(Rom) In der Kirche macht sich Unruhe breit. Die von Regierungen bis in den Mai hinein beschlossenen Verlängerungen der Restriktionen lösen Unmut unter Gläubigen und Priestern aus. Selbst Papst Franziskus ließ Kritik anklingen und sprach eine Warnung aus.
Einige Provinzen Norditaliens sind vom Coronavirus besonders stark betroffen. Als die italienische Regierung Anfang März Einschränkungen verordnete, gingen die Bischöfe noch weiter und verhängten eine generelle Aussetzung der öffentlichen religiösen Zeremonien. Seit dem 8. März dürfen die Gläubigen nicht mehr zur Liturgie: keine Taufen, keine Hochzeiten, keine Totenmessen. Gestern war für die Gläubigen bereits der siebte Sonntag in Folge ohne Heilige Messe. Das Gleiche erfolgte etwas verzögert in anderen europäischen Staaten. Die gesamte Kar- und Osterzeit mußten die Gläubigen an Radiogeräten und vor Fernsehapparaten oder Computermonitoren verbringen.
Nachdem die Italienische Bischofskonferenz mit 8. März die religiösen Zeremonien ausgesetzt hatte, legte Papst Franziskus am 12. März noch einmal nach: In seinem Bistum Rom ließ er sogar alle Kirchen und Kapellen zusperren. Nachdem sich heftiger Widerstand regte, ruderte er bereits am nächsten Tag zurück und übte bei seiner morgendlichen Predigt in Santa Marta Kritik an „zu radikalen“ Maßnahmen. Daß er diese selbst angeordnet hatte, sagte er nicht. Sein Kardinalvikar gab es allerdings mit dem zweiten Dekret zu verstehen, mit dem er am 13. März das Dekret vom Vortag korrigierte. Seither sind im Bistum Rom zumindest die Pfarrkirchen für das persönliche Gebet wieder offen.
Auch in anderen Ländern zeigten sich die Bischöfe einsichtig und folgsam und beeilten sich zum Teil, restriktive Maßnahmen vorwegzunehmen, noch bevor solche von den Regierungen beschlossen wurden. Manche begeistern sich an der Disziplin, die von den kirchlichen Amtsträgern in der Krise an den Tag gelegt wurde. Andere auch am „wieder“ oder „noch nimmer“ handlungsfähigen Staatswesen und seiner Beamtenschaft, aber auch an der Disziplin der Staatsbürger. Disziplin und Ordnung sind allerdings Sekundärtugenden. Wichtiger ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Diesbezüglich nähern sich die Meinungen nach Wochen der Corona-Restriktionen aufgrund der verifizierbaren Fakten nicht an, sondern gehen immer mehr auseinander. Besonders umstritten ist die Frage nach der Gefährlichkeit des Coronavirus, einschließlich der zwingenden Folgefrage, ob die getroffenen Maßnahmen nicht weit gefährlicher sind.
Der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, Bischof von Limburg, weit davon entfernt, solche Fragen zu thematisieren, übte dennoch vergangene Woche Kritik an der Verlängerung der Maßnahmen. Die anhaltende Aussetzung der Liturgie sei „für viele Gläubige nur schwer zu ertragen“.
Auch Papst Franziskus mußte in den vergangenen Wochen die feierlichen Liturgien, aber auch die morgendliche Messe in Santa Marta allein zelebrieren und die Generalaudienzen in völliger Einsamkeit abhalten. Die Spendung des außerordentlichen Segens Urbi et Orbi am 27. März bei strömendem Regen auf einem menschenleeren Petersplatz wirkte ebenso unwirklich wie das einsame Kirchenoberhaupt am Ostersonntag im riesigen Petersdom.
Solche Bilder veranlaßten den bekannten Liturgiker Don Nicola Bux zur spitzen Bemerkung: „Dieses Virus ist vorkonziliar. Nun ist der Papst des Pueblo ohne Volk“.
Um der Zwangslage zu begegnen, reagierten zahlreiche Diözesen, Orden und Pfarreien mit Meßübertragungen im Internet. Die Zahl der Direktübertragungen vervielfachte sich in den vergangenen Wochen. Allein die tägliche Messe von Papst Franziskus um 7 Uhr morgens wird von fast zwei Millionen Gläubigen mitverfolgt. In der Vergangenheit gab es davon nur Fotos und zwei unterschiedliche Zusammenfassungen seiner Predigt durch vatikanische Medien. Seit der Corona-Krise wird sie auf der Internetseite des Heiligen Stuhls übertragen.
