Franziskus und der „Primat der Politik“

Analyse eines Zeithistorikers


Papst Franziskus war am Ostersonntag im Petersdom allein. Von Karfreitag bis Ostersonntag verkündete er vor allem eine politische Botschaft.
Papst Franziskus war am Ostersonntag im Petersdom allein. Von Karfreitag bis Ostersonntag verkündete er vor allem eine politische Botschaft.

(Rom) „Es war ein sehr poli­ti­sches‘ Oster­fest von Papst Fran­zis­kus“, schrieb der Vati­ka­nist San­dro Magi­ster. Gemeint ist das Oster­fest 2020, das nicht nur wegen der Coro­na­vi­rus-Maß­nah­men im Aus­nah­me­zu­stand began­gen wur­de, son­dern auch – wenn auch weni­ger beach­tet – durch fol­gen­de drei Hand­lun­gen des amtie­ren­den Kir­chen­ober­haup­tes, die sei­nen Hang ver­deut­li­chen, der Poli­tik den Vor­rang einzuräumen:

  • Am 12. April, Oster­sonn­tag, an dem die Auf­er­ste­hung Jesu Chri­sti von den Toten gefei­ert wird, hielt Papst Fran­zis­kus zum päpst­li­chen Segen Urbi et Orbi eine ent­schie­den poli­ti­sche Bot­schaft, in der er Euro­pa auf­for­der­te, einen „Beweis der Soli­da­ri­tät“ zu erbrin­gen, „auch wenn wir dazu neue Wege ein­schla­gen müssen“.
  • Eben­falls am Oster­sonn­tag ver­schick­te er einen eupho­ri­schen Brief an die „Volks­be­we­gun­gen“, die für Papst Fran­zis­kus die „Avant­gar­de der Mensch­heit“ dar­stel­len „im Auf­stand gegen die Vor­herr­schaft von Staa­ten und Märkten“.
  • Bereits zwei Tage zuvor, am 10. April, Kar­frei­tag, über­mit­tel­te Fran­zis­kus ein hand­ge­schrie­be­nes Bil­lett an Luca Casa­ri­ni, den er als „Hel­den“ der Flücht­lings- und Migran­ten­hil­fe im Mit­tel­meer rühmte.
Anzei­ge

Wört­lich schrieb Franziskus:

 Luca, lie­ber Bruder,

vie­len Dank für dei­nen Brief, den Michel mir gebracht hat. Vie­len Dank für das mensch­li­che Mit­leid, das Du ange­sichts so vie­len Schmer­zes hast. Vie­len Dank für Dein Zeug­nis, das mir gut tut.

Ich bin Dir und Dei­nen Gefähr­ten nahe. Vie­len Dank für alles, was Ihr tut. Ich möch­te Euch sagen, daß ich immer zur Ver­fü­gung ste­he, um zu hel­fen. Zählt auch mich.

Ich wün­sche Dir ein hei­li­ges Oster­fest. Ich bete für Euch, bit­te, tut Ihr es für mich.
Möge der Herr Euch seg­nen und die Got­tes­mut­ter Euch beschüt­zen. Brüderlich,

Fran­zis­kus

Papst-Gruß an Luca Casa­ri­ni: „Du bist ein Held“

Der vom Papst erwähn­te „Michel“ ist Kar­di­nal Micha­el Czer­ny, ein Jesu­it und Unter­staats­se­kre­tär der Abtei­lung für Migran­ten und Flücht­lin­ge des römi­schen Dik­aste­ri­ums für die ganz­heit­li­che Ent­wick­lung des Men­schen. Casa­ri­nis Brief an Fran­zis­kus wur­de zusam­men mit der Ant­wort des Pap­stes vom Avve­ni­re, der Tages­zei­tung der Ita­lie­ni­schen Bischofs­kon­fe­renz, ver­öf­fent­licht.

