
(Rom) Wird im Vatikan die Bioethik zu Grabe getragen? Zu diesem Schluß gelangt die katholische Internetzeitung Nuova Bussola Quotidiana (NBQ) nach der diesjährigen Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben – bzw. dem, was davon noch übriggeblieben ist.
Die Päpstliche Akademie war 1994 von Papst Johannes Paul II. als wissenschaftliche Speerspitze zur Förderung einer Kultur des Lebens gegründet worden. Ihre Aufgabe sollte es sein, der sich ausbreitenden Kultur des Todes entgegenzuwirken.
Papst Franziskus signalisierte jedoch gleich am Beginn seines Pontifikats, daß die nicht-verhandelbaren Werte für ihn keine Priorität haben. Seither erfolgte eine radikale Wende in der Kirche, die als Paradigmenwechsel zu bezeichnen ist und von Franziskus auch so genannt wird. Höchste Vertreter der Kultur des Todes gehen seit dem Frühjahr 2015 hochoffiziell im Vatikan ein und aus. Sie werden vom Papst und anderen kirchlichen Repräsentanten in Audienz empfangen, dürfen als Referenten bei Vatikantagungen auftreten und einige wurden sogar zu Mitgliedern von Päpstlichen Akademien ernannt. Die harten Neo-Malthusianer finden sich zwar (noch) nicht in der Päpstlichen Akademie für das Leben, dafür aber in den Päpstlichen Akademien der Wissenschaften und der Sozialwissenschaften.
Der Umbau der Akademie für das Leben
Im Sommer 2016 begann Papst Franziskus mit einem radikalen Umbau der Akademie für das Leben. Deren personelle Zusammensetzung erinnerte zu stark an Johannes Paul II. und Benedikt XVI., und deren bedingungslose Verteidigung der Heiligkeit des Lebens und Ablehnung von Abtreibung und Euthanasie. Franziskus ernannte Kurienerzbischof Vincenzo Paglia zum neuen Präsidenten und ließ die Akademie auf Kurs bringen. Alle Akademiemitglieder, obwohl auf Lebenszeit ernannt, wurden vor die Tür gesetzt. Vor einem Jahr wurden neue, handverlesene Mitglieder ernannt. Neben einigen bedenklichen Ernennungen stand vor allem fest, daß eine Gewichtsverlagerung in die gewünschte Richtung erfolgt war.

Franziskus verkündete in einem ersten Moment als neuen Aufgabenbereich eine „Humanökologie“ statt Bioethik. Das neue Schlagwort bei der Jahresvollversammlung 2018 lautete: „Globale Bioethik“. Hinter dieser „Globalisierung“ verbirgt sich eine Themenerweiterung, die vor allem eines zum Ziel zu haben scheint: Die bisherigen Kernthemen abzuschwächen und in den Hintergrund zu rücken. Die Akademie für das Leben wird in Zukunft weniger über die Verteidigung des Lebensrechts ungeborener Kinder und andere bioethische Fragen sprechen, dafür mehr über Armut, Migration, Kindergesundheit – kurzum über Themen, die dem Sozialengagement von Papst Franziskus wichtig sind, aber nichts mit der klassischen Bioethik zu tun haben.
Die katholische Kirche befindet sich seit der Legalisierung der Abtreibung im Westen, also seit Ende der 60er Jahre, im Konflikt mit dem sich ausbreitenden, neomalthusianischen Zeitgeist, dem sich zahlreiche Mächtige aus Politik, Wirtschaft, Finanzen, Kultur und Medien verschrieben haben. Den sich daraus ergebenden Kulturkampf konnten die Abtreibungsideologen in Europa, wegen der einhergehenden sexuellen Enthemmung, aber auch wegen der fehlenden kirchlichen Einheit, weitgehend für sich entscheiden. In den USA ist der Kulturkampf aber noch in vollem Gange. Die Letztentscheidung in der westlichen Welt ist noch nicht gefallen. Mit dem Rücktritt von Richter Kennedy vom Obersten Gerichtshof der USA nimmt er vielmehr neue Fahrt an.
Papst Franziskus mag solche Konflikt aber nicht. Er will mit den Mächtigen, sofern sie linksgestrickt sind, im Einklang leben. Das ist der zentrale Unterschied zwischen den Pontifikaten vor dem 13. März 2013 und dem aktuellen. Franziskus will dem Konflikt zwischen unterschiedlichen und unvereinbaren anthropologischen Konzepten aus dem Weg gehen. Nur: Wenn die Christen nicht für die Wahrheit über den Menschen und seine Natur kämpfen, wer dann?
Statt für das Lebensrecht ungeborener Kinder und kranker und alter Menschen gegen eine grausame Tötungs-Ideologie „mit weißen Handschuhen“ zu kämpfen, stellt sich Franziskus lieber an die Seite der Henker, um mit ihnen gegen den angeblich menschenverschuldeten Klimawandel und für ein Recht auf Migration zu kämpfen.
Das neue Konzept: die „globale Bioethik“
Am vergangenen Montag, dem 25. Juni, fand im Presseamt des Heiligen Stuhls eine Pressekonferenz zur diesjährigen Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben statt. Daran nahmen Akademiepräsident Paglia, Akademiekanzler Msgr. Renzo Pegoraro und Sandra Azab, die Verantwortliche für die neue Gruppe junger Wissenschaftler der Akademie teil. Zudem wurden Worte von Papst Franziskus verlesen.
„Zahlreich waren die interessanten Themen, die von den Rednern angeschnitten wurden. Zahlreich waren auch die dargelegten Konzepte, denen man zustimmen kann“, so Tommaso Scandroglio von NBQ. „Wie so oft, gibt es allerdings auch ein ‚aber‘“.