Der wachsende Unmut, der sich hinter den Kulissen über die historisch beispiellosen Einschränkungen der Kultusfreiheit breitmacht, scheint bis zum Stuhl Petri vorgedrungen zu sein. Papst Franziskus ließ erstmals ernste Zweifel anklingen.
„Der scheinbare Erfolg dieser Meßübertragungen birgt eine Gefahr, die bereits von vielen Katholiken beklagt wurde“, schreibt der Vatikanist Sandro Magister und bezieht sich auf die Gefahr, „daß das Sakrament vom Realen ins Virtuelle kippt und sich damit auflöst.“
Diesbezüglich wurde nicht nur von Kreisen der Tradition Alarm geschlagen. Selbst von führenden progressiven Vertretern wie Enzo Bianchi, den der vor kurzem verstorbene Msgr. Antonio Livi einen „falschen Propheten“ nannte, aber auch von Alberto Melloni, Leiter der progressiven „Schule von Bologna“, bis zum Gründer der Gemeinschaft von Sant’Egidio wurden kritische Äußerungen laut.
Viele von jenen, die Kritik an den derzeitigen Restriktionen üben, werfen einen Blick auf die Kirchengeschichte und gelangen zum selben Schluß: Selbst in Zeiten weit schwererer Epidemien, etwa der Pest, war es das Bestreben der Kirche, die Zugänglichkeit der Sakramente für die Gläubigen sicherzustellen. Es gibt zahlreiche Beispiele, von Marseille über Turin bis Regensburg, wo Bischöfe und Priester in aufopfernder Weise die leibliche und geistliche Pflege der Kranken unter Einsatz ihres eigenen Lebens aufrechterhielten. Viele von ihnen kamen dabei selbst ums Leben. Ihr Beispiel leuchtet noch nach Jahrhunderten, da es im krassen Gegensatz zum Verhalten der damaligen weltlichen Eliten stand, die in den meisten Fällen das Weite suchten und die Masse der Bevölkerung ihrem Schicksal überließen. Die Geschichte der Pest in Europa enthüllt noch ein anderes Detail, nämlich auch einen Unterschied im Verhalten zwischen katholischen Priestern und Ordensleuten und protestantischen Kirchenvertretern. Besonders eklatant ist beispielsweise der Kontrast, was das Verhalten der anglikanischen Kirchenvertreter während der letzten Pest in London und der katholischen Kirchenvertreter während der letzten Pest in Marseille betrifft.
Besonders bekannt ist auch das Beispiel des heiligen Karl Borromäus während der Pest von 1576 in Mailand. Da die weltliche Macht hilflos agierte, setzte er als Erzbischof der Stadt beim spanischen Statthalter eine vierzigtägige Quarantäne durch. Seine Priester aber schickte er hinaus, um auf den Straßen und Plätzen die heilige Messe zu zelebrieren, sodaß die eingesperrten Menschen von den Balkonen und Fenstern ihrer Häuser beiwohnen konnten. Er selbst war seinem Klerus ein Vorbild sowohl in der Zelebration als auch bei den Besuchen der Pestkranken. Er rief zu Sühneprozessionen auf und zog an deren Spitze durch die Stadt, da er überzeugt war, daß die Pest eine Strafe Gottes war und nur auf geistlicher Ebene wirklich überwunden werden konnte. Dabei handelte er nicht sorglos, sondern mit Bedacht und Vernunft. Das Volk und sein Klerus sollten eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen beachten, die er selbst praktizierte. Er wechselte oft die Kleidung und ließ diese heiß waschen. Nach Besuchen bei Pestkranken reinigte er seine Hände mit Essig. Seine Gesprächspartner hielt er mit Hilfe eines dünnen Stockes auf angemessene Distanz. Sie durften sich ihm nur auf Stocklänge nähern. Während damals in Venedig mehr als 70.000 Menschen der Pest erlagen, starben in Mailand nur 17.000.