Magi­ster ver­öf­fent­lich­te eine Ana­ly­se des Histo­ri­kers Rober­to Per­ti­ci zum „poli­ti­schen“ Ostern des Pap­stes. Per­ti­ci ist Pro­fes­sor der Zeit­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Ber­ga­mo und spe­zia­li­siert auf das Ver­hält­nis zwi­schen Kir­che und Staat. Noch vor weni­gen Jah­ren zähl­te er zu den Autoren des Osser­va­to­re Roma­no.

Zunächst gilt es aber einen Blick auf den Adres­sa­ten der so wohl­wol­len­den päpst­li­chen Gruß­bot­schaft zu werfen. 

Wer ist Luca Casarini?

Casa­ri­ni, 1967 in Mest­re gebo­ren, dem wenig attrak­ti­ven Fest­land­pen­dant von Vene­dig, ist ein Anfüh­rer der radi­ka­len Lin­ken und einer der umstrit­ten­sten Poli­ti­ker Ita­li­ens. Er selbst ver­steht vor allem als Polit­ak­ti­vi­sten. Nur kur­ze Zeit stu­dier­te er an der Uni­ver­si­tät Padua Poli­tik­wis­sen­schaf­ten, da er mehr an poli­ti­schem Aktio­nis­mus inter­es­siert war. Sei­ne poli­ti­sche Hei­mat sind die Auto­no­me Zen­tren, allen vor­an das Pedro in Padua, die ein grenz­über­schrei­ten­des Netz­werk poli­ti­scher und logi­sti­scher Stütz­punk­te ver­teilt über ganz Euro­pa bil­den und auch als Schlupf­loch und Ope­ra­ti­ons­ba­sis für Links­extre­mi­sten der Black Blocs die­nen. Die Auto­no­men Zen­tren neh­men eine dezen­tra­le, aber insti­tu­tio­na­li­sier­te Schar­nier­funk­ti­on zwi­schen Tei­len der Regie­rungs­lin­ken, der radi­ka­len Lin­ken und dem Links­extre­mis­mus wahr. 

Casa­ri­ni kri­stal­li­sier­te sich in den 90er Jah­ren als Füh­rungs­fi­gur ver­schie­de­ner Links­be­we­gun­gen her­aus, die im Milieu der Auto­no­men Sze­ne meist kurz­le­big sind und schnell und häu­fig Namen wech­seln. Sein Akti­ons­spek­trum reich­te von den Tute bian­che über die No Glo­bal bis zu den Empör­ten. Die Namen wech­seln, doch die sub­ver­si­ven Zie­le blei­ben unverändert. 

Luca Casa­ri­ni, Ham­mer, Sichel, Kreuz und die „pro­le­ta­ri­sche Enteignung“

Einen Namen mach­te sich Casa­ri­ni durch „sym­bo­li­sche Über­tre­tun­gen“, wie der geziel­te Geset­zes­bruch von der links­ra­di­ka­le Sze­ne genannt wird. Wie stark die Ver­net­zung zwi­schen den ver­schie­de­nen „See­len“ der Lin­ken ist, zei­gen die zahl­rei­chen Ver­bin­dun­gen der Auto­no­men Sze­ne zu Kom­mu­ni­sten und Grü­nen, aber auch Casa­ri­nis Ernen­nung zum Regie­rungs­be­ra­ter im Jahr 1998. Ita­li­en wur­de damals von einer Mit­te-links-Koali­ti­on von Roma­no Pro­di regiert. Die Beru­fung Casa­ri­nis erfolg­te durch Livia Tur­co, Mini­ste­rin für die sozia­le Soli­da­ri­tät. Tur­co gehör­te seit ihrer Jugend der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Ita­li­ens (PCI) an, für die sie in den 80er Jah­ren erst­mals ins Ita­lie­ni­sche Par­la­ment ein­zog und deren Häu­tun­gen sie nach dem Fall der Ber­li­ner Mau­er mitmachte.

