Von Wolfram Schrems*
Vor kurzem erschien die profunde Analyse Kulturbruch ´68 – Die linke Revolte und ihre Folgen des Gymnasialprofessors, Buchautors und Autors der Wochenzeitung Junge Freiheit und von Cato – Magazin für neue Sachlichkeit Karlheinz Weißmann.
Weißmann rekonstruiert die revolutionären Ereignisse der 60er und 70er Jahre und analysiert sie in ideologie- und religionsgeschichtlicher Hinsicht:
Die Kulturrevolution von 1968 war ein vielschichtiges Ereignis. Für jede Revolution ist einerseits ein entschlossener Kader unabdingbar. So war auch 1968 das Projekt einer Elite. Diese gab sich als „nonkonformistisch“ aus. Das Projekt stand unter dem Einfluß der Besatzungsmächte, denen an einer Umerziehung der Deutschen gelegen war. Andererseits beteiligten sich allzu viele aus eigenem Antrieb an den revolutionären Ereignissen. Die Revolution hatte die dunkle Seite im Menschen angesprochen. Inhaltlich war sie ein Aufguß pseudo-religiöser, gnostischer und antichristlicher Ideologeme.
Im folgenden einige von Weißmann abgehandelte Themen, die dem Rezensenten für die Leserschaft dieser Seite besonders relevant erscheinen.
Die 68er Bewegung als Zerstörung im Namen des Fortschritts
Im Vorwort stellt Weißmann grundsätzlich fest:
„’68 war weder eskalierter Vater-Sohn-Konflikt noch notwendiger Modernisierungsschub, weder berechtigter Aufstand gegen ein ‚Schweinesystem‘ noch der Beginn einer schönen und wilden Zeit, in der alle etwas lockerer wurden. ’68 war vielmehr Ursache jener Formschwäche, unter der die westliche Welt heute leidet, ein Vorgang äußerer und – stärker noch – innerer Zerstörung. Die meisten unserer gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Probleme gehen auf das zurück, was die Achtundsechziger taten oder was sie ihre Erben tun ließen“ (14).
Wichtig ist hier besonders die allzu diskret eingestreute Formulierung vom „[nicht] notwendigen Modernisierungsschub“. Weißmann schneidet damit ein geschichtsphilosophisch alles entscheidendes Thema an, nämlich die Frage nach der allfälligen Existenz bzw. Beschaffenheit einer so genannten „Moderne“. Eng damit verbunden ist die Frage, ob „Modernisierungsschübe“ überhaupt „notwendig“ bzw. unausweichlich seien. Und die Frage, wer berechtigt oder sogar verpflichtet ist, diese „Schübe“ durchzuführen.
Wir sind hier mitten in einem zentralen Problem: Denn die Vorstellung eines automatisch und zwangsläufig ablaufenden Geschichtsprozesses, der immer mehr „Modernisierung“ brächte, die ihrerseits immer gut und richtig und wichtig wäre, ist allgegenwärtig, besonders aufgrund der Agitation durch die 68er Revolutionäre und ihre Nachbeter selbst.
Weißmann sieht das freilich kritisch und macht die „progressiven“ Ideologien von 1968 für „Formschwäche“ und „Zerstörung“ verantwortlich.
Alleine schon das feststellt zu haben, ist in Zeiten wie diesen verdienstvoll.
Die Revolution als Projekt der Siegermächte – und als Akt des ersten Revolutionärs
Weißmann spricht offen aus, daß hinter der gegen Widerstände durchgedrückten Kulturrevolution ein Interesse der Besatzungsmächte – aus dem Zusammenhang geht hervor, daß hauptsächlich die USA gemeint sind – stand.
Normalerweise assoziiert man „1968“ ja zunächst mit den Ereignissen an der Pariser Sorbonne. Aber auch Frankreich war Besatzungsmacht in Deutschland und ist es bis heute.
Wie man heutzutage an allen drei genannten Ländern erkennen kann, hat die Revolution keinem wirklich gutgetan.
Weißmann hält fest:
„[Es] gab durchaus noch starke Widerstände [gegen die Kulturrevolution]. In der Nachkriegszeit existierte ein breites Spektrum von Intellektuellen, die sich als Bürgerliche, Liberale, Konservative, praktizierende Katholiken oder Lutheraner oder als Anhänger eines ‚Nationalismus mit menschlichem Antlitz‘ betrachteten, selbstverständlich an den öffentlichen Debatten teilnahmen und entschlossen waren, der Kulturlinken entgegenzutreten, dem, was Paul Sethe den ‚Aufstand der Kammerdiener‘ nannte, der unter dem Schutz der Besatzungsmächte begonnen hatte und daran ging, das kulturelle Erbe der Deutschen zu zerstören“ (47).
