Nach der EU-Wahl: Die Zukunft Europas und der Kirche – Nachlese und Ausblick

Am Tag nach der Wahl zum EU-Parlament


Papst Franziskus vor dem Europäischen Parlament (25. November 2014): Wie geht es mit der EU und mit der Kirche in Europa weiter?

Von Giu­sep­pe Nar­di und Andre­as Becker.

Anzei­ge

Nicht Euro­pa, aber zumin­dest die EU-Mit­glieds­staa­ten (noch ein­schließ­lich Groß­bri­tan­ni­en) haben ein neu­es EU-Par­la­ment gewählt. Es geht, um die „Zukunft Euro­pas“, hieß es im Vor­feld. Auch die Kir­che, die sich erstaun­lich mas­siv in den Wahl­kampf ein­brach­te, wird über ihre Zukunft nach­den­ken müs­sen. Eine klei­ne, etwas ande­re Wahl-Nach­le­se und ein Aus­blick auf die Zukunft Euro­pas (nicht der EU), aber auch der Kir­che. Letz­te­res anhand der Ana­ly­se eines lai­zi­sti­schen Philosophen.

Die Wahl zum neu­en EU-Par­la­ment brach­te eine Rei­he von Ver­än­de­run­gen nicht uner­heb­li­chen Aus­ma­ßes. Christ­de­mo­kra­ten (EVP) und Sozi­al­de­mo­kra­ten (S&D) ver­fü­gen erst­mals über kei­ne Mehr­heit mehr im neu­en Par­la­ment. Der Nie­der­gang der klas­si­schen Volks­par­tei­en der Nach­kriegs­zeit ist unüber­seh­bar. Zwei poten­ti­el­le Koali­ti­ons­part­ner ste­hen bei Fuß: die Libe­ra­len und die Grü­nen. Aller­dings sind die Frak­tio­nen intern sehr hete­ro­gen. Das Spek­trum ist breit und oft ein kaum hand­hab­ba­rer Spa­gat. Das gilt etwa für die Grü­nen, bei denen – was in den Pro­jek­tio­nen kaum aus­ge­wie­sen wird – ein Teil der Frak­ti­on in Wirk­lich­keit von der EFA gebil­det wird, in der die natio­na­len Min­der­hei­ten orga­ni­siert sind. Sie bil­den ledig­lich eine Frak­ti­ons­ge­mein­schaft mit den Grü­nen. In der EVP sind Par­tei­en dabei, wie in Ungarn und Slo­we­ni­en, die dort stärk­ste Grup­pie­rung wur­den, aber den EU-kri­ti­schen Par­tei­en um Sal­vi­ni näher­ste­hen als Mer­kels „Wir schaf­fen das“. Das­sel­be gilt für die Liberalen.

Wie sehr von „Euro­pa“ gere­det wird, obwohl die EU gemeint ist, aber wie wenig selbst die­se EU (geschwei­ge denn Euro­pa) selbst in den Köp­fen­von soge­nann­ten Pro-Euro­pä­ern ange­kom­men ist, zeigt die Wahl­be­richt­erstat­tung in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Im Mit­tel­punkt steht der Wahl­er­folg der Grü­nen, über den sich vie­le Jour­na­li­sten sicht­lich freu­ten. Die­se Par­tei und vie­le Pres­se­ver­tre­ter erklä­ren den „Kli­ma­schutz“, was immer das auch sein soll­te, zum ent­schei­den­den The­ma des grü­nen Wahl­er­fol­ges und der künf­ti­gen Poli­tik des EU-Parlaments. 