Inter­na­tio­nal bekannt wur­de Casa­ri­ni durch sei­ne „Kriegs­er­klä­rung“ an die „Welt­füh­rer“ im Vor­feld des G8-Gip­fels in Genua im Juli 2001. Bei Anti-G8-Kund­ge­bun­gen der lin­ken Sze­ne kam es zu schwe­ren Aus­schrei­tun­gen und Stra­ßen­schlach­ten, bei denen ein gewalt­tä­ti­ger links­ra­di­ka­ler Demon­strant getö­tet wur­de. Die Fol­ge war ein jah­re­lan­ges Kes­sel­trei­ben gegen die dama­li­ge Mit­te-rechts-Regie­rung und die Schaf­fung eines lin­ken Heldenmythos.

Casa­ri­ni mach­te durch For­de­run­gen und Aktio­nen der „pro­le­ta­ri­schen Ent­eig­nung“ wei­ter­hin von sich reden. 2014 kan­di­dier­te er bei den Wah­len zum EU-Par­la­ment für die links­ra­di­ka­le Liste Tsi­pras – Das ande­re Euro­pa, ein Zusam­men­schluß von Kom­mu­ni­sten, Grü­nen, Pira­ten­par­tei und ande­ren Grup­pie­run­gen der radi­ka­len Lin­ken. 2015 wur­de er Vor­stands­mit­glied des Nach­fol­ge­pro­jekts, der neu­ge­grün­de­ten links­ra­di­ka­len Par­tei SEL – Lin­ke Öko­lo­gie Frei­heit, 2017 eben­so des näch­sten Fol­ge­pro­jekts SI – Ita­lie­ni­sche Lin­ke. Seit des­sen Grün­dung, an der er maß­geb­lich mit­wirk­te, gehört er dem Par­tei­vor­stand an und ist SI-Vor­sit­zen­der von Sizilien.

Sein neue­sten Akti­ons­feld fand er in der Refu­gee-Wel­co­me-Bewe­gung. Von Sizi­li­en aus lei­tet Casa­ri­ni seit März 2019 Aktio­nen der „See­not­ret­tung“ vor der Küste Liby­ens. Er ist das Aus­hän­ge­schild der NGO Medi­ter­ra­nea Saving Humans, die mit zwei Schif­fen die Mit­tel­meer­rou­te zwi­schen Nord­afri­ka und Ita­li­en befährt. Das Geld erhal­ten Casa­ri­ni und sei­ne Mit­strei­ter vor­wie­gend aus drei Quel­len: dem Mul­ti­mil­li­ar­där Geor­ge Sor­os, der 1998 in Padua gegrün­de­ten Ban­ca Eti­ca und dem in Deutsch­land ange­sie­del­ten Ver­ein Sea Watch, womit wir wie­der bei Sor­os wären. Die Grün­dung von Medi­ter­ra­nea Saving Humans erfolg­te im Okto­ber 2018, als Matteo Sal­vi­ni seit weni­gen Mona­ten neu­er ita­lie­ni­scher Innen­mi­ni­ster war und die Mit­tel­meer­rou­te still­zu­le­gen begann. Die No-Bor­der-Sze­ne woll­te durch Schif­fe, die unter ita­lie­ni­scher Flag­ge unter­wegs sind, die von Sal­vi­ni ver­häng­ten Restrik­tio­nen umge­hen. An die­ser Stel­le kam Casa­ri­ni ins Spiel und wur­de Medi­ter­ra­nea Saving Humans gegrün­det. Bei der Ban­ca Eti­ca wur­de als Start­hil­fe um einen Kre­dit in der Höhe von 400.000 Euro ange­sucht und von die­ser gewährt. Medi­ter­ra­nea Saving Humans war von Anfang an als geziel­te Speer­spit­ze gegen Sal­vi­ni und die Regie­rungs­be­tei­li­gung der Lega gedacht. Kri­ti­ker spre­chen von Taxi Casa­ri­ni Afrika–Europa. Die Staats­an­walt­schaft wirft Casa­ri­ni Begün­sti­gung der ille­ga­len Ein­wan­de­rung vor und ermit­telt gegen ihn

Papst Fran­zis­kus nennt den links­ra­di­ka­len Akti­vi­sten einen „Hel­den“.

