(Rom) Am 15. September titelte die französischsprachige Presseagentur I.Media: „Der Heilige Stuhl lehnt die Marienerscheinungen von Ida Peerdeman ab”, die besser als „Die Frau aller Völker” bekannt sind. Was hat es damit auf sich?
I.Media berichtete:
„Die Amsterdamer Erscheinungen sind falsch. Die ‚Frau aller Völker’ darf nicht verehrt werden, und die Gläubigen müssen jede Propaganda einstellen“, sagte die Kongregation für die Glaubenslehre in einem Brief vom 20. Juli 2020, der gerade veröffentlicht wurde. Nach Jahrzehnten der Kontroverse wurden die 56 angeblichen Erscheinungen der Jungfrau Maria an Ida Peerdeman vom Heiligen Stuhl offiziell abgelehnt.”
Der Artikel von I.Media wurde wörtlich von Aleteia (französische Ausgabe) übernommen. Nicht im Original veröffentlicht wurde die erwähnte Stellungnahme der Glaubenskongregation.
David Murgias „Schockdokument des Vatikans“
Grundlage des I.Media-Artikels ist ein Beitrag vom 28. August von David Murgia auf seinem Blog Il Segno di Giona. Von Murgia, einem römischen Journalisten, stammt auch die reißerische Schlagzeile: „Die Erscheinungen von Amsterdam sind falsch” und die Bezeichnung als „Schockdokument des Vatikans”.
Murgia unterhält beste Kontakte zu einigen Teilen des Vatikans. Er ist Mitarbeiter von TV2000, dem Fernsehsender der Italienischen Bischofskonferenz, und Mitglied der Internationalen Beobachtungsstelle zu Erscheinungen und mystischen Phänomen, die bei der Pontificia Academia Mariana Internationalis (PAMI), der Internationalen Marianischen Päpstlichen Akademie, angesiedelt ist.
Das angebliche „Schockdokument des Vatikans”, auf das alle drei Artikel verweisen, wird auch von Murgia nicht veröffentlicht. Er publizierte dafür ein Schreiben der Apostolischen Nuntiatur im Libanon an Kardinal Béchara Pierre Raï, den Maronitischen Patriarchen von Antiochien und des ganzen Orients.
Dieses Schreiben ist mit 20. Juli datiert und vom Apostolischen Nuntius Msgr. Joseph Spiteri unterzeichnet. Darin findet sich die unter Anführungszeichen gesetzte, also vermeintlich zitierte Hauptaussage der genannten Artikel, „Die Amsterdamer Erscheinungen sind falsch”, aber gar nicht.
Der Blogger und Journalist Murgia ist für einen etwas marktschreierischen Ton im Zusammenhang mit paranormalen Phänomenen bekannt, auf die er spezialisiert ist. Wie genau sich das und noch anderes mit seiner Mitgliedschaft in der Internationalen Marianischen Päpstlichen Akademie verträgt, sei dahingestellt.
Die Marienerscheinungen von Amsterdam
Im konkreten Fall lenkt er das Augenmerk auf Privatoffenbarungen, die vom 25. März 1945 bis 31. Mai 1959 in Amsterdam an Ida Peerdeman stattfanden. Die Holländerin, die 1996 hochbetagt gestorben ist, war am Beginn der Erscheinungen 39 Jahre alt. Die erste Erscheinung erfolgte in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Am 25. März, dem Fest Mariä Verkündigung, erschien ihr, laut ihrer Schilderung, in Anwesenheit ihrer Schwestern und ihres Beichtvaters, P. Joseph Frehe OP (1896–1967), Maria, die sich als „Frau, Mutter aller Völker” vorstellte. Kern der Erscheinungen ist der Wunsch nach einem neuen marianischen Dogma von Maria als der Miterlöserin, Mittlerin und Fürsprecherin.
An dieser Stelle soll nicht weiter auf die Erscheinungen von Amsterdam eingegangen werden, sondern auf die bisherigen Entscheidungen der Kirche zu diesem Phänomen.
Nuntius Spiteri, ein Malteser, der seit 2018 im Libanon tätig ist, antwortete am 20. Juli auf eine entsprechende Anfrage des Patriarchen bezüglich der „offiziellen Position der Kirche zur Verehrung der Jungfrau Maria als ‚Frau aller Völker’”.