Papst Franziskus sprach in seinem Text von einer „globalen Sicht der Bioethik“ und von einer „globalen Bioethik“. Den Formulierungen wäre zuzustimmen, wenn sie als Einbeziehung aller Aspekte der Bioethik und aller dazu nötigen wissenschaftlichen Methoden zu verstehen wären.
„Liest man die weiteren Aussagen von Papst Franziskus und der anderen Redner, entdeckt man jedoch, daß eine andere, eine dritte Art von ‚globaler Bioethik‘ gemeint ist: Die Einbeziehung von Themen, die nichts mit Bioethik zu tun haben.“
Genannt wurden: „Krieg“, „Sklaverei“, „Armut“, „Gewalt“, „Gesellschaft“, „Brüderlichkeit“ und natürlich „ökonomische Ungleichheit“ und „Migration“.
Bioethik erfährt durch Franziskus einen Bedeutungswandel. Er versteht den Begriff wörtlich und meint offensichtlich die Behandlung der gesamten Ethik, die mit dem Menschsein zu tun hat. Eine solche Umdeutung bedeutet aber die Relativierung und Marginalisierung, zumindest aber die Zurückdrängung der eigentlichen Themen der Bioethik.
Die Akademie für das Leben wird sich künftig mit dem „Leben im Kindesalter“, dem „Leben im Jugendalter“ und dem „Leben im Erwachsenenalter“, ja auch mit dem „alten Leben“ und sogar mit dem „ewigen Leben“ befassen. Letzteres ist angesichts der bisherigen Gegenposition zur Kultur des Todes in der Tat bemerkenswert. Bisher wurden diese Bereiche nur gelegentlich gestreift, waren aber nicht eigentlicher Gegenstand der Arbeit, beispielsweise die Kinder im Bereich der Erziehung zu einer Kultur des Lebens, oder die Jugendlichen, weil jugendliche Mädchen bereits schwanger werden und abtreiben lassen.
Auflösung einer Fachwissenschaft

Jede Fachwissenschaft wird durch ihren Kern definiert und nicht durch ihre Ränder. Die umgebaute Päpstliche Akademie für das Leben tut aber genau letzteres und widerspricht damit jeder bisherigen Definition von Bioethik, etwa jener des Wortschöpfers (1970) Van Rensselaer Potter in seinem Buch „Global Bioethics“ (Michigan State University Press, 1988) oder Warren Reich „Encyclopedia of Bioethics“ (Macmillan Free Press, New York, 1978).
Sucht man nach dem gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Definitionen, die auch eine Entwicklung anzeigen, dann läßt sich sagen, daß Bioethik als Wissenschaft die menschlichen Eingriffe in das biologische Leben zum Gegenstand hat: Abtreibung, Euthanasie, künstliche Befruchtung, Verhütung, Klonen, Leihmutterschaft, Experimente mit Embryonen, Roboterethik usw.
Einwanderung und Armut gehören nicht dazu. Sie sind bereits Gegenstand mehrerer, anderer Disziplinen.
„Interdisziplinäre Verknüpfung und Globalität“ seien wohl gut, wenn sie nicht dazu dienen, den eigentlichen Kern des Faches abzuschwächen. Denn die Frage lautet: Wozu das neue, päpstliche Verständnis einer „globalen Bioethik“? Wozu die Überfrachtung der Bioethik mit wichtigen, aber fachfremden Themen.
Scandroglio versucht darauf eine Antwort zu geben:
- Weil die irrige Überzeugung vorherrschen könnte, daß Armut und Migration wichtiger seien als Abtreibung und Euthanasie. Durch eine gummiähnliche Ausdehnung des Begriffs Bioethik soll die Päpstliche Akademie für das Leben „elastisch“ auch die „wichtigeren“ Themen abdecken.
- Weil Abtreibung, Euthanasie und künstliche Befruchtung umstrittene Themen sind und zu Frontstellungen und Konflikten führen. Sie können zwischen Gläubigen und Ungläubigen Gräben aufreißen. Das aber sei nicht erwünscht, da die derzeitige mission der Kirche das Brückenbauen und Überwinden von Gräben sei.
Dazu Scandroglio:
„Anstatt Gräben auszuheben, sollen spezifisch, ’spaltende‘ bioethische Themen samt den zu überwindenden Gräben zugeschüttet werden. Eine Art von pastoralem Zudecken: Verhüllen wir die katholische Nacktheit, die den Augen der Welt ein solches Ärgernis ist.“
Die Schlußfolgerung
„Die Entschärfung der Bioethik erfolgt über eine Auflösung ihrer Identität, also ihrer spezifischen Besonderheiten: Wenn die Bioethik alles ist, ist die Bioethik nichts mehr.“
Es gehe in Wirklichkeit also nicht um eine globale Bioethik, sondern um eine Globalisierung der Bioethik mit dem Ziel ihrer Neutralisierung und Entschärfung.
„Zu den Fragen Abtreibung und Euthanasie wird nämlich der abgrundtiefe Unterschied zwischen der derzeit vorherrschenden und der katholischen Sicht vom Menschen am deutlichsten. Künstliche Befruchtung und Verhütung sind die perfekten Instrumente, um untrüglich die Differenzen zwischen dem laizistischen und dem katholischen Denken aufzuzeigen – und das wirklich global.“
Im Vatikan unter Papst Franziskus scheint man daher der Meinung zu sein, diese Differenzen möglichst zu verbergen.
„Wie soll das aber gehen? Indem die eigentlichen Themen der Bioethik auf dem Dachboden entsorgt werden und die Bioethiker mit Aufgaben eingedeckt werden, die eigentlich Soziologen, Psychologen, Ökonomen, Politologen. usw. abdecken.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: PAV/Vatican.va (Screenshots)