Luca Casa­ri­ni als Kopf und Orga­ni­sa­tor der NGO Medi­ter­ra­nea Saving Humans

Primat des Geistlichen oder Primat der Politik? 

Damit kom­men wir zur Ana­ly­se von Prof. Rober­to Per­ti­ci, die er in Form eines Brie­fes an San­dro Magi­ster ver­faß­te. Anlaß ist der die auf­fäl­li­ge Beto­nung des Poli­ti­schen durch Papst Fran­zis­kus. Der Histo­ri­ker befaßt sich mit dem Ver­hält­nis zwi­schen Kir­che und Poli­tik in der Ver­gan­gen­heit und fragt, wor­in das Neue in der Hal­tung von Fran­zis­kus besteht.

„Der Brief von Papst Fran­zis­kus an die ‚Volks­be­we­gun­gen‘ und schon zuvor sei­ne Bot­schaft an Luca Casa­ri­ni waren für vie­le die Bestä­ti­gung für die abnor­me Rol­le der Poli­tik in sei­nem Lehr­amt – und zwar einer links­ra­di­ka­len Politik.“

Die „wirk­li­che Neu­heit“ von Fran­zis­kus sei aber nicht sein Hang zur Poli­tik, son­dern viel­mehr, daß er „Poli­tik expli­zit und direkt außer­halb der übli­chen theo­lo­gi­schen oder spi­ri­tu­el­len Ver­mitt­lung betreibt, die er inzwi­schen offen­sicht­lich für über­flüs­sig hält, und daß er es mit einer poli­ti­schen Kul­tur tut, die im Ver­gleich zu den gro­ßen Strö­mun­gen der zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur rand­stän­dig (‚peri­pher‘) ist.“

Prof. Rober­to Pertici

Die The­se „mag gewagt sein“, so Per­ti­ci, doch bei genau­er Betrach­tung las­se sich sagen, daß die Poli­tik im päpst­li­chen Lehr­amt, „zumin­dest seit der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on immer ein sehr gro­ßes Gewicht hat­te, manch­mal sogar mehr als der eigent­li­che reli­giö­se Diskurs“.

In der Ver­gan­gen­heit wur­de das aller­dings nie so offen gezeigt wie unter Papst Fran­zis­kus. Wenn die Kir­che über Poli­tik sprach, habe sie das mit der Spra­che und den Argu­men­ten frü­he­rer Jahr­hun­der­te getan und sehr indi­rekt. „Theo­lo­gie und Poli­tik stan­den aber immer in Ver­bin­dung und es war nicht gesagt, daß erste­re immer letz­te­re bedingte.“

Das habe vor allem damit zu tun gehabt, daß die Kir­che nach der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on auf­hör­te, das Gan­ze zu sein. Das galt auch für die katho­li­schen Gesell­schaf­ten Europas. 

„Sie war zu einem Teil gewor­den und bald auch zu einer Par­tei, ‚ le par­ti prêt­re‘, wie die fran­zö­si­schen Libe­ra­len bereits nach 1815 sag­ten. Es war die Zeit von Rouge und Noir, um es mit Stendhal zu sagen, und die Kir­che stand auf der Sei­te von Noir.“

Die Kir­che habe ihre guten Grün­de dafür gehabt, so der Historiker:

„Das revo­lu­tio­nä­re Trau­ma war immens. Sie hat­te zwei­mal die Abschaf­fung der zeit­li­chen Macht der Päp­ste erlebt. Zwei­mal wur­den die Päp­ste für lan­ge Zeit zu Gefan­ge­nen. 1799, als Pius VI. starb, gab es vie­le, die hoff­ten oder befürch­te­ten, daß sogar die apo­sto­li­sche Suk­zes­si­on abbre­chen würde.“

Nach 1815 mach­te sich in der euro­päi­schen Gesell­schaft eine „ängst­li­che Restau­ra­ti­on“ breit, „zu deren Inter­pre­tin sich die Kir­che mach­te, und die sie in einem ambi­va­len­ten Ver­hält­nis mit der poli­ti­schen Macht förderte“. 

