
Erstmals in der Geschichte des 1975 entstandenen informellen Zusammenschlusses der sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten, dessen 50. Gipfeltreffen vom 13. bis 15. Juni in Italien stattfand, wurde ein Papst als Redner eingeladen. Möglich machte dies Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die 2024 den jährlich wechselnden Vorsitz der G7-Staaten führt und zugleich die rechteste unter den sieben Staats- und Regierungschefs ist. Franziskus war sich der Bedeutung dieser Einladung bewußt, denn am 11. Juni, drei Tage vor seiner Reise nach Apulien, spöttelte er bei einem Priestertreffen der Diözese Rom: „Sie haben mich eingeladen, beim G7-Gipfel über künstliche Intelligenz zu sprechen, aber ich hätte am liebsten gefragt: ‚Wie geht es Ihrer natürlichen Intelligenz?‘ Uns fehlt die Fähigkeit, an das Gemeinwohl zu denken.“ Doch in Borgo Egnazia nützte Franziskus die Gelegenheit nicht; seine Rede wurde zu einer verpaßten Chance, so der Philosoph und Sozialethiker Stefano Fontana.
Der Papst beim G7-Gipfel, eine verpaßte Chance
Von Stefano Fontana*
Heute vor einer Woche, am 14. Juni, sprach Papst Franziskus in Borgo Egnazia (Apulien) zu den G7-Staats- und Regierungschefs über Künstliche Intelligenz (KI). Seine Rede samt einigen spontanen Ergänzungen war kürzer als der Text, der verteilt wurde. Der ist in der Tat umfangreich und artikuliert, mit langen und sehr technischen analytischen Exkursen in die Mäander des KI-Themas. Für den Papst entspringt die künstliche Intelligenz dem Drang des Menschen nach dem „darüber Hinausgehen“, wie es schon bei anderen technischen Erfindungen in der Geschichte der Fall war.
Diesmal gibt es jedoch etwas radikal Neues: Das Werkzeug ist stark ambivalent („faszinierend und ungeheuerlich zugleich“), hat eine disruptive „kognitiv-industrielle“ Wirkung, die „ein neues soziales System“ aufbauen wird, und kann vor allem durch die Anwendung „algorithmischer Entscheidungen“ eine gewisse Unabhängigkeit vom Menschen haben. Die Gefahr besteht darin, daß der Mensch seiner Entscheidungsfähigkeit beraubt wird und somit „dazu verdammt ist, von Maschinen abhängig zu sein“. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz von „autonomen tödlichen Waffen“ in bewaffneten Konflikten.
Nachdem Franziskus im Kapitel „Der grundlegende Mechanismus der künstlichen Intelligenz“ die wichtigsten technischen Möglichkeiten für die Entwicklung der KI und die dadurch ausgelösten Ängste analysiert, schlägt er zwei Wege vor, um mit dem Phänomen umzugehen und es zu steuern: den ethischen und den politischen Weg.
Der erste Weg sollte „die Würde des Menschen im Hinblick auf einen gemeinsamen ethischen Vorschlag in den Mittelpunkt stellen“. In diesem Zusammenhang lobte er die Veranstaltung Rome Call for all Ethics 2020, die darauf abzielte, eine „Algorithmus-Ethik“ auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien auf den Weg zu bringen.
Der zweite Weg bestünde darin, gute Politik gegen die absolute Vorherrschaft des „technokratischen Paradigmas“ zu unterstützen. Die Politik darf nicht geschwächt werden: „Politik wird gebraucht! Diese ‚gute Politik‘ sollte jedoch berücksichtigen, daß die Weltlage schwerwiegende strukturelle Mängel aufweist und Flickschusterei nicht ausreicht.
Insgesamt ist der Text von Franziskus schwach. Einerseits gibt es eine Redundanz von technischen Aspekten, die in einer päpstlichen Lehre nicht notwendig sind. Andererseits gibt es Verweise auf ethische und politische Lösungen, die auf einem wünschenswerten (aber in seinen Grundlagen nicht spezifizierten) Konsens beruhen. Selbst das Verständnis der menschlichen Person wird nicht aus der Sicht der katholischen Kirche geklärt, obwohl sein Verlust in der heutigen Gesellschaft beklagt wird. Zusammengefaßt lautete der päpstliche Vorschlag beim G7-Gipfel: Laßt uns gemeinsam eine Einigung über einige Grundsätze suchen, wie es bei Rome Call for all Ethics versucht wurde. Eine gute Sache für eine politische Wortmeldung, zu wenig aber für eine päpstliche.