Nicht gesagt wur­de, daß die Beto­nung der 20 Pro­zent der Grü­nen in Deutsch­land rei­ne Nabel­schau sind, denn sie machen im EU-Par­la­ment kei­ne drei Pro­zent aus. In Frank­reich sind die Grü­nen, ein Export­ar­ti­kel „Made in Ger­ma­ny“ (ali­as Dani­el Cohn Ben­dit) nur halb so stark. In vie­len EU-Mit­glieds­staa­ten spie­len sie über­haupt kei­ne Rol­le. Sogar in Schwe­den, dem Hei­mat­land von Gre­ta Thun­berg haben die Grü­nen ver­lo­ren, weil in den ver­gan­ge­nen Wochen damit begon­nen wur­de, die Hin­ter­män­ner und Strip­pen­zie­her von Kli­ma-Gre­ta aufzudecken.

Vor allem spielt der „Kli­ma­schutz“ (und noch ein­mal: Was immer das sein soll) in vie­len EU-Mit­glieds­staa­ten kei­ne Rol­le. Man hat wich­ti­ge­re The­men, als sich den Luxus grü­nen Sand­ka­sten­spie­le aus Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung und irra­tio­na­lem Kata­stro­phis­mus zu lei­sten. Daß dahin­ter vor allem ein tun­lichst ver­schwie­ge­nes Mil­li­ar­den­ge­schäft steckt, man den­ke an den CO2-Emis­si­ons­rech­te­han­del (nur ein Aspekt), wis­sen im Volk fast nur Insi­der. Der grü­ne Höhen­flug funk­tio­niert in der Bun­des­re­pu­blik auch nur, weil die Medi­en die­ses The­ma flei­ßig rei­ten. Das Wahl­er­geb­nis dem­entspre­chend weni­ger das Den­ken der Men­schen wider, son­dern vor allem die vor­ge­ge­be­ne Mei­nung der Massenmedien.

Die neue EU-Landkarte, die nachdenklich stimmen sollte

Der Blick auf die Land­kar­te ist dem­nach wie meist sehr sinn­voll und im kon­kre­ten Fall ernüch­ternd. Öster­reich ist wegen der engen Ver­quickung von öffent­li­chem Dis­kurs und Wirt­schaft zum „deut­schen Block“ zu zäh­len wie die Nie­der­lan­de und Luxem­burg. Der Blick muß dar­über hin­aus­ge­hen, wenn man begrei­fen will, was gestern wirk­lich gesche­hen ist. 

Die Kom­men­ta­to­ren haben es am Wahl­abend durch die Bank ver­schwie­gen, doch die Rea­li­tät ist uner­bitt­lich. Pro-EU-Deutsch­land ist „umzin­gelt“ von Staa­ten, in denen EU-kri­ti­sche Par­tei­en gewon­nen haben. Man­fred Weber defi­nier­te, daß der „Wahl­sie­ger“ jene Par­tei sei, die stärk­ste Kraft in einem Land wur­de. Dem­nach muß gesagt wer­den, daß Ber­lin von einem Cor­don EU-kri­ti­scher Staa­ten umge­ben ist. Das gilt vor allem für die drei größ­ten EU-Mit­glieds­staa­ten hin­ter Deutschland. 

In Groß­bri­tan­ni­en sieg­te Nigel Fara­ge mit sei­ner Brexit Par­ty. Er wur­de nach Man­da­ten sogar stärk­ste Par­tei im EU-Par­la­ment. In Ita­li­en sieg­te Matteo Sal­vi­ni mit sei­ner Lega und wur­de zweit­stärk­ste Par­tei im EU-Par­la­ment. In Frank­reich sieg­te Mari­ne Le Pen mit ihrem Ras­sem­blem­ent Natio­nal. In Bel­gi­en sieg­ten die flä­mi­schen Natio­na­li­sten, in Polen die katho­lisch-kon­ser­va­ti­ve PiS und in Ungarn und Slo­we­ni­en zwar EVP-Par­tei­en, die aber Sal­vi­ni und sei­ner Alli­anz näher ste­hen, als der bis­he­ri­gen EU-Mehr­heit. Das gilt für Vik­tor Orban uns sei­ne Fidesz und für den Wahl­sie­ger in Slo­we­ni­en, der wie­der­um Orban nahesteht. 