„Ambi­va­lent“ , so Per­ti­ci, weil „kein Sou­ve­rän zu einer wirk­li­chen Wie­der­her­stel­lung (Restau­ra­ti­on) der Socie­tas chri­stia­na bereit war“.

Eine Rei­he katho­li­scher Den­ker wur­den sich des­sen bald bewußt und sag­ten: „Wenn die Din­ge so lie­gen, ist es bes­ser, daß sich die Kir­che nicht län­ger mit die­sen Staa­ten kom­pro­mit­tiert, son­dern Abstand gewinnt und damit begin­nen soll­te, an ihre Frei­heit zu denken.“

Seit­her, so Per­ti­ci, waren alle aus dem katho­li­schen Bereich her­vor­ge­gan­ge­nen kul­tu­rel­len, theo­lo­gi­schen und phi­lo­so­phi­schen Bewe­gun­gen „poli­tisch“, „ob die von Anto­nio Graf Ros­mi­ni inspi­rier­ten Strö­mun­gen im Ita­li­en der 1830er und 1840er Jah­re oder die Wie­der­ge­burt des eng­li­schen Katho­li­zis­mus Mit­te des 19. Jahrhunderts“.

„Die Ent­ste­hung des päpst­li­chen Syl­labus von 1864 kann man ohne den Schock von 1848/​49 nicht ver­ste­hen, der eine wei­te­re Besei­ti­gung der welt­li­chen Macht und die Auf­rich­tung der roten Fah­nen in den ver­schie­de­nen euro­päi­schen Revo­lu­tio­nen bedeu­te­te. In Rom stand Giu­sep­pe Mazzini an der Spit­ze einer Repu­blik der ‚Teu­fel und Frei­mau­rer‘, wie man damals sagte.“

Das zei­ge, daß der kirch­li­che Dis­kurs auch damals „emi­nent poli­tisch“ war. Es genügt, die erste Aus­ga­be der römi­schen Jesui­ten­zeit­schrift La Civil­tà Cat­to­li­ca vom 6. April 1850 durch­zu­blät­tern, deren Grün­dung eine direk­te Reak­ti­on auf die­se Ereig­nis­se war. Genau­so wie ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter der Moder­nis­mus nicht nur eine theo­lo­gi­sche und phi­lo­so­phi­sche Bewe­gung war, son­dern auch eine poli­ti­sche, war auch der Anti­mo­der­nis­mus ein poli­ti­scher Fak­tor wie Gestal­ten wie Charles Maur­ras und Jac­ques Mari­tain belegen.

Das­sel­be galt für den Renou­veau catho­li­que am Über­gang vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert, der „letz­ten gro­ßen katho­li­schen Kul­tur­be­we­gung“, der es gelang, über die enge­ren Gren­zen hin­aus zu wir­ken: Péguy, Ber­na­nos, Clau­del, Mau­riac, Eli­ot, Che­ster­ton, Gra­ham Gree­ne, Hilai­re Bel­loc, Sig­rid Und­set und ande­re mehr. 

„Poli­tisch“ war auch die päpst­li­che Ver­ur­tei­lung der Action Fran­çai­se, die vor allem mit der Ent­schlos­sen­heit zu tun hat­te, daß die Kir­che die katho­li­schen Kräf­te auch auf poli­ti­scher Ebe­ne nicht außer­kirch­li­chen Kräf­ten über­las­sen woll­te. Aus dem­sel­ben Grund kam es zwi­schen 1931 und 1938 zu Kon­flik­ten zwi­schen dem Hei­li­gen Stuhl und dem ita­lie­ni­schen Faschismus.