Die 68er Revolution sollte das besetzte Land umgestalten. Dazu kehrten Exilanten (nämlich Exponenten der „Frankfurter Schule“ wie Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno) aus den USA nach Deutschland zurück.
Aus Sicht des Rezensenten macht von daher die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel Sinn: Deutschland soll offenbar ganz abgeschafft werden.
Immer jedoch, wenn revolutionäre Kräfte in Gang gesetzt und chaotische Zustände planvoll angestrebt werden, begibt man sich in den Machtbereich des ersten Revolutionärs.
Und dieser haßt die Revolutionäre nicht weniger als alle anderen Menschen. Daher sind die Revolutionäre in gewisser Hinsicht auch Opfer.
Weißmann analysiert in diesem Zusammenhang die inneren Zerfallsprozesse innerhalb der – oft sehr skurrilen – kommunistischen Gruppen und Sekten und gräbt tiefer:
„Die chaotische Tendenz erschwerte naturgemäß den Zusammenhalt, aber die von dem ‚Situationisten‘ Dieter Kunzelmann zuerst in München gegründete Subversive Aktion erreichte doch vorübergehend eine gewisse Stabilität. Der Situationismus hatte seinen Ursprung in Frankreich und Belgien. Die sehr kleine Schar seiner Anhänger betrachtete sich als Avantgarde der Avantgarden und setzte auf eine Mischung aus Dadaismus und Clownerie, ergänzt um einen ausgesprochenen Irrationalismus, der sich wie selbstverständlich mit Elementen des okkulten Denkens legieren konnte, weil es in jedem Fall um die totale Befreiung des Individuums ging“ (58f).
Es kam zu einer regelrechten „okkulten Explosion“, zur Popularisierung von Astrologie, Spiritismus und Satanismus und natürlich dem damit zusammenhängenden Rauschgiftkonsum (69f).
Der Bocksfüßige war damit ohne weiteres erkennbar, die „totale Befreiung des Individuums“ sollte sich daher als tragische Illusion erweisen.
Der Kommunismus als pseudo-religiöses System und der Zynismus seiner Adepten
Weißmann weist auf die starke psychologische Bindekraft des Marxismus hin. Dieser konnte sich daher als Ersatzreligion in dem postchristlichen Vakuum einer vom Glauben abgefallenen Welt ausbreiten.
Dabei sind die Fakten, die gegen ihn sprechen, für den „Gläubigen“ unerheblich. Der echte Marxist analysiert nicht die „Früchte“, die der Baum Marxismus hervorgebracht hat. Er betet seinen Götzen unverdrossen weiter an. Weißmann bringt es auf den Punkt:
„[Der Marxist-Leninist Christian] Semler, der zu den führenden Funktionären der KPD gehörte, gab unumwunden zu, daß er die Berichte der großen Abtrünnigen [vom Marxismus] – André Gide, Arthur Koestler, Manès Sperber, Ignazio Silone – kannte wie das Werk Alexander Solschenizyns über das System der kommunistischen Vernichtungslager, den Archipel Gulag. Aber er und seine Genossen taten die Millionen Toten mit einem Schulterzucken als ‚Kosten der Revolution‘ ab“ (178f).
Der pseudo-eschatologische Wahn
Weißmann analysiert die sogenannten „Unverbindlichen Richtlinien“ der o. g. „Subversiven Aktion“ (SA) aus dem Dezember 1962. Dieses schmale Heft ist für den pseudoreligiösen Geist der 68er Revolution charakteristisch. In den Richtlinien geht es explizit darum, die Anhänger dieser „SA“ als „Schar von Erwählten“ zu deklarieren, die auf die Zeit „der apokalyptischen Wehen“ vorbereitet werden sollen. In einem „Prozeß der Relativierung“ sollen „alle bestehenden Normen“ zerstört werden. Schließlich soll das „absolute Individuum“ in der Lage sein, „die Projektion GOTT zu vernichten“ und „selbst Göttliches Wesen anzunehmen“. In einer „totalen Revolte“ solle das „irdische Paradies“ geschaffen werden (201f).
Weißmann weist die Auffassung zurück, daß es sich hierbei lediglich um „Clownerien“ oder ein „ironisches Spiel mit der Überlieferung“ gehandelt hätte. Die Sache ist viel ernster:
„[Der] Kulturbruch von ’68 erklärt sich (…) in erster Linie daraus, daß eine machtvolle, aber unterirdische Strömung der europäischen Geschichte an die Oberfläche trat. In der Vergangenheit war sie immer wieder zurückgedrängt worden, aber jetzt, unter den komfortablen Bedingungen der Endphase des 20. Jahrhunderts, setzte sie sich durch und wurde zur geistigen Macht, bestimmt von einer zentralen Idee der Gegenkultur: ‚Wir sind Götter und könnten uns daran gewöhnen‘.“ (202).