Die­se „Ein­krei­sung“ mögen bun­des­deut­sche Poli­ti­ker und Medi­en vor ihren Bür­gern geheim­hal­ten kön­nen, an der Wirk­lich­keit kön­nen sie damit aber nichts ändern. Die­se Zwei­tei­lung der EU in einen deutsch-geführ­ten Block auf der einen Sei­te, dem fast alle ande­ren, rele­van­ten Staa­ten gegen­über­ste­hen, soll­te die Alarm­glocken läu­ten las­sen, daß etwas an der ver­brei­te­ten Pro-EU-Rhe­to­rik des „Mit­ein­an­der“, „Auf­ein­an­der­zu­ge­hen“, „Gemein­sam“ nicht ganz stim­men kann.

Vor allem ist es Ber­lin in der Geschich­te nicht bekom­men, wenn es von Staa­ten umge­ben war, des­sen stärk­ste poli­ti­sche Kräf­te sich in einem Inter­es­sens­kon­flikt mit Deutsch­land sahen. Hier wür­de ein Moment des Inne­hal­tens und des nüch­ter­nen Nach­den­kens not tun. Es wäre alle­mal emp­feh­lens­wer­ter als ein unge­rühr­tes „Wei­ter so“, das schnell als rück­sichts­los emp­fun­den wer­den könn­te. Unver­ständ­nis hilft nicht wei­ter, son­dern Ana­ly­se und Fak­ten­be­zug: Der Auf­stie­ge bei­spiels­wei­se von Sal­vi­ni in Ita­li­en ist nicht zuletzt ein, wenn auch unge­woll­tes Pro­dukt von Brüs­sel und Berlin.

Und noch ein Wort zu Öster­reich. Die öster­rei­chi­schen Wäh­ler haben mehr Ver­stand bewie­sen als so man­cher Poli­ti­ker. Sie haben den Ver­such, die demo­kra­tisch gewähl­te Regie­rung mit schmut­zi­gen Metho­den aus dem Hin­ter­halt abzu­schie­ßen, nicht gut­ge­hei­ßen. Durch unklu­ges Han­deln von Bun­des­kanz­ler Seba­sti­an Kurz kann die bis­he­ri­ge Regie­rungs­ko­ali­ti­on gegen den Wil­len der öster­rei­chi­schen Mehr­heit den­noch zu einem uner­war­te­ten Ende kom­men. Dabei leh­nen zwei Drit­tel der Öster­rei­cher Neu­wah­len ab, schließ­lich haben sie den bür­ger­li­chen Par­tei­en erst Ende 2017 einen kla­ren Regie­rungs­auf­trag erteilt. Die Fra­ge nach dem Cui bono des hin­ter­häl­ti­gen Vide­os wird nach dem Wahl­tag nach einer Klä­rung ver­lan­gen. Von links geheu­chel­te Empö­rung, die durch deren Medi­en­kon­trol­le zum Sturm auf­ge­bla­sen wur­de, ändert nichts dar­an, daß die ein­zi­ge Straf­tat an der Sache, eine mit kri­mi­nel­ler Ener­gie, von lan­ger Hand geplan­te Lock­vo­gel-Fal­le ist. Selbst CDU-Poli­ti­kern däm­mer­te es, nach SPD- und Grü­nen-Poli­ti­ker von Ber­lin aus sich mit unfaß­ba­rer Arro­ganz in Öster­reichs Innen­po­li­tik ein­misch­ten und Rück­trit­te und Neu­wah­len for­der­ten, daß Gefahr im Ver­zug ist. Was bleibt schließ­lich von der Demo­kra­tie, der Volks­herr­schaft, wenn mit schmut­zi­gen Metho­den selbst die mini­ma­le Bür­ger­be­tei­li­gung (der Sou­ve­rän Bür­ger darf ja nur alle vier bis fünf Jah­re ein­mal bei Wah­len ein Kreuz­chen machen) ad absur­dum geführt wer­den kann, weil vom Wäh­ler beauf­trag­te Mehr­hei­ten aus dem Hin­ter­halt abge­schos­sen wer­den kön­nen, weil sie bestimm­ten Krei­se nicht genehm sind. Tat­sa­che ist, daß die SPÖ und die ihnen nahe­ste­hen­den Medi­en (allen vor­an der öffent­lich-recht­li­che ORF) erstaun­lich gut auf die „Video-Bom­be aus Ibi­za“ vor­be­rei­tet waren. Man erin­ne­re sich: Vor den Par­la­ments­wah­len 2017 war bekannt­ge­wor­den, daß eben die­se SPÖ mit schmut­zi­gen Kam­pa­gnen (Dir­ty Cam­paig­ning) der ÖVP und der FPÖ aus dem Hin­ter­halt zu scha­den ver­such­te. Die Sache flog auf, weil der Wahl­kampf­stra­te­ge Tal Sil­ber­stein (die, die im Dun­keln sit­zen, sieht man nicht) wegen ande­rer zwei­fel­haf­ter Geschäf­te in Isra­el ver­haf­tet wur­de. Das Ibi­za-Video wur­de drei Wochen vor Sil­ber­steins Ver­haf­tung auf­ge­nom­men und dürf­te eigent­lich schon für die Par­la­ments­wah­len 2017 geplant gewe­sen sein. Damals kam dann aber alles etwas anders. 