„Bekann­ter­ma­ßen führ­te die päpst­li­che Ver­ur­tei­lung der Maur­ras-Bewe­gung in Frank­reich zum lan­gen Durch­marsch des katho­li­schen Pro­gres­sis­mus, der in den Ereig­nis­sen der fol­gen­den 50 Jah­re eine ent­schei­den­de Rol­le spie­len sollte.“

Mari­tain sprach von einem „Pri­mat des Spi­ri­tu­el­len“, der wie­der­zu­ge­win­nen sei. Glei­ches tat die Katho­li­sche Akti­on in Ita­li­en, als sie in den 70er Jah­ren die „Reli­giö­se Ent­schei­dung“ pro­pa­gier­te. In Wirk­lich­keit stand hin­ter die­sen Wei­chen­stel­lun­gen „ein neu­es, ande­res poli­ti­sches Projekt“.

„Auch die ver­brei­te­te Feind­se­lig­keit gegen­über Bene­dikt XVI. von gro­ßen Tei­len des zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur­be­triebs und auch des katho­li­schen Estab­lish­ments war in erster Linie politisch.“

Der Grund ist im Zusam­men­fal­len bestimm­ter Ereig­nis­se und Ent­wick­lun­gen zu suchen, der in die­sen Krei­sen den Ein­druck ent­ste­hen ließ, daß das Wir­ken von Joseph Kar­di­nal Ratz­in­ger und das Lehr­amt von Papst Bene­dikt XVI. ein Teil die­ser Ent­wick­lun­gen war, kon­kret die Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen des Mar­xis­mus, der Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus in Euro­pa, die Dis­kus­si­on über das Schick­sal und die Iden­ti­tät des Westens nach den Angrif­fen auf die Zwil­lings­tür­me 2001 und die Ver­tei­di­gung und Aus­brei­tung der katho­li­schen Tradition. 

Die­se Krei­se befürch­te­ten das Wie­der­erstar­ken eines phi­lo­so­phisch-kul­tu­rel­len Kon­ser­va­ti­vis­mus, des­sen Stun­de mit 1989 anzu­bre­chen schien.

Per­ti­ci erwähnt als Bei­spiel den vor kur­zem ver­stor­be­nen Hen­ri Tin­cq (1945–2020), der von 1985 bis 2008 Vati­ka­nist von Le Mon­de war. Tin­cq sprach von einem „Ein­frie­ren“ von Dok­trin, Moral und Dis­zi­plin in der Kir­che, wodurch sie unfä­hig wer­de, auf die Her­aus­for­de­run­gen der Zeit zu reagieren.

„Für ihn und sei­ne Zei­tung gab es kei­ne Zwei­fel: Das Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum der Kir­che hat­te sich ‚nach rechts‘ verschoben.“

Ver­wen­det ein Teil, von dem sich ein ande­rer Teil bedroht fühlt, eine poli­ti­sche Spra­che, wer­de sich auch der ande­re Teil zuneh­mend eine sol­che zule­gen. Die­se Ent­wick­lung läßt sich unter Papst Fran­zis­kus beobachten.

Die Politisierung der Gesellschaft seit der Französischen Revolution

Per­ti­ci gibt zu, daß sei­ne Ana­ly­se sich vor allem auf die Ent­schei­dungs­trä­ger bezieht. Es sei eben schwie­rig, „die poli­ti­sche Aus­wir­kung im reli­giö­sen Leben der vie­len ‚paysans de La Garon­ne‘ der ver­gan­ge­nen 200 Jah­re zu erheben“.