Der Nuntius bat die Glaubenskongregation um entsprechende „Klärungen”: Diese habe auf die am 25. Mai 1974 veröffentlichte Notifikation verwiesen und „präzisiert”, daß diese „immer noch gültig” sei. Darin wurde das Urteil des Haarlemer Bischofs bestätigt. Die Kongregation stellte nach „noch tieferer Prüfung” und mit Billigung von Paul VI. fest, daß die „Übernatürlichkeit der Erscheinungen nicht feststeht“. Bereits 1956 hatte der zuständige Ortsbischof von Haarlem, Msgr. Johannes Petrus Huibers, ein „non constat de supernaturalitate” ausgesprochen, also erklärt, daß „die Übernatürlichkeit nicht feststeht”. Das war eine Bewertung, die zwar negativ, aber abwartend war. Ein eindeutig negatives Urteil hätte lauten müssen: „constat de non supernaturalitate“ („die Nicht-Übernatürlichkeit steht fest“). Ein solches hatte die von ihm zur Untersuchung eingesetzte Kommission empfohlen, die vom späteren Kardinal Johannes Willebrands geleitet wurde.
Zugleich untersagte er „die öffentliche Verehrung des Bildes der ‚Frau aller Völker’ sowie die Verbreitung von Schriften, die die genannten Erscheinungen und Offenbarungen als übernatürlichen Ursprungs hinstellten”.
Die dritte kirchlich gebrauchte Bewertung für die Übernatürlichkeit von Phänomenen sei der Vollständigkeit halber auch erwähnt: Sie lautete damals und auch heute „constat de supernaturalitate”, also die Aussage, daß „die Übernatürlichkeit feststeht”.
Die Glaubenskongregation (damals noch als Heiliges Offizium) bescheinigte 1957 die „Klugheit” des Bischofs von Haarlem und „billigte” seine Maßnahmen. Nach „noch tieferer Prüfung” bestätigte sie 1974, daß das vom Bischof „ausgesprochene Urteil begründet ist”. Deshalb forderte sie „Priester und Laien” auf, „jede Propaganda für die angeblichen Erscheinungen und Offenbarungen der ‚Frau aller Völker’ zu unterlassen, und ermahnt alle, ihre Verehrung für die heiligste Jungfrau, Königin der Welt, in den von der Kirche anerkannten und empfohlenen Formen zum Ausdruck zu bringen”.
Der Nuntius schrieb dem Patriarchen zudem, daß die Glaubenskongregation „der Meinung ist, daß es sich nicht ziemt, zur Verbreitung der Verehrung Mariens als ‚Frau aller Völker’ beizutragen”
Ist damit alles geklärt? Keineswegs.
Das Urteil der Kirche über die Übernatürlichkeit von Phänomenen konnte bis vor kurzem in drei Formen ausfallen, die bereits genannt wurden:
- constat de supernaturalitate (die Übernatürlichkeit steht fest) – positives Urteil;
- non constat de supernaturalitate (die Übernatürlichkeit steht nicht fest) – abwartendes/vorsichtig negatives Urteil;
- constat de non supernaturalitate (die Nicht-Übernatürlichkeit steht fest – negatives Urteil.
Mit der Notifikation der Glaubenskongregation von 1974 wurde das abwartende/vorsichtig negative Urteil des Bischofs von Haarlem für „begründet” erklärt. Das ist für David Murgia das „Schockdokument des Vatikans“. Ist es natürlich nicht, als Mitglied der Päpstlichen Marianischen Akademie ist ihm die Notifikation seit langem bekannt. Warum also das Theater?
Ab 1978 wurden neue Richtlinien für die Beurteilung der Übernatürlichkeit erarbeitet, aber erst 2012 veröffentlicht. Darin wurden die drei möglichen Bewertungen auf zwei reduziert. Was mehr Klarheit schaffen sollte, erreichte es nicht unbedingt, denn ausgerechnet das bisher eindeutig negative Urteil wurde fallengelassen. In den neuen Richtlinien gibt es nur mehr die Bewertungen „constat de supernaturalitate” und „non constat de supernaturalitate”. Das bisher abwartende Urteil wurde zum negativen Urteil. Auf die genaue Neugewichtung und die Frage des Fortbestehens der dritten Bewertungsmöglichkeit soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Rückwirkende Neubewertung?