Hier gewann die Schlange neue Adepten (Gen 3,5).
Resümee
Weißmanns Darstellungen sind profund aber nicht uferlos. Das umfangreiche Literaturverzeichnis leitet zu weiteren Studien an.
Die Junge Freiheit, in deren Verlag das Buch erschien, ist im heutigen konformen Meinungs-Hauptstrom eine erfreuliche Alternative. Sie ist – bei aller gebotenen Nüchternheit – auch einem katholischen Leserpublikum zu empfehlen. Nicht jeden einzelnen Artikel wird man dort unterschreiben können, aber die Zeitung als ganze hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr positiv entwickelt.
Inhaltlich bietet die Abhandlung eine Orientierungshilfe in verworrener Zeit. Wie eingangs gesagt: „Modern“ heißt eigentlich nichts. Die Berufung auf „Modernität“ ist normalerweise ein suggestives Mittel zur Durchsetzung politischer Partikularinteressen. Ideologisch fußt diese Suggestion auf der Gnosis, deren politisch wirkmächtigste Spielart der Marxismus ist. Dieser kostete im Sowjetimperium und in Maos China etwa hundert Millionen Menschen das Leben. Im Westen brachte er mit der 1968er Bewegung die Auflösung von Familie und Nation, sexuelle Verwahrlosung, epidemischen Suizid und den Mord an Millionen ungeborener Kinder. Von daher wird man sagen müssen, daß angesichts dieser satanischen Monstrositäten Weißmanns Analyse im Tonfall fast zu akademisch-distanziert geraten ist.
Aus katholischer Sicht wird man Weißmanns Analyse als weiteren Beleg heranziehen können, daß das kurz zuvor zu Ende gegangene Konzil keine guten Früchte gebracht haben kann. Der völlig surreale Optimismus des Konzils, der mit der Eröffnungsansprache von Papst Johannes XXIII. ausgerufen worden war, führte zu einer krassen Fehleinschätzung der Wirklichkeit. Mit einer neuen „Welt“-Euphorie wurden auch die Dämme eingerissen, die die christliche Zivilisation vor dem Wahnsinn schützen sollten.
Ein österreichischer Kirchenmann meinte einmal sinngemäß, daß man das Konzil positiv sehen solle, weil es die Kirche auf die Revolution von 1968 vorbereitet hätte. Ohne Konzil, so seine Schlußfolgerung, hätten die Ereignisse von 1968 die Kirche viel schlimmer getroffen.
Das ist natürlich ein grotesker Unsinn: Die Revolution innerhalb der Kirche hatte die schon länger außerhalb der Kirche in den Startlöchern scharrende Revolution begünstigt und beschleunigt. Die Revolution von 1968 steht damit in einem Zusammenhang mit der Verwerfung der Botschaft von Fatima durch die Hierarchie.
Papst Franziskus treibt derzeit diese Revolution ins Extreme.
Post scriptum: Protestantismus und Revolution
Karlheinz Weißmann ist nicht nur Historiker sondern auch protestantischer Theologe und Religionslehrer. Er ist Autor eines zustimmenden Buches zu Martin Luther als „Prophet der Deutschen“.
Als solcher weiß er über die revolutionäre Kraft der willkürlichen und gewaltsamen Lutherschen Weichenstellungen Bescheid. Als solcher ist er aber auch zwangsläufig Teil des revolutionären Prozesses selbst.
Es ist daher in letzter Analyse nicht möglich, als Protestant eine echt konservative christliche Position zu begründen und zu verteidigen.
Daß Exponenten der revolutionären Vorgänge der 60er und 70er Jahre, bis hin zu RAF-Terroristen, aus protestantischen Pfarrhäusern stammten, illustriert diese, zwar nicht deterministische, aber aufgrund der Lutherschen Revolutionsgesinnung durchaus in einer gewissen Logik liegende, untergründige Verbindung der verschiedenen revolutionären Strömungen.
Karlheinz Weißmann sollte dieses Thema noch tiefer durchdenken und die angemessenen Schlußfolgerungen ziehen.
Karlheinz Weißmann, Kulturbruch ´68 – Die linke Revolte und ihre Folgen, Junge Freiheit Verlag, Berlin 2017, 252 S.
*Wolfram Schrems, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, reiche Erfahrung im interkonfessionellen Gespräch
Bild: JF/MiL/Marxismuss (Screenshots)