Tat­sa­che sei jeden­falls, daß sich schon in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der, „bewußt und unbe­wußt“, Poli­tik und Reli­gi­on auf viel­fäl­ti­ge Wei­se ver­meng­ten. Ent­schei­dend sei des­halb, die Grün­de zu ver­ste­hen, die in den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­hun­der­ten zu einem „Pri­mat der Poli­tik“ geführt haben. Die neue Geschichts­sicht, die aus der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on her­vor­ging, stell­te die Kir­che vor neue Her­aus­for­de­run­gen, die von emi­nent poli­ti­scher Rele­vanz waren. Eine die­ser Fra­gen war, wel­che Hal­tung sie gegen­über dem Ver­fas­sungs­staat ein­neh­men soll­te. Es folg­ten zahl­rei­che wei­te­re: Wel­che Hal­tung soll­te sie gegen­über der Indu­stri­el­len Revo­lu­ti­on, dem Ende der Agrar­ge­sell­schaft, dem Klas­sen­kampf, dem Sozia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus, der Besei­ti­gung der Kai­ser­rei­che, der Her­aus­bil­dung der Natio­nal­staa­ten und des Natio­na­lis­mus, dem Tota­li­ta­ris­mus, dem Ende des Euro­zen­tris­mus, der Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung, der Drit­ten Welt usw. ein­neh­men. Die Auf­zäh­lung lie­ße sich fortsetzen.

„Es gibt aber noch etwas weni­ger Offen­sicht­li­ches und Tieferes.“

Und dar­in sieht Per­ti­ci den Schlüs­sel zur aktu­el­len Entwicklung. 

Mit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on setz­te ein inten­si­ver Poli­ti­sie­rungs­pro­zeß der Gesell­schaft ein, mit dem deren „Ent­spi­ri­tua­li­sie­rung“ ein­her­ging. In den ver­gan­ge­nen 200 Jah­ren ersetz­te eine „neue Ethik“ die „alte katho­li­sche Moral“, die auf der per­sön­li­chen Sün­de und auf Him­mel und Höl­le grün­det, wie der lai­zi­sti­sche Histo­ri­ker Rosa­rio Romeo (1924–1987) zu sagen pflegte. 

Laut Romeo erfolg­te die­ser Para­dig­men­wech­sel, weil in der Gesell­schaft „poli­ti­sche Wer­te einen immer grö­ße­ren Raum“ ein­nah­men. Per­ti­ci ver­an­schau­licht die Aus­sa­ge, indem er dar­auf ver­weist, daß vie­le Zeit­ge­nos­sen „per­plex“ sei­en, wenn sie von der Kir­che als „mysti­schen Leib Chri­sti“ spre­chen hören, wäh­rend sie – egal wie sie dazu ste­hen – die Kir­che bestens ver­ste­hen, wenn sie sich in den Kate­go­rien einer ethi­schen oder ethisch-poli­ti­schen Insti­tu­ti­on bewegt. 

Die von Franziskus akzeptierte „anthropologische Wende“

Der Pro­zeß der „anthro­po­lo­gi­schen Wen­de“ sei von einem erheb­li­chen Teils des heu­ti­gen Katho­li­zis­mus zur Kennt­nis genom­men wor­den. Ihn zu akzep­tie­ren, wird von die­sem Teil als ein­zi­ge Mög­lich­keit gese­hen, in der Gesell­schaft wie­der einen Raum für eine christ­li­che Prä­senz zu fin­den. Dar­in, so Per­ti­ci, sei der Grund zu suchen, war­um Papst Fran­zis­kus in sei­ner Oster­bot­schaft an die „Volks­be­we­gun­gen“ eine „aus­schließ­lich poli­ti­sche Auf­er­ste­hung“ ver­tritt und so häu­fig von Öko­lo­gie und Drit­ter Welt spricht.

„Ich glau­be aber, daß eine poli­ti­sche Span­nung unter ent­ge­gen­ge­setz­ten Vor­zei­chen auch in vie­len sei­ner inner­kirch­li­chen Geg­ner vor­han­den ist.“

Wenn sie sich auf einen „Pri­mat des Geist­li­chen“ beru­fen, der anstel­le der poli­ti­schen Linie von Papst Fran­zis­kus wie­der­ge­won­nen wer­den müs­se, mei­nen auch sie eine „ande­re Poli­tik“, so wie das im katho­li­schen Pro­gres­sis­mus der Nach­kriegs­zeit der Fall war, als er einen „Pri­mat des Spi­ri­tu­el­len“ for­der­te, aber auch und nicht zuletzt eine ande­re poli­ti­sche Idee vertrat.