Es wurde in den vergangenen Jahren auf der Grundlage der neuen, nur mehr zweistufigen Richtlinien versucht, das 1974 von der Glaubenskongregation als „begründet” erklärte, abwartende Urteil des Bischofs von Haarlem von 1956 als eindeutig negatives Urteil darzustellen. Eine solche rückwirkende Umdeutung ist allerdings unzulässig.
Zudem sind im Fall Amsterdam zwei weitere Aspekte zu nennen.
Da ist einmal die schwer verständliche Frage, welchen Sinn Urteile haben sollten, die nicht veröffentlicht werden. Soviel zur heute von einigen vertretenen Annahme, die Entscheidung der Glaubenskongregation von 1974 sei ein eindeutig negatives Urteil gewesen, also („constat de non supernaturalitate“), habe also die noch abwartende Entscheidung des Bischofs von Haarlem zu einem negativen Urteil verschärft. Ein solcher Hinweis findet sich erst 38 Jahre später in einer Fußnote der gedruckten Fassung eines Vortrags von Msgr. Charles Scicluna von 2008, der damals Promotor Iustitiae der Glaubenskongregation war. Msgr. Scicluna, Malteser wie der Apostolische Nuntius für den Libanon und inzwischen Erzbischof von Malta, wurde 2018 von Papst Franziskus unter Beibehaltung seines Amtes als Diözesanbischof zum beigeordneten Sekretär der Glaubenskongregation ernannt.
Zum anderen kam es seit der Notifikation von 1974 zu einem dritten Urteil. Nach dem abwartenden Urteil des Ortsbischofs von 1956 („non constat de supernaturalitate”, die Übernatürlichkeit steht nicht fest), das von der Glaubenskongregation 1974 bestätigt wurde, denn ein anderes, ein negatives Urteil („constat de non supernaturalitate“) findet sich in der Notifikation ja nicht, sprach der für Amsterdam zuständige Ortsbischof von Haarlem, Msgr. Jozef Marianus Punt, am 31. Mai 2002 ein positives Urteil aus („constat de supernaturalitate”, die Übernatürlichkeit steht fest). Wörtlich urteilte er:
„In Anbetracht aller Gutachten, Zeugnisse und Entwicklungen und nachdem ich alles im Gebet und in theologischer Reflexion erwogen habe, führt mich dies zur Feststellung, dass in den Erscheinungen von Amsterdam ein übernatürlicher Ursprung vorliegt.“
Die Anerkennung der Marienerscheinungen durch den Bischof von Haarlem wurde von der Glaubenskongregation seither nicht beanstandet. Allerdings wurde 2005 eine Korrektur des Gebets der „Frau aller Völker” gefordert.
Mißverständlich bleibt in diesem Zusammenhang ein Hinweis im Schreiben des Apostolischen Nuntius an Patriarch Raï, der zeigt, daß die Klärung zu Fragen der Übernatürlichkeit immer komplex ist. Msgr. Spiteri erwähnt das Schreiben der Glaubenskongregation an die Philippinische Bischofskonferenz von 2005 mit der Aufforderung, eine von der Erscheinung in Amsterdam mehrfach gemachte Aussage, wonach die „Frau aller Völker” „einst” „Maria war”, aus einem Gebet zu tilgen, enthalte darüber „nichts, was auf eine geänderte Beurteilung denken lassen könnte“ als jene von 1974. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Bischof von Haarlem die Erscheinungen bereits seit drei Jahren anerkannt. Das Gebet der „Frau aller Völker” wurde 2006 tatsächlich korrigiert und von Bischof Punt anerkannt: Die Formel „die einst Maria war”, primärer Stein des Anstoßes, wurde durch „die selige Jungfrau Maria” ersetzt.
Versuch, die kirchliche Anerkennung zu kippen
Und natürlich geht es um Kirchenpolitik: Apparitionisten und Anti-Apparitionisten stehen sich ebenso gegenüber wie Konservative und Progressive. Von Medjugorje und anderen Fällen ist bekannt, wie erbittert dieser Konflikt sein kann. In diesem Kontext ist auch Murgias Vorstoß zu sehen. Hinter ihm stehen innerkirchliche Kreise, die sich an der kirchlichen Anerkennung der „Frau aller Völker“ stoßen und diese kippen möchten.
