
Von Endre A. Bárdossy
Johannes Hartls Skizze hat durchwegs viele sympathische und richtige Aussagen, wenn auch vier Punkte keineswegs hingenommen werden können:
- Es gebe keine genuin christliche Politik, sondern nur christliche Politiker.
- Zudem erwähnt der illustre deutsche Philosoph, katholische Theologe, Buchautor, Referent, Komponist und Gründer eines Gebetshauses in Augsburg mit keinem Wort, daß dieser unerträgliche Zustand vatikanische Wurzeln im laufenden Pontifikat hat.
- Die Mehrheit der Bischöfe rücke auf die falsche Seite des „zahmen Humanismus“ durchaus weniger aus argumentierender Überzeugung, sondern vielmehr aus Kadavergehorsam: „Roma locuta causa finita“ (Sobald Rom gesprochen hat, ist der Fall abgeschlossen). Opportunismus, so Hartls Behauptung, sei immer schon eine römisch-katholische Scheintugend gewesen!
- Deutschland und Österreich als weltanschaulich neutrale Staaten hinzustellen, und den Regierungen Merkel & Kurz ihren säkularen Charakter abzusprechen, zeugt, gelinde gesagt, von Unkenntnis oder Naivität. Oder von beidem!
Nun, zur Sache selbst!
Unter der aufrüttelnden Überschrift „Politiker werden moralinsaurer, Bischöfe werden immer politischer“ haben wir am 9. Juni 2020 eine tiefschürfende Skizze des Philosophen Johannes Hartl gelesen, worin er nach Strich und Faden behauptet:
Es gibt keine genuin christliche Politik, sondern nur christliche Politiker. Die Grundwerte haben wohl ‚etwas‘ mit dem Glauben zu tun, aber sie lassen sich nicht 1:1 in politische Parteien übersetzen.
Das hieße auf gut Deutsch: Es gibt Facharbeiter, aber die Produktion wurde eingestellt… Es gibt Piloten, aber ohne Flugverkehr… Das klänge zugleich nach dem Einbekenntnis, daß unsere Feinde genau wissen, was sie tun – wir aber, die amputierten Christen, die reifen Trauben vom Hörensagen ‚mehr oder weniger‘ kennen, sie jedoch nicht wirklich pflücken können. Diese irrige Meinung ist leider Gottes gerade unter lauen Christen als zureichender Entschuldigungsgrund für den sauren Most weit verbreitet. Da aber J. Hartl als frommer Christ und Denker, dessen Lauterkeit weder bemängelt noch bezweifelt werden kann, nicht unter Halbherzigkeit leidet, müssen wir ihm in diesem Punkt gerade deshalb energisch widersprechen.
Wenn unchristliche Politik in extremen Ausformungen, sei es im nationalen Sozialismus, sei es im internationalen Kommunismus, leicht zu erkennen ist, so mahnt Hartl doch Vorsicht ein. Da ihm bei total verfaulten Positionen die Konturen klarer erscheinen, glaubt er, daß sie in der Perspektive vom Schwer- zum Mittel- und Leichtgewicht nicht wirklich wahrnehmbar sind. Aus christlicher Sicht sind zum Beispiel eine Abtreibung unschwer als Mord, eine Leihmutterschaft als Verbrechen gegen Kind & Mutter, die Öffnung der geheiligten Ehe für sämtliche Perversionen, oder das Euthanasiegesetz… und… und… als Blasphemien zu erkennen, trotzdem befürworten die angeblich „christlichen“ Politiker, die sich sowohl in der CDU/CSU wie in der Österreichischen Volkspartei tummeln, nicht ungern für alles, was in der traditionellen Moral Namen und Bedeutung hat, einen faulen Kompromiß. Von christlichen Grundwerten ausgehend kommt man so auch in dem Bevölkerungsaustausch der Migrationspolitik nicht „womöglich“ (Hartl), sondern schnurstracks zu unchristlichen Schlußfolgerungen. Bei genauem Zusehen wäre es dennoch nicht so unerfindlich, wie hingegen von Hartl perludiert wird, was das Geheimnis ist, das sogar für x‑beliebige, einfache Fragen die richtige, die christliche Antwort finden läßt.
Päpstliche Unfehlbarkeit in den Prinzipien, aber Ahnungslosigkeit in der Aktion des politischen Alltags hieße die Leugnung des Beistandes des Heiligen Geistes, dessen Direktion und Trost sich nicht auf das Philosophen- und Theologengezänk beschränken, sondern sich sehr viel mehr auf die Knotenlösung in den kleinen und kleinsten Fragen eines wahrhaft christlichen Verhaltens auch – und vornehmlich – in der genuin christlichen Politik konzentrieren muß.
