(Buenos Aires) Die Solidaritätsbekundung von Papst Franziskus für den in Brasilien wegen Korruption inhaftierten Ex-Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva schlägt in Lateinamerika hohe Wellen. Ein Teil der Medien versucht den Vorfall kleinzureden oder zu rechtfertigen. Ein anderer Teil sieht darin eine Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten aller Staaten eines ganzen Halbkontinents. Gemeint ist nicht nur eine Einmischung zu einer konkreten Einzelfrage, sondern eine Einmischung zugunsten einer bestimmten, ideologischen Richtung. Und das habe es bisher noch von keinem Papst gegeben. Einige sind sogar besorgt, daß mit Unterstützung des Papstes „soziale Unruhen“ oder sogar Umsturzversuche unternommen werden könnten.
In der argentinischen Zeitschrift Noticias vom 11. August analysierte der Politikwissenschaftler Claudio Fantini den Vorfall. „Die Diktatur laut Franziskus. Die Gesten des Papstes“, titelt Fantini, der einen Lehrstuhl an der privaten Universidad Empresarial Siglo 21 mit Hauptsitz im argentinischen Cordoba innehat. Gemeint ist die „Kritik“ des Papstes an „neoliberalen Regierungen, die Anführer der Sache des Volkes verfolgen“.
Der Papst empfange „Gewerkschafter, Aktivisten und Politiker, die er bittet, keine Fotos mit ihm in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen, aber manchmal vergißt man, sie zu bitten, auch nicht zu kommentieren, was besprochen wurde“. Über die meisten dieser Begegnungen herrsche Stillschweigen. Es gebe aber immer wieder welche, die nach dem Verlassen des Vatikans den Medien erzählen, daß „der Papst dies und jenes gesagt hat“.
„Die Summe dieser Schilderungen macht deutlich, daß Franziskus einer bestimmten ideologischen Richtung in diesem politischen Moment in Lateinamerika anhängt.“
Fahnenträger einer linken Verschwörungstheorie
Mehr noch: Franziskus scheint dabei weniger dieser Richtung anzuhängen, sondern vielmehr deren „Fahnenträger“ zu sein. Es ist die Richtung, laut der es in Lateinamerika „neoliberale Diktaturen“ gibt, die jene Anführer verfolgen, „die die Sache des Volkes verteidigen“. Mit anderen Worten lautet die Behauptung: Neoliberale Diktaturen verfolgen die wirklichen „Volksführer“ und machen sie zu „politischen Gefangenen“.
Papst Franziskus sei, so Fantini, dazu übergangenen, „die Idee zu verbreiten, daß die Korruptionsprozesse von Washington gelenkt sind, um die Region, mit dem ‚Wirtschaftsmodell, das die Unterdrückung der Massen erfordert‘, gefügig zu machen“ und „die Regierenden, die sich dem ‚unmenschlichen Kapitalismus‘ (Papst Franziskus) widersetzen, mit dem Gefängnis“ gleich dazu.
Die Solidarität mit dem ehemaligen brasilianischen Staats- und Regierungschef Lula da Silva folge diesem Muster (siehe auch). Dasselbe gelte für die ehemalige argentinische Staats- und Regierungschefin Cristina Kirchner, gegen die Anklage erhoben wurde. Papst Franziskus ergriff ebenso Partei für den linksperonistischen, argentinischen Politiker Fernando Esteche und die linke Indio-Führerin Milagro Sala. Esteche ist Vorsitzender der linksextremen Revolutionär-Patriotischen Quebracho-Bewegung. Die Gruppierung wurde unter seiner Führung zu einem Sammelbecken von ehemaligen Guerilleros der Terrororganisationen Montoneros und ERP sowie marxistisch-leninistischer und trotzkistischer Richtungen. Verurteilt wurde er wegen schwerer Sachbeschädigung im Zuge von Protesten gegen den Weltwährungsfonds und die israelische Politik im Libanon. Sein jüngste Verhaftung erfolgte 2017.