Auch in Rom zelebrierte ein Pfarrer am Palmsonntag die Messe im Freien auf dem Glockenturm, damit möglichst viele Gläubige auf Balkonen, an den Fenstern und auf den Dächern ihrer Häuser mitfeiern konnten. Magister schrieb dazu:
„Seine Geste wurde von den Medien unter der Rubrik bizarre Nachrichten berichtet. Diese seine Messe war aber sicher ‚wirklicher‘ als die Meßübertagungen.“
Am 17. April nahm Papst Franziskus in seiner morgendlichen Predigt dazu Stellung. Dabei sagte er:
„[…] Diese Vertrautheit der Christen mit dem Herrn ist immer gemeinschaftlich. Ja, sie ist intim, sie ist persönlich, aber in Gemeinschaft. Eine Vertrautheit ohne Gemeinschaft, eine Vertrautheit ohne das Brot, eine Vertrautheit ohne die Kirche, ohne das Volk, ohne die Sakramente ist gefährlich. Sie kann eine – sagen wir – gnostische Vertrautheit, eine Vertrautheit nur für mich werden, losgelöst vom Volk Gottes. Die Vertrautheit der Apostel mit dem Herrn war immer gemeinschaftlich, war immer am Tisch, als Zeichen der Gemeinschaft. Sie war immer mit dem Sakrament, mit dem Brot.
Ich sage das, weil mich jemand dazu gebracht hat, über die Gefahr nachzudenken, die dieser Moment, in dem wir leben, diese Pandemie, die dazu geführt hat, daß wir alle, auch religiös, über die Medien miteinander kommunizieren, auch diese Messe. Wir kommunizieren alle, aber nicht zusammen, geistlich zusammen. Das Volk ist klein. Es gibt ein großes Volk: Wir sind zusammen, aber nicht zusammen. Sogar das Sakrament: Heute habt Ihr es, die Eucharistie, aber die Leute, die mit uns verbunden sind, nur die geistliche Kommunion. Und das ist nicht die Kirche: Das ist die Kirche einer schwierigen Situation, die der Herr zuläßt, aber das Ideal der Kirche ist immer mit dem Volk und mit den Sakramenten. Immer.
Vor Ostern, als die Nachricht veröffentlicht wurde, daß ich Ostern im leeren Petersdom feiern würde, schrieb mir ein Bischof – ein guter Bischof, ein guter – und hat mich getadelt. ‚Wie ist das möglich: Der Petersdom ist so groß, warum setzen Sie nicht mindestens 30 Leute hinein, damit man Menschen sieht? Das stellt kein Risiko dar … ‘ Ich dachte: ‚Was hat der im Kopf, um mir das zu sagen?‘ Ich habe es in dem Moment nicht verstanden. Aber da er ein guter Bischof ist, der dem Volk sehr nahe steht, wird er mir damit etwas sagen wollen. Wenn ich ihn finde, werde ich ihn fragen. Dann habe ich es verstanden.
Er sagte zu mir: ‚Passen Sie auf, die Kirche nicht zu viralisieren, die Sakramente nicht zu viralisieren, das Volk Gottes nicht zu viralisieren. Die Kirche, die Sakramente, das Volk Gottes sind konkret.‘
Es ist wahr, daß wir in diesem Moment diese Vertrautheit mit dem Herrn auf diese Weise machen müssen, aber um aus dem Tunnel herauszukommen, nicht um dort zu bleiben.Und das ist die Vertrautheit der Apostel: nicht gnostisch, nicht ‚viralisiert‘, nicht egoistisch für jeden von ihnen, sondern eine konkrete Vertrautheit, im Volk. Vertrautheit mit dem Herrn im täglichen Leben, Vertrautheit mit dem Herrn in den Sakramenten, inmitten des Volkes Gottes. Sie haben einen Weg der Reifung in der Vertrautheit mit dem Herrn zurückgelegt: Lernen auch wir es zu tun. Vom ersten Moment an verstanden sie, daß diese Vertrautheit anders war, als sie es sich vorgestellt hatten, und sie gelangten zu dem. Sie wußten, daß es der Herr war, sie teilten alles: die Gemeinschaft, die Sakramente, den Herrn, den Frieden, das Fest.
Möge der Herr uns diese Vertrautheit mit Ihm lehren, diese Vertrautheit mit Ihm, aber in der Kirche, mit den Sakramenten, mit dem heiligen treuen Volk Gottes.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
Ich ganz persönlich sorge mich und mahne vor einer Virtualisierung und Privatisierung von Kirche und insbesondere kirchlich-liturgischem Vollzug.
Ein ‚virus probatus‘ mit Namen Sars-CoV‑2 alias COVID-19 bedroht die Menschheit und gewisse Errungenschaften, ‚geht also viral‘ — gewisse neue Wege, ob mit den Beiwörtern pastoral oder synodal geschmückt, geben hier definitiv keine Antworten.
Die Heilmittel und Schätze im Arsenal der Kirche werden den Gläubigen vorenthalten, mit beachtenswertem Engagement des etablierten Episkopats.