Per­ti­ci beschließt sei­ne Ana­ly­se über die Bedeu­tung des Poli­ti­schen in der Kir­che und dem Vor­rang des Poli­tik bei Papst Fran­zis­kus mit einer Aus­sa­ge von Papst Bene­dikt XVI., der am 19. Okto­ber 2006 in Vero­na dar­auf auf­merk­sam mach­te, daß die Säku­la­ri­sie­rung nicht nur in der Welt rund um die Kir­che statt­ge­fun­den, son­dern auch die Kir­che selbst erfaßt habe:

„Ler­nen wir, jener ‚inne­ren Säku­la­ri­sie­rung‘ zu wider­ste­hen, die die Kir­che in unse­rer Zeit bedroht, als Fol­ge der Säku­la­ri­sie­rungs­pro­zes­se, die die euro­päi­sche Zivi­li­sa­ti­on tief geprägt haben.“

Dazu merkt Prof. Per­ti­ci abschlie­ßend an:

„Der ‚Pri­mat der Poli­tik‘ in den ver­schie­de­nen und wider­sprüch­li­chen For­men sei­nes öffent­li­chen Dis­kur­ses ist eine der ekla­tan­te­sten Erschei­nun­gen die­ser ‚inne­ren Säku­la­ri­sie­rung‘ in der Kirche.“

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wikicommons/MiL/Vatican.va (Screen­shot)

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  1. Der Pri­mat der Poli­tik. Das ist es was dem Petrus­amt unse­rer Tage immer mehr sei­ne Leucht­kraft nimmt, und die­sem mehr und mehr Ambi­va­lenz gibt. Es ist weni­ger die Unver­söhnt­heit mit den Zustän­den der Welt, als viel­mehr die unwill­kür­lich zuge­ge­be­ne Unver­söhnt­heit mit der Kir­che selbst, sowie den Insi­gni­en des Papst­am­tes, was die­se Ambi­va­lenz aus­löst. Die tie­fe inne­re Abnei­gung scheint dabei an den Remi­nis­zen­zen könig­li­cher Wür­den beson­de­ren Aus­druck zu fin­den. Zugleich jedoch wird die inha­rän­te Macht­fül­le die­ses Prin­zips frag­los ange­nom­men und mit vol­ler Wucht aus­ge­übt. Der äusser­li­che Prunk des Papst­am­tes, wel­che dem Herrn und Erlö­ser als wah­ren König zukommt, wird nicht mehr in sicht­ba­rer Wei­se ver­wal­tet und zum Aus­druck gebracht. Dabei gibt die­se Aus­drucks­form dem Dienst aber nicht nur Wür­de son­dern auch eine gewis­se Mil­de, und Welt­ab­ge­kehrt­heit, wäh­rend dem puri­t­in­isch ersch­ei­enen­den Aus­druck sowohl der Glanz, wie auch die Mil­de fehlt. Man mag zeit­ge­mä­sser erschei­nen, aber genau das macht die Erschei­nung auch käl­ter, ratio­na­ler, und ver­welt­lich­ter. Wenn dazu noch unter­schwel­lig die Infra­ge­stel­lung von Glau­bens­in­hal­ten demon­striert wird, muss es zwangs­läu­fig die­je­ni­gen, die mit der bis­he­ri­gen Kir­che ver­söhnt gelebt und die­se auch geliebt haben, irri­tie­ren und schwä­chen. Zugun­sten jenes Teils, die zumin­dest in wei­ten Tei­len unver­sönt mit die­ser Kir­che gelebt haben, holt es nicht
    zurück, wie man zah­len­mä­ssig an den Früchch­ten „des Kon­zils“ fest­stel­len muss. Der Links­ruck in der Hier­ar­chie der Kir­che ist des­halb auch kaum das Mit­tel ihrer Kon­so­li­die­rung und ihres Missionsauftrages.

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