Als leuchtendes Beispiel diene die Erfolgsgeschichte der sogenannten „Visegrád-Staaten“ (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei). Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident als führende Kraft unter seinen Verbündeten, ist einer der letzten Christdemokraten in Europa überhaupt. Sein Dienst am Gemeinwohl wurde seit 2010, 2014, 2018 vom Wahlvolk ununterbrochen mit Zweidrittelmehrheit honoriert. Wohl, eine beneidenswerte Höchstleistung unter den Eintagsfliegen der Politik! Zielbewußt regiert er sein Land unter der Fahne deklarierter christlicher Politik: mit Klugheit und Mut, Maß und höchstmöglicher Gerechtigkeit. Das Bonum commune kann also wirklich erkannt und auch wirklich getan werden. Nicht verwunderlich, daß er vom „zahmen Humanismus“ (Hartl) des linksliberalen Westens boshaft betratscht und verleumdet wird.
Das Christentum hat ein realistisches Menschenbild. Der Mensch wird weder erhöht, noch reduziert. Wir stimmen darin mit Hartl neuerlich und selbstverständlich überein. Dabei bleibt nicht zu vergessen: Es gibt auch ein hochideologisiertes Christentum unter allerhöchster Leitung im laufenden Pontifikat. Ideologen – auch dann, wenn sie im Vatikan residieren – sind erstens nicht diskursfähig und zweitens sind sie Getriebene von ihrem rigorosen Utopismus und Fanatismus. Somit handelt es sich ebenfalls um eine Binsenwahrheit des illustren Autors Hartl. Ideologen aller Richtungen pflegen nicht die Eintracht und das Gespräch unter den Brüdern der Einen, Universalen Kirche, sondern das Feilschen „an den Rändern“ mit den Feinden und Abtrünnigen, die uns das Grab schaufeln. Natürlich alles im feinsten „Ökumenischen & Interreligiösen Dialog“. Hier liegt des Pudels Kern, wenn wir nach den wahren Ursachen dessen suchen, warum wir an der genuin christlichen Politik ins Stolpern geraten. Wie heißt es doch, am Kopf fängt der Fisch an zu … !
Inmitten dieser Selbstauflösungstendenzen wäre es höchste Zeit sich wieder einmal Hans Urs von Balthasars „Cordula“ (1966) ans Herz zu legen und somit den „Ernstfall“ zu üben, anstatt ihn auf die leichte Schulter zu nehmen.
Es ist kein Zufall im finsteren XX. Jahrhundert, daß die Demokratie – falls überhaupt jemals – nur unter einer Handvoll Christdemokraten – Adenauers und Straußens, De Gasperis und Schumans, Figls und Raabs – wirklich gut funktionierte. Gott ist trinitarisch und selber ein gemeinschaftliches Wesen. Das Dienen am Bonum commune war seit eh und je allen Politikern aufgegeben. Deswegen kann eine ideologische Haltung, die sich ganz und gar nicht auf die Gemeinschaft (communio), sondern lediglich auf die Meinungen und Interessen von lockeren Gesellschaften (societas) einläßt, nie christlich sein. Auch Paulus verlangte in Athen auf dem Areopag nicht – wie Hartl es grobgestrickt formuliert –, „daß alle Ungläubigen gehängt werden“, hat aber in der scharfen Diskussion nicht ein Jota beigegeben.
Deshalb sollten auch wir stets eine präzise Sprache wählen, auch wenn die Ungläubigen und Skeptiker sie nicht verstehen können oder wollen. Unsere Argumentation braucht nicht Gott „fromm“ vor sich herzutragen (Hartl), hat aber die Fundamente zu definieren, welche für die überlieferten Werte der Gemeinschaft fruchtbar und tragfähig sind. „Da kommt man nicht umhin, irgendwann zu bekennen, wo man im Glauben steht“ (Hartl). Das stimmt wiederum. Das soll allerdings auch in jedem Punkt des politischen Tagesgeschäftes erfolgen, und nicht nur in grundsätzlich erhabenen Thesen. Hartl findet die Frage sehr spannend, wie lange das öffentliche Leben ohne metaphysischen Bezug an den (über-) lebenswichtigen Werten festhalten wird können. Die Atheisten wollen es darauf ankommen lassen, die Christen blicken aber auf die Zeit der französischen Revolution zurück und sind weniger optimistisch (Hartl). Einverstanden! – können wir nur wiederholend anfügen.
Unsere Werte stammen nämlich nicht aus der Aufklärung. Das Gegenteil zu behaupten wäre historisch mehr als eine Unterstellung, vielmehr eine gemeine Lüge. Darin sind wir alle einig.
Bereits im Hochmittelalter wird von natürlichen Rechten aller Menschen gesprochen. In Hispano-Amerika hat Bartolomé de Las Casas (1484–1566) – in Übereinstimmung mit der Spanischen Krone – die unabänderliche Menschenwürde zugunsten der Indianer in die Politik eingebracht – das unterstreicht Hartl emphatisch. Wenn sich die kränkelnde, schwächliche Natur der Politiker aller Zeiten dennoch wenig daran gehalten hat, ist das eine andere Frage. Die Inhalte der höchsten Ideen und Werte sind in heiliger Reinschrift im Evangelium der Christenheit wiederzufinden, die man nicht vertuschen kann. Die sogenannte Aufklärung selber hat die besten Ansätze ihres theologischen Kontextes entkleidet, um sie als antikirchliche und atheistische Slogans wieder zu verwenden. Selbst die „aufgeklärtesten“ Aufklärer wollen nicht wissen, warum die „Aufklärung“ einzig und allein im Schoße der christlichen Völker entstand, aber nicht im Buddhismus (Japan, China), Hinduismus (Indien), in den Stammesreligionen (Afrika) oder im Islam (Arabien). Richtig! Wieder ein Volltreffer von Hartl – allerdings schon längst bekannt! Logisch und historisch entstand sie nämlich als eine gewaltige eurozentrische Häresie, wofür die Denkkategorien der griechisch-römischen Philosophie und des Christentums mißbraucht wurden, um ihren Ursprung und Sinn zu verleugnen.
