehen.

Papst Fran­zis­kus wider­spricht die­sen glo­ba­li­sti­schen Zie­len nicht, setzt dem Indi­vi­dua­lis­mus jedoch ein im latein­ame­ri­ka­ni­schen Kon­text geform­tes Volks­ver­ständ­nis ent­ge­gen: Der Herr­schaft der Weni­gen stellt er das Volk gegen­über. Die Schwä­che im päpst­li­chen Den­ken sind die grund­sätz­li­che Akzep­tanz des Glo­ba­lis­mus, der ledig­lich in sei­nen Aus­wir­kun­gen kor­ri­giert wer­den soll, und die star­ken Anlei­hen beim mar­xi­sti­schen Denken.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: You­tube (Screen­shot)

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