In Ita­li­en, was eine Erwäh­nung wert ist, haben weder die Libe­ra­len noch die Grü­nen noch die radi­ka­le Lin­ken den Ein­zug in das Euro­pa­par­la­ment geschafft. Die Lega ist mit fast 35 Pro­zent der Stim­men der gro­ße Wahl­sie­ger. Sal­vi­ni wäre nicht Sal­vi­ni und sei­ne Popu­la­ri­tät nicht die, die sie ist, wenn er nicht gleich nach der Wahl den Rosen­kranz geküßt hät­te. Die Sache mag deut­scher Nüch­tern­heit unge­wöhn­lich Erschei­nen, soll­te aber aus der Per­spek­ti­ve der Ita­lie­ner bewer­tet wer­den. Zur Erin­ne­rung: Weil er die hei­li­gen Patro­ne Euro­pas, das Unbe­fleck­te Herz Mari­ens und den Rosen­kranz im erwähnt hat­te, war er nicht nur von Libe­ra­len und Lin­ken mit Spott über­schüt­tet wor­den, son­dern auch von Bischö­fen und Papst-Ver­trau­ten attackiert wor­den. Er beharr­te nun dar­auf, küß­te den Rosen­kranz und dank­te – allen zum Trotz – dem Himmel. 

Die Politisierung der Kirche ist eine Sackgasse

Die Poli­ti­sie­rung der Kir­che, wie sie unter Papst Fran­zis­kus statt­fin­det, führ­te bis­her in eine Sack­gas­se. Die Par­tei­en (der Lin­ken), die dem der­zei­ti­gen Papst sym­pa­thisch sind, wol­len von Reli­gi­on im öffent­li­chen Raum nichts wis­sen. Und die Par­tei­en, die der Reli­gi­on auch im öffent­li­chen Raum Sicht­bar­keit ver­schaf­fen, sind dem Papst und sei­nen Ver­trau­ten unsym­pa­thisch. Es ist eine selt­sa­me Sche­ren­be­we­gung, die hier statt­fin­det. Sal­vi­ni ist seit gestern nicht nur in Ita­li­en, son­dern auch auf EU-Ebe­ne zu einer zen­tra­len Figur des poli­ti­schen und ins­ge­samt des öffent­li­chen Lebens geworden.