Deutschland und Österreich seien keine säkularen Staaten, sondern weltanschaulich neutral – wird von Hartl suggeriert. Die Staaten des liberalen (und zunehmend linksliberal enthemmten) Westens sind jedoch weltanschaulich alles andere als „unparteiisch“, weil Neutralität in keinem Weltbild möglich ist. Die christliche Religion im öffentlichen Leben darf heute bloß nach den Buchstaben der Religionsfreiheit präsent sein, da sie tagtäglich bewußt nicht in Rechnung gestellt, sondern systematisch ignoriert wird. Die Machthaber der Politik finden dennoch an allen Ecken die Relikte des viele Jahrhunderte alten Kulturchristentums als „fleischgewordene Religion“ vor, dessen Schätze sie hüten müßten, da sie unersetzlich sind. Wir achten viele vertraute Personen und Sachen erst, wenn wir sie verloren haben.
Politiker glauben stets, einen brandneuen „Gesellschaftsvertrag“ (J.-J. Rousseau) etablieren zu können. Daran haben Marx, Engels, Lenin und Stalin gepfuscht, aber auch die linksliberalen US-Demokraten Woodrow Wilson (Paris 1919/20) und Roosevelt (Jalta 1945) federführend mitgewirkt bei der Neueinrichtung Europas. Nicht einmal ein Konservativer wie Churchill war intelligenter als seine amerikanischen und sowjetrussischen Verbündeten. Es ist vielmehr ein christlicher Gedanke, festzuhalten, daß die Politiker nicht allherrschend die kulturelle Prägung der Völker und Nationen erfinden, sondern sie in einer beachtenswerten Verfassung vorfinden, die man nicht auf dem Reißbrett nach Belieben verändern kann. Auch in der Europäischen Union ist ihre radikale Neuerfindung – jedenfalls eine zutiefst unchristliche Politik –, eine brachiale Gewaltanwendung und die permanente Fortpflanzung des Unfriedens.
Abschließend läßt sich sagen, daß die Mehrheit unserer Bischöfe in der Tat – auf der falschen Seite – immer politischer, und die liberalen Politiker umso moralinsaurer werden, je weniger Erfolg ihnen beschieden ist.
Bild: MiL
Bisher von Prof. Endre A. Bárdossy bei Katholisches.info veröffentlichte Texte (hier). Zuletzt:
Es liegt im Prinzip, dass Österreich und Deutschland säkulare Staaten sind. Papst Benedikt hat das in seiner Rede vor dem Bundestag hergeleitet.
Geltendes Recht ist eine Kombination aus Naturrecht und positivem Recht. Naturrecht ist begründet auf der Natur, also den Tatsachen, die die Lebensfähigkeit und Lebenswürdigkeit bedingen. Die Idealisten sehen hier das göttliche Wirken eingeschlossen. Die Realisten betrachten nur die messbaren Tatsachen. Positives Recht hingegen ist die Umsetzung von Anliegen, die sich nicht aus Naturrecht ergeben und schränkt mitunter das Naturrecht ein.
In diesem Sinne wäre ein säkularer Staat ein Staat, indem das positive Recht (die Interessen) das Naturrecht (das unabänderliche) verdrängt.
Wenn behautet wird, es gebe keine christliche Politik, ist das schon falsch ausgedrückt. Christliche Politik gibt es nicht, sondern Anerkennung des Naturrechtes wie es ein Christ versteht. Vielmehr bedeutet die Aussage, es gäbe keine christliche Politik, eine Missachtung der Tatsache, dass es ein unabänderliches Naturrecht gibt.
Man kann hieraus erkennen, dass es nicht nur einen religiösen Staat gibt, der das Naturrecht als Schwerpunkt hat, sondern auch einen säkularen Staat, der die akuten Interessen als Schwerpunkt besitzt. Jetzt haben wir den dritten Schritt, die Behauptung, es gäbe kein Naturrecht (es gibt keine christliche Politik). Das ist gleichbedeutend mit der Ablehnung der menschlichen Natur an sich. Ausdruck findet sich in den Antreibern der Gender-Ideologie bzw. der Diversity-Zielsetzungen. Folgerichtiges Ergebnis der dritten Form einer Staatsideologie wäre die Auslöschung des Menschen in der natürlichen Form, was ja auch geschieht.
Deutsches Sprichwort aus der Kaiserzeit um 1910: Erst hatten wir den greisen Kaiser, dann den weisen Kaiser. Jetzt haben wir den Reisekaiser.