Die Würde des Menschen, zum Beispiel, worauf beruht sie und wie wird sie verteidigt? Aus der Sicht der katholischen Kirche ist ihre Verteidigung nicht gleichgültig gegenüber der Gegenwart Gottes in der Menschheitsgeschichte. Aber Franziskus spricht in seiner ganzen Rede nie von Gott und auch nicht von Jesus Christus. Der „Konsens“ über die richtigen ethischen Grundsätze sollte also auf was beruhen? Die katholische Lehre schlägt ein Naturrecht und ein natürliches Sittengesetz vor, die sich nicht ändern und daher auch im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz praktikabel sind. Sie ermöglichen eine „natürliche Grammatik“, die die Grundlage für einen Dialog und einen Konsens bildet, der nicht nur auf der Konvergenz von Meinungen oder, schlimmer noch, von Interessen beruht.
Doch in der Wortmeldung von Franziskus, ob in der mündlichen oder der schriftlichen Fassung, wird weder das eine noch das andere erwähnt. Selbst der Verweis auf die Ethik bleibt ohne die Unterstützung des natürlichen und göttlichen Rechts im luftleeren Raum hängen. Und schließlich der Verweis auf die Politik: Worauf stützen sich die Adjektive „gesund“ und „gut“, die in der päpstlichen Rede auf dieses Wort angewendet werden? Ohne Bezugnahme auf das natürliche und göttliche Recht bleibt wenig Raum für eine unkonventionelle Legitimation der Politik. Die künstliche Intelligenz läuft Gefahr, uns in eine künstliche Welt zu führen. Sie kann nur kontrolliert werden, indem man sich auf eine reale und wahre Welt bezieht und nicht nur auf Konvergenzen von Meinungen, die ebenfalls künstlich sind.
Das Fehlen eines Fundaments ist der auffälligste Aspekt der päpstlichen Rede in Borgo Egnazia, und da das Fundament der katholischen Kirche Gott ist, fällt es auf, daß Franziskus es nie erwähnt hat. Der Mensch, die Moral und die Politik haben ohne Gott keinen Bestand, und die Menschheit allein wird niemals die Kraft finden, die Risiken zu bewältigen und die Last zu ertragen, die diese Herausforderungen voraussetzen. Es ging nicht darum, vor den verschiedenen Macrons zu missionieren, wenn man von Gott spricht, sondern darum, den übergeordneten „Haken“ aufzuzeigen, an dem die ganze Konstruktion hängt.
Wenn wir zum Vergleich das letzte Kapitel von Caritas in Veritate von Benedikt XVI. heranziehen, finden wir eine andere Modulation. Das Thema dieses Kapitels ist nicht die künstliche Intelligenz, sondern ganz allgemein die Technologie und die „technizistische Mentalität“. Im Jahr 2009 war das in Borgo Egnazia behandelte Thema noch nicht virulent. Benedikt sprach vom „natürlichen Sittengesetz“: „Es ist notwendig, daß der Mensch zu sich selbst zurückkehrt, um die grundlegenden Normen des natürlichen Sittengesetzes zu erkennen, das Gott in sein Herz eingeschrieben hat“. Hier spricht er sowohl vom Naturrecht als auch von Gott, seinem Schöpfer:
„Gott enthüllt dem Menschen den Menschen; die Vernunft und der Glaube arbeiten zusammen, ihm das Gute zu zeigen, wenn er es nur sehen wollte; das Naturrecht, in dem die schöpferische Vernunft aufscheint, zeigt die Größe des Menschen auf, aber auch sein Elend, wenn er den Ruf der moralischen Wahrheit nicht annimmt.“
*Stefano Fontana, Direktor des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church; zu seinen jüngsten Publikationen gehören „La nuova Chiesa di Karl Rahner“ („Die neue Kirche von Karl Rahner. Der Theologe, der die Kapitulation vor der Welt lehrte“, Fede & Cultura, Verona 2017), gemeinsam mit Erzbischof Paolo Crepaldi von Triest „Le chiavi della questione sociale“ („Die Schlüssel der sozialen Frage. Gemeinwohl und Subsidiarität: Die Geschichte eines Mißverständnisses“, Fede & Cultura, Verona 2019), „La filosofia cristiana“ („Die christliche Philosophie. Eine Gesamtschau auf die Bereiche des Denkens“, Fede & cultura, Verona 2021).
Bild: NBQ