Schuh­kuß von Papst Fran­zis­kus (süd­su­da­ne­si­sche Par­tei­füh­rer) und Matteo-Sal­vi­ni (Lega) mit dem Evan­ge­li­um und dem Rosen­kranz (jeweils 2019).

Wie will und wird nun aber die Kir­che auf die­se Situa­ti­on reagie­ren? Papst Fran­zis­kus, sei­ne Ver­trau­ten und auf sein Geheiß hin auch etli­che Bischö­fe in den ein­zel­nen EU-Mit­glieds­staa­ten haben sich vor den Wah­len weit aus dem Fen­ster gelehnt. Die Fol­gen? Bei vie­len prak­ti­zie­ren­den Katho­li­ken hat dies ent­täusch­tes und ver­är­ger­tes Stau­nen aus­ge­löst. Bei der kir­chen­fer­nen Lin­ken hin­ge­gen erfreu­tes Stau­nen. Wer hät­te sich vor weni­gen Jah­ren auf die­ser Sei­te träu­men las­sen, ein­mal vom Papst und Vor­sit­zen­den der Bischofs­kon­fe­ren­zen Wahl­hil­fe zu bekom­men. Für Fran­zis­kus sind „Recht auf Migra­ti­on“ und der omi­nö­se „Kli­ma­schutz“ die zen­tra­len The­men. Genau so behaup­ten es die Grü­nen. Eine unge­wöhn­li­che Allianz.

Noch etwas läßt sich dar­aus able­sen und dürf­te oder soll­te unter Euro­pas Katho­li­ken nach­denk­lich stim­men. Unter dem argen­ti­ni­schen Papst inter­es­siert sich der Vati­kan immer weni­ger für Euro­pa. Eine links­ori­en­tier­te EU ist dem Papst zwar sym­pa­thisch, aber wirk­li­che Sym­pa­thien für Euro­pa und den Westen hegt er nicht. Den Abge­ord­ne­ten in Straß­burg schrieb er bei sei­nem Besuch ins Stamm­buch, daß Euro­pa mehr einem EU-Opa glei­che. Mit ande­ren Wor­ten: Die­ses Euro­pa stirbt, und – weit erstaun­li­cher – den Papst scheint es nicht son­der­lich zu stö­ren. Und was den übri­gen Westen betrifft, arbei­tet er ohne­hin eif­rig an der Zurück­drän­gung des US-Einflusses.

Zuge­ge­ben: Beson­ders erfolg­reich war die poli­ti­sche Stra­te­gie, des „Poli­ti­kers auf dem Papst­thron“ bis­her nicht. Das macht die gan­ze Sache noch bedenk­li­cher, denn die­se „poli­ti­sche Agen­da“ bringt nicht nur Unru­he in die Katho­li­zi­tät, son­dern trägt die Spal­tung in die katho­li­schen Gemein­schaf­ten hin­ein. In Ita­li­en haben sich in der End­pha­se des Wahl­kamp­fes Klö­ster hin­rei­ßen las­sen, Trans­pa­ren­te gegen Sal­vi­ni und die Lega aus­zu­hän­gen, her­ge­stellt wie sie von der radi­ka­len Lin­ken und der Anti­fa bekannt sind. Die dar­auf auf­ge­sprüh­ten Paro­len stamm­ten aus eben die­sem Lager und waren ent­spre­chend pola­ri­sie­rend. Eine sol­che Form des Polit­ak­ti­vis­mus gab es bis­her nicht. Vor allem erstaunt, daß Klo­ster­frau­en in über­al­ter­ten Kon­ven­ten so han­deln. Insi­der spre­chen am kon­kre­ten Bei­spiel eines Klo­sters in Apu­li­en davon, daß die Ordens­frau­en in Wirk­lich­keit wenig Ahnung vom poli­ti­schen Gesche­hen hät­ten, aber „von oben“ eine Wei­sung bekom­men hät­ten. Der­glei­chen ist auch aus Öster­reich bekannt, wo Kar­di­nal Chri­stoph Schön­born bei den Bun­des­prä­si­den­ten­wah­len 2016 wie aus zuver­läs­si­ger Quel­le zu hören war, die Frau­en­klö­ster auf­for­der­te, den links­grü­nen Kan­di­da­ten Alex­an­der Van der Bel­len zu wäh­len. Abtrei­bungs­be­für­wor­tung oder Logen­mit­glied­schaft, um nur zwei Aspek­te zu nen­nen, spiel­ten für die kirch­li­che Hier­ar­chie offen­sicht­lich kei­ne Rol­le. Die sol­cher­ma­ßen in Bewe­gung gesetz­te fromm-katho­li­sche Wahl­hil­fe gab am Wahl­tag den Ausschlag.