Auf der anderen Seite steht beispielsweise eine internationale, von den USA ausgehende, von Mark Miravalle geführte Bewegung namens Vox Populi Mariae Mediatrici. Sie bemüht sich um die Proklamation eines neuen, fünften Mariendogmas mit den drei Titeln „Miterlöserin”, „Mittlerin” und „Fürsprecherin”, wie es von den Erscheinungen in Amsterdam gewünscht wurde. Entsprechende Bemühungen wurden 1997 mit der „Erklärung von Tschenstochau” durch eine auf dem Internationalen Mariologischen Kongreß gebildete Kommission, angeblich in Rücksprache mit der Glaubenskongregation, gebremst. Der Weg führt also zur Pontificia Academia Mariana Internationalis, der Murgia angehört. Diese Kommission wies die drei Titel als „mißverständlich” und „ökumenisch problematisch” zurück.
Abgesehen davon, daß der genannten Kommission keine lehramtliche Autorität zukommt, werden im gläubigen Volk solche Aussagen eher beargwöhnt als begrüßt. Darin werden, teils nicht zu unrecht, kirchenpolitische Motivationen gesehen. Anti-marianische Strömungen in der Kirche, im deutschen Sprachraum vor allem im Bereich der theologischen Fakultäten, des Verbandskatholizismus und diözesaner Apparatschiks sind ebenso bekannt wie darüber hinausgehende „ökumenische” Bemühungen, die mit Blick auf den Protestantismus oder den Zeitgeist marianische Anliegen für nicht „opportun” halten. Der Verdacht steht im Raum und wird von einem nicht unerheblichen Teil der Gläubigen – nicht immer begründet, allerdings auch nicht immer unbegründet – geglaubt.
Tagles Bremsen
Noch ein Schritt der Glaubenskongregation ist zu erwähnen. Bei ihrem Ad-Limina-Besuch 2010 erhielten philippinische Bischöfe auf Anfrage von der Kongregation die Auskunft, daß ein Mariendogma über die Mittlerschaft für die Zukunft nicht ausgeschlossen sei. Die Forderung nach einem Dogma für gleich drei Titel, wie in Amsterdam gewünscht, sei aber nicht zu befürworten.
2011 schrieb die Glaubenskommission der Philippinischen Bischofskonferenz unter der Leitung von Luis Antonio Tagle, Mitarbeiter der progressiven Schule von Bologna, damals Bischof von Imus, dann Erzbischof von Manila, seit 2012 Kardinal und seit Februar 2020 Präfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker, zu Amsterdam:
„Das Urteil des Heiligen Stuhles steht fest: Der übernatürliche Charakter der angeblichen Erscheinungen unserer Lieben Frau ist nicht verifizierbar. Selbst wenn die Frömmigkeit gegenüber unserer Lieben Frau unter diesem Titel [die Frau aller Völker] und der Gebrauch des modifizierten Gebetes Menschen helfen mag, so sollten wir den Hinweis vermeiden, dass die Kirche die Erscheinungen als echt beurteilt habe.“1
Fest steht, daß es in Teilen der Glaubenskongregation Bedenken gegenüber den Amsterdamer Erscheinungen gibt.
Welche Klarheit haben die Gläubigen?
Auf welche Klarheit können sich die Gläubigen im konkreten Fall also verlassen? Letztlich auf die Anerkennung durch den Bischof von Haarlem-Amsterdam, wie das Bistum seit 2008 heißt, da es das jüngste und eindeutigste Urteil ist. Diese Entscheidung ist öffentlich, offiziell und am weitestgehenden. Der Rest ist ein etwas seltsames Herumstochern hinter den Kulissen.
Um es noch anders zu sagen: Wenn eine Gruppe von Offizialen und Mariologen mit einer gewissen Entwicklung nicht übereinstimmt, ob berechtigt oder unberechtigt, sei dahingestellt, sollte sie vielleicht andere Wege suchen, um dies innerkirchlich kundzutun, nicht aber durch das Lancieren reißerisch aufgemachter Artikel, die mehr Verwirrung stiften als Klarheit schaffen, oder durch unterschwelligen Boykott.
Es dürfte auch kein Zufall sein, das Nuntiaturschreiben im Libanon hin oder her, daß David Murgias Vorstoß keine drei Monate nach der gesundheitsbedingten Emeritierung von Bischof Punt erfolgte.
Klarheit sollte anders aussehen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild:de-vrouwe.info (Screenshots)
1 Zitiert nach Manfred Hauke in Theologisches.