Milagro Sala ist Anführererin der Nachbarschafs- Organisation Tupac Amaru und Mitgründerin des Zentralen Argentinischen Gewerkschaftsbundes (CTA), in dem sich das radikalere linke Spektrum wiederfindet. Die Gewerkschaft umfaßt Strömungen von den Christlich Sozialen über die Linksperonisten bis zu den Kommunisten und Trotzkisten und ist Mitglied des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Sala ist mit dem linken Frente para la Victoria (Front für den Sieg) von Cristina Kirchner verbunden, für den sie bis 2015 Abgeordnete im Staat Jujuy war. 2016 wurde sie wegen Protesten gegen einen Gouverneur der Radikalen Bürgerunion (UCR) verhaftet. Die Bürgerunion gehört der Sozialistischen Internationale, aber auch der Präsidentenmehrheit des amtierenden Staatspräsidenten Mauricio Macri an. Im Konflikt zwischen dem UCR-Gouverneur Gerardo Morales und Milagro Sala, um es verständlicher zu machen, bekämpft die institutionalisierte Linke die radikale Linke. Der Konflikt ist dabei nicht nur ideologischer, sondern vor allem auch machtpolitischer Natur. Sala wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Unter anderem wurde sie wegen Unterschlagung von Geldern, Gründung einer illegalen Organisation, Mordversuch und schwerwiegender Drohung angeklagt. Ihre Anhänger und politischen Sympathisanten wie Cristina Kirchner sehen in Sala das Opfer einer „politischen Justiz“.
Vorwand, um die wahren Volksführer auszuschalten
Zu den Ex-Präsidenten Lateinamerikas, die wegen Korruption verurteilt oder gegen die wegen Korruptionsverdachts ermittelt wird, gehört auch Ecuadors ehemaliger Staatspräsident Rafael Correa. Laut der von Papst Franziskus geförderten Lesart wird, so Fantini, seien die Korruptionsvorwürfe nur ein Vorwand neoliberaler Diktaturen, um die politischen Widerstandsführer gegen die US-Wirtschaftspolitik in Lateinamerika auszuschalten.
Die argentinischen Kontakte in den Vatikan, so Fantini, laufen unter anderem über den Gewerkschafter und Kirchnerianer Gabriel Mariotto. Diese Richtung habe Franziskus davon überzeugt, daß die Regierung von Staatspräsident Mauricio Macri mit einem „freiheitsvernichtenden Regime“ und „der jüngsten Militärdiktatur“ vergleichbar sei.
Fantini verweist auf eine Verrohung der Sprache. Wenn ein Journalist, ein Intellektueller oder ein Politiker „das Wort ‚Verrat‘ in den Mund nimmt, um das Verhältnis zwischen US-Präsident Trump und dem russischen Präsidenten Putin zu beschreiben“, dann sei das eine Sache. Wenn es aber der Ex-CIA-Chef John Brennan tut, dann „muß er sich absolut sicher“ sein, oder habe das Wort nicht zu gebrauchen.
Gleiches gelte beim Wort „Diktatur“. Wenn Politiker von marginaler Bedeutung oder des extremen Randes einen solchen Begriff verwenden, sei das eine Sache. Eine ganz andere Sache sei es, wenn das der Papst tue.
Gefahr eines Staatsstreichs im Namen des Papstes
Fantini kritisiert eine „unverhältnismäßige“ Sprache des Papstes, wenn er von „Diktatur“ und „unmenschlichem Kapitalismus“ spricht, und die Verurteilung wegen Korruption durch ordentliche Gerichte als „Vorwand“ bezeichnet, um die „Verteidiger des Volkes gegen den Imperialismus“ auszuschalten. Der Papst spreche von „Diktaturen“ im Zusammenhang mit legitimen Institutionen, während er diesen Begriff nicht verwende, wenn es um das Regime von Nicolas Maduro in Venezuela oder um das kommunistische Regime auf Kuba geht.
Fantini geht noch weiter: Die päpstliche Begriffswahl bedeute eine „Banalisierung“ des Begriffs „Diktatur“. „Die größte Gefahr sind die Folgen dieser Banalisierung“, so der Politikwissenschaftler. Fantini erinnert daran, daß es seit dem heiligen Thomas von Aquin in der katholischen Kirche die Lehre der legitimen Rebellion gegen die Tyrannei gibt.
„Genau das fordern einige der ehemaligen Staatspräsidenten Lateinamerikas, die wegen Korruption angeklagt sind: soziale Unruhen.“
Fantini sieht die Gefahr, daß an der Basis ein solcher Aufstand provoziert werden soll. Jene, so der Politologe, die ihre Argumente „verwenden, als würde es sich um Phosphor handeln“, können sich nun auch noch auf den Papst berufen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/Perfil (Screenshots)