Und die Zukunft der Kirche in Europa?

In Ita­li­en haben sich zwei Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, Ange­lo Pane­bi­an­co und Ser­gio Belar­di­nel­li, mit der Zukunft Euro­pas und der Kir­che befaßt. Bei­de, Pane­bi­an­co als Katho­lik, Belar­di­nel­li als Lai­zist, sehen den frei­heit­li­chen Rechts­staat als größ­te Errun­gen­schaft Euro­pas. Bei­de sehen die­sen als direk­tes Ergeb­nis der christ­li­chen Tra­di­ti­on. Wäh­rend Pane­bi­an­co die Fra­ge mehr unter dem geo­po­li­ti­schen Gesichts­punkt ana­ly­siert, geht Belar­di­nel­lis Blick mehr auf den kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Aspekt ein. Bei­de ver­su­chen auch einen Aus­blick in die Zukunft, wie es im Ver­hält­nis zwi­schen der katho­li­schen Kir­che und Euro­pa wei­ter­ge­hen könn­te. An die­ser Stel­le soll vor allem Belar­di­nel­lis Ana­ly­se interessieren.

Der Lai­zist Belar­di­nel­li legt sei­nen Über­le­gun­gen das Den­ken des jüdi­schen Phi­lo­so­phen Leo Strauß (1899–1973) zugrun­de. Der Zio­nist Strauß schrieb bereits Anfang der 30er Jah­re, daß er auf die Fra­ge, ob er Deut­scher oder Jude sei, ant­wor­ten wür­de, er sei Jude. 1932 ver­ließ er das Deut­sche Reich ging aller­dings nicht nach Palä­sti­na, son­dern in die USA. Sein dort ent­fal­te­tes wis­sen­schaft­li­ches Wir­ken ging von der Grund­über­zeu­gung eines unüber­wind­li­chen Gegen­sat­zes zwi­schen Jeru­sa­lem und Athen aus. Die noch um die Zeit Jesu aku­te Fra­ge eines hel­le­ni­sti­schen Juden­tums ent­schied er, wenn auch mit gro­ßem zeit­li­chen Abstand, ein­deu­tig. Der Fak­tor Zeit spiel­te des­halb kei­ne Rol­le, weil die für ihn zen­tra­len Wirk­kräf­te unver­än­dert waren. Jeru­sa­lem steht laut Strauß für Offen­ba­rung und Glau­be, Athen für Phi­lo­so­phie und Ver­nunft. Strauß beton­te zugleich aller­dings, daß genau die­ser Gegen­satz „das vita­le Geheim­nis des Abend­lan­des“ sei.

Belar­di­nel­li schließt dar­aus in sei­nem Buch „Die katho­li­sche Kir­che und Euro­pa“, daß das gro­ße Dra­ma unse­rer Zeit dar­in bestehe, daß die­ser befruch­ten­de Gegen­satz zwi­schen Glau­be und Ver­nunft auf­ge­hört habe. Er sei erlo­schen, weil er sich in einer Art ein­ver­nehm­li­chen Arran­ge­ments auf­ge­löst habe. Damit aber habe sich Euro­pa, gemeint ist das Abend­land – heu­te all­ge­mein Westen genannt –, sei­ner alles bewe­gen­den Vita­li­tät, sei­nes Motors beraubt. Mit Blick auf die Athen-Jeru­sa­lem-Defi­ni­ti­on von Strauß schreibt der ita­lie­ni­sche Philosoph:

„Ein Euro­pa, das sich von der Kir­che löst und die Kir­che, die sich von Euro­pa löst, ver­kör­pern auf para­dig­ma­ti­sche Wei­se die Ent­lee­rung der ‚Vita­li­tät‘ bei­der Städte“.

Die Kir­che scheint zudem unter dem der­zei­ti­gen Papst „einen Groß­teil der Ste­reo­ty­pe auf­zu­grei­fen, die haupt­ver­ant­wort­lich für die Kri­se Euro­pas sind“.

Belar­di­nel­li nennt fol­gen­des Beispiel:

„Neh­men wir ein­mal an, es stim­me, daß das Lehr­amt der Vor­gän­ger von Papst Fran­zis­kus zu sehr auf die soge­nann­ten ‚nicht ver­han­del­ba­ren‘ Wer­te kon­zen­triert war wie Leben und Fami­lie. Sind wir aber sicher, daß die nun­meh­ri­ge Bevor­zu­gung ande­rer The­men wie Umwelt­schutz, Kapi­ta­lis­mus­kri­tik und Drit­te Welt ein Schritt vor­wärts ist? […] Ich habe den Ein­druck, daß die Kri­tik an bestimm­ten Übeln, die heu­te durch die Kir­che erfolgt, zu ‚mensch­lich‘ ist.“

Die „pro­phe­ti­sche“ Bedeu­tung der kirch­li­chen Kri­tik an Miß­stän­den wer­de dadurch abge­schwächt, wenn sie sich nicht mehr auf ihre Kern­the­men bezieht, son­dern sich auf das Gebiet umstrit­te­ner Fra­gen begebe. 

„Sie erscheint dadurch zu sehr an die Logik der Welt gebun­den, zu poli­tisch und zu wenig eschatologisch.“

Die Kir­che ver­mitt­le heu­te den Ein­druck, so Belar­di­nel­li, zu sehr in einen „modi­schen Mora­lis­mus“ zu fal­len, „dem eine Art von Unfä­hig­keit zugrun­de zu lie­gen scheint, zwi­schen Reli­gi­on, Moral und Poli­tik unter­schei­den zu kön­nen“. Gera­de die Fähig­keit die­ser Unter­schei­dung sei aber eine der größ­ten Errun­gen­schaf­ten der euro­päi­schen, sprich christ­li­chen Zivilisation.

Zur Erklä­rung nennt er fol­gen­des Beispiel:

„Wenn die katho­li­sche Kir­che sich zur Trä­ge­rin eines Will­kom­mens-Bot­schaft zum Schutz der Men­schen­wür­de unab­hän­gig von sei­ner Reli­gi­on oder Kul­tur macht, ver­tei­digt sie das Beste an der euro­päi­schen Iden­ti­tät. Wenn sie dies aber tut, ohne die Kon­se­quen­zen die­ses Han­delns zu berück­sich­ti­gen, die ein unkon­trol­lier­ter Migra­ti­ons­fluß für die euro­päi­schen Staa­ten haben kann, bewei­se sie einen besorg­nis­er­re­gen­den Man­gel an poli­ti­schem Rea­li­täts­be­wußt­sein […], der von kei­ner ande­ren Sei­te, weder von den euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen noch von den Natio­nal­staa­ten kom­pen­siert wird. Euro­pa erscheint dadurch wie ein Kon­ti­nent, der selbst­ver­ges­sen abglei­tet, und das genau in dem Moment, in dem sich auf der geo­po­li­ti­schen Ebe­ne ver­stärkt ein Akteur in den Vor­der­grund drängt, für den Plu­ra­lis­mus und Frei­heit kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit sind: der Islam. Aus isla­mi­schen Staa­ten kommt der Groß­teil jener, die an Euro­pas Türen klop­fen; isla­misch ist der Ter­ro­ris­mus, der in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eine blu­ti­ge Spur durch Euro­pas Städ­te gezo­gen hat; isla­misch sind die Län­der, die die Exi­stenz Isra­els in Fra­ge stel­len. Kurz­um: Der Islam ist der Kata­ly­sa­tor der Haupt­pro­ble­me unse­rer Zeit.“

Die Kirche braucht „ein differenziertes Angebot“

In Anleh­nung an den Phi­lo­so­phen Niklas Luh­mann (1927–1998) emp­fiehlt Belar­di­nel­li, daß die Kir­che gut dar­an täte, in ihrem Ange­bot zu unter­schei­den zwi­schen jenen, die Gott suchen, und jenen, die Iden­ti­tät, Kul­tur und natür­li­che Ord­nung suchen, um dar­aus sozia­les, poli­ti­sches oder auch wirt­schaft­li­ches Han­deln abzu­lei­ten. Die Bedeu­tung des Glau­bens für das sozia­le Zusam­men­le­ben und die Gesell­schaft „sind unbe­strit­ten“, so der Phi­lo­soph. Rechts­staat, Markt­wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Tech­nik sei­en die bedeu­tend­sten Ergeb­nis­se der christ­li­chen Gesell­schaft. Sie konn­ten im jüdisch-christ­li­chen Kon­text ent­ste­hen, weil ihnen hier (und nur hier) die nöti­ge Ent­fal­tungs­mög­lich­keit gebo­ten wur­de. Alles die­se Errun­gen­schaf­ten sei­en aber nur „Zusät­ze“ zum Wesent­li­chen. Das Wesent­li­che der christ­li­chen Zivi­li­sa­ti­on sei das Bewußt­sein, daß es etwas Grö­ße­res gibt, näm­lich „das Ver­ständ­nis von Gott“.

Dar­aus erge­be sich, daß die „säku­la­re“ Gesell­schaft einen „drin­gen­den Bedarf“ habe, daß „jemand von Gott spricht“ und zwar „mit einer Spra­che, die nicht zu welt­lich ist“. Es gehe dabei nicht um den „Gott der Phi­lo­so­phen“, son­dern „um den Gott Abra­hams und Jesu Christi“.

„Ein Gott, der nicht all­mäch­tig und nicht der Schöp­fer der Welt ist, kann nicht Gott sein. Wie Leo Strauß und Joseph Ratz­in­ger ver­stan­den haben, um nur zwei bedeu­ten­de Namen zu nen­nen. Die Welt hat nur Sinn, weil sie von Gott erschaf­fen wur­de. Damit die­ser Gott kirch­li­ches und sozia­les Leben im Zusam­men­le­ben der Men­schen her­vor­bringt, braucht es vor allem Glauben.“

Wenn Euro­pa also wie­der Lebens­kraft gewin­nen wol­le, sei der Weg, den es zu gehen habe, ein­deu­tig vor­ge­zeich­net. Euro­pa müs­se wie­der den Faden des befruch­ten­den Kon­flikts zwi­schen Ver­nunft und Glau­ben auf­grei­fen, denn dar­in lie­ge „das Geheim­nis von Euro­pas Vita­li­tät“ in der Geschich­te. Das erschlie­ße sich auch aus dem Umkehrschluß:

„Das Gegen­teil ist sowohl die poli­ti­sche als auch die reli­giö­se Erschlaf­fung, die das eigent­li­che Pro­blem des heu­ti­gen Euro­pas ist.“

Text: Giu­sep­pe Nardi/​Andreas Becker
